Gerade bekam ich einen ganz fürchterlichen Schreck. Meine Hände zittern so sehr, dass ich kaum schreiben kann. Während ich Dein Gesicht in allen Einzelheiten studierte, polterte es laut an der Haustür. Jemand versuchte einzudringen. Ich sprang auf, mein Herz schlug bis zum Hals, ich warf die Teetasse um. Laut klirrend fiel sie zu Boden. Ich erstarrte, vom Grauen gepackt. Hatten sie etwas gehört? Würden sie merken, dass jemand im Haus war? Ich kauerte mich dicht an die Wand und kroch langsam zur Tür. Draußen waren Stimmen, Schlurfen zu hören. Der Türgriff bewegte sich wieder. Mit angehaltenem Atem drückte ich mein Ohr an die Tür. Männerstimmen erklangen laut und deutlich an diesem kalten Morgen.

»Dieses hier wird bald abgerissen, die Arbeiten beginnen höchstwahrscheinlich nächste Woche. Die Besitzer sind ausgezogen, es ist leer wie eine alte Muschel.«

Ein Stoß gegen die Tür ließ das Holzpaneel an meiner Wange beben. Ich wich schnell zurück.

»Die alte Tür ist noch mächtig robust«, sagte eine andere Männerstimme.

»Du weißt ja, wie schnell diese Häuser einfallen«, höhnte die erste Stimme. »Es braucht nicht lange, um es abzureißen, ja die ganze Straße kahl zu schlagen.«

»Stimmt. Diese kleine Straße und die andere dort um die Ecke sind in null Komma nichts weg.«

Wer konnten diese Männer sein?, fragte ich mich, als sie schließlich abzogen. Durch eine Ritze im Fensterladen lugte ich hinaus. Zwei junge Kerle in Amtskleidung. Wahrscheinlich gehörten sie zum Trupp des Präfekten, zuständig für Erneuerung und Verschönerung. Groll überkam mich. Diese Leute waren herzlos wie Dämonen. Sie hatten kein Herz, keine Gefühle. Machte es ihnen denn gar nichts aus, das Leben der Menschen in Stücke zu reißen, indem sie ihre Häuser abrissen? Nein, es machte ihnen nichts aus.

Der Präfekt und der Kaiser träumten von einer modernen Stadt. Einer sehr grandiosen Stadt. Und wir, die Einwohner von Paris, waren nur die Bauern auf diesem gigantischen Schachbrett. Entschuldigen Sie, Madame, aber Ihr Haus steht auf dem zukünftigen Boulevard Saint-Germain. Sie müssen ausziehen. Wie haben meine Nachbarn das verkraftet?, überlegte ich, während ich vorsichtig die Scherben der Tasse aufsammelte. War es für sie einfacher? Waren sie in Tränen ausgebrochen, als sie ihr Haus verließen, als sie sich umdrehten und einen letzten Blick darauf warfen? Diese nette Familie von gegenüber, die Barous – wo waren sie jetzt? Madame Barou hat sich wie ich zu Tode gegrämt, weil sie die Rue Childebert verlassen musste. Auch sie war als junge Braut hierhergekommen, auch sie hatte ihre Kinder in ihrem Haus geboren. Wo waren sie nun alle? Wohin sind sie gezogen? Monsieur Zamaretti hatte sich von mir verabschiedet, kurz bevor die Anordnung erlassen wurde, die Straße zu räumen. Er hatte bei einem befreundeten Buchhändler in der Rue du Four Saint-Germain eine Stelle gefunden. Er hatte mir die Hand geküsst – ganz der Italiener! –, hatte sich verbeugt, einen Kratzfuß gemacht und versprochen, mich bei Violette in Tours zu besuchen. Natürlich wussten wir beide, dass wir uns nie mehr wiedersehen würden. Aber ich werde Octave Zamaretti nie vergessen. Nachdem Du von mir gegangen warst, hatten er und Alexandrine mir das Leben gerettet. Mir das Leben gerettet? Ich weiß, dass Du darüber bass erstaunt bist. Darauf werde ich später zu sprechen kommen, Armand. Ich muss Dir erst noch einiges über Octave Zamaretti und Alexandrine Walcker erzählen. Hab Geduld mit mir.

Kurz nachdem die Enteignungsverfügung eingegangen war, löste sich Monsieur Jubert in Luft auf. Seine Druckerei sah ganz verlassen und vernachlässigt aus. Ich fragte mich, wohin er gegangen und was aus dem Dutzend Arbeitern geworden war, die Tag für Tag hier ihren Lebensunterhalt verdient hatten. Mademoiselle Vazembert und ihre Krinoline waren mir egal, sie hatte sicherlich einen Beschützer gefunden; Damen mit so einer Figur fällt das leicht. Aber Madame Godfin mit ihrem gedrungenen Körper und ihrem einladenden Lächeln, wenn ich bei ihr meinen Tee kaufte, ihr blitzsauberer Laden, in dem es nach Kräutern, Gewürzen und Vanille roch, fehlte mir bereits.

Schwer vorzustellen, dass meine kleine Welt aus vertrauten Personen, die ich täglich in unserer Straße traf, dem Untergang geweiht war: Alexandrine und ihre hinreißenden Schaufensterdekorationen, Monsieur Bougrelle mit seiner Pfeife, Monsieur Helder, der seine Gäste begrüßte, Monsieur Monthier und der betörende Schokoladenduft, der aus seinem Geschäft strömte, Monsieur Horaces kehliges Lachen und seine ständigen Einladungen, die neueste Lieferung zu verkosten. Unsere bunte Straße mit den niedrigen Häusern, die sich rund um die Kirche kauerten, sollte vom Erdboden verschwinden.

Ich wusste genau, wie der neue Boulevard aussehen würde. Ich hatte genug von dem gesehen, was der Präfekt und der Kaiser unserer Stadt angetan hatten. Unser beschauliches Viertel sollte eingeebnet werden, um diese monströse, laute Verkehrsarterie genau hier an der Kirche weiterzuführen. In dieser enormen Breite. Mit Verkehr, Lärm, Omnibussen, Gedränge.

In hundert Jahren, wenn die Menschen in einer modernen Welt leben werden, die man sich heute noch nicht einmal vorstellen kann – nicht einmal die verwegensten Schriftsteller und Maler, nicht mal Du, Liebster, der Du Dir so gern die Zukunft ausmaltest –, werden die kleinen, ruhigen Straßen, die wie Kreuzgänge um die Kirche herum liegen, für immer begraben und vergessen sein.

Keiner wird sich mehr an die Rue Childebert erinnern, an die Rue d’Erfurth, die Rue Sainte-Marthe. Keiner wird sich an das Paris erinnern, das Du und ich so liebten.