Vergangene Nacht schlief ich nicht gut. Die Albträume plagten mich wieder. Der Eindringling ging langsam und ohne jede Eile die Treppen hinauf, er wusste ganz genau, dass ich oben war und schlief. Das Knarren der Stufen – wie gut ich es höre und wie sehr es mir Angst macht! Ich weiß, dass es keinen Frieden bringt, die Vergangenheit heraufzubeschwören. Es führt zu Unruhe und Reue. Doch die Vergangenheit ist alles, was ich noch habe. Ich bin jetzt allein, Liebster. Violette und mein aufgeblasener Schwiegersohn glauben, dass ich auf dem Weg zu ihnen sei. Meine Enkelkinder erwarten ihre »Grand-mère«. Germaine fragt sich, wo »Madame« bleibt. Meine Möbel kamen letzte Woche dort an, meine Koffer und Truhen vor ein paar Tagen. Germaine hat bestimmt schon meine Kleider ausgepackt. Mein Zimmer in ihrem großen Haus mit Blick auf die Loire ist gewiss schon hergerichtet. Blumen auf dem Nachttisch. Frische Bettwäsche. Wenn sie anfangen, sich Sorgen zu machen, werden sie mir sicherlich schreiben. Mir ist das alles ziemlich egal.

Vor fast fünfzehn Jahren begann der Präfekt mit seinen massiven Abrissarbeiten, und wir erfuhren, dass auch das Heim meines Bruders Émile dem Bau des neuen Boulevard de Sébastopol zum Opfer fallen sollte. Émile ging dies nicht sonderlich nahe, er bekam eine beachtliche Entschädigungssumme und beschloss zusammen mit seiner Frau Edith und den Kindern in den Ort westlich der Stadt zu ziehen, wo Ediths Familie lebt. Émile ist nicht wie Du, er hing nicht an seinem Haus. Für Dich aber waren Häuser wie Menschen, nicht wahr? Sie haben eine Seele, ein Herz, sie leben und atmen. Häuser haben ein Gedächtnis. Nun ist Émile ein älterer Herr mit Gicht und einem kahlen Kopf, ich glaube, Du würdest ihn nicht wiedererkennen. Ich finde, er sieht meiner Mutter ähnlich – zum Glück aber hat er nichts von ihrer Eitelkeit und Oberflächlichkeit. Nur die lange Nase und das Kinn mit dem Grübchen, das ich nicht von ihr geerbt habe.

Nach dem Tod unserer Mutter, gleich nach dem Staatsstreich, und nach dem Abriss von Émiles Haus sahen wir ihn leider nicht mehr so oft. Wir hatten ihn noch nicht einmal in seinem neuen Haus in Vaucresson besucht. Doch Du mochtest meinen Bruder »Mimile«, wie wir ihn nannten, von Herzen. Er war der kleine Bruder, den Du nie hattest.

An einem unheilvollen Nachmittag wollten wir beide zur Baustelle spazieren, um die Fortschritte zu verfolgen. Émile war mit seiner Familie schon umgezogen. Du gingst bereits sehr langsam, Armand, die Krankheit forderte ihren Tribut. Du hattest nur noch zwei Jahre zu leben, was wir damals natürlich nicht wussten. Noch immer konntest Du, untergehakt, gemächlich an meiner Seite schlendern.

Auf das, was uns erwartete, waren wir nicht vorbereitet. Unser friedlicher Faubourg war immer so anders gewesen als das, was wir nun sahen. Das war nicht mehr Paris, das war Krieg.

Wir wussten ganz einfach nicht mehr, wo wir uns befanden. Wir waren wie immer die Rue Saint-André-des-Arts Richtung Rue Poupée hinaufgegangen – aber diese war verschwunden.

Stattdessen klaffte ein riesiges Loch zwischen zertrümmerten Häusern. Benommen sahen wir uns um. Wo in aller Welt war Émiles Haus geblieben? Émiles Viertel? Das Restaurant in der Rue des Deux Portes Saint-André, wo wir seine Hochzeit gefeiert hatten? Die renovierte Bäckerei in der Rue Percée? Und die schöne Boutique, wo ich diese modischen, bestickten Handschuhe für Maman Odette gekauft hatte? Nichts war übrig. Sprachlos schleppten wir uns weiter.

Wir entdeckten, dass die Rue de la Harpe genauso wie die Rue Serpente in ihrer Länge stark zurückgestutzt worden waren. Um uns herum schienen die teilweise abgerissenen Gebäude gefährlich zu schwanken, man sah noch Tapetenfetzen, verkohlte, verrußte Teile von Kaminen, Türen hingen sinnlos in Angeln, intakte Treppen wanden sich ins Nichts. Es war wie eine Halluzination, mir schwindelt noch immer, wenn ich daran zurückdenke.

Behutsam bahnten wir uns einen Weg zu einer geschützteren Stelle und blickten beklommen in eine Grube hinein. Horden von Arbeitern mit Spitzhacken, Schaufeln und Hämmern schwärmten wie eine riesige Armee durch Berge von Schutt und wabernde Staubwolken, die uns in den Augen brannten. Breite Kolonnen von Pferden zogen Bohlen auf Karren. Hier und da brannten lodernde Feuer mit unvorstellbarem Furor, während Männer immer mehr Holz und immer mehr Schutt in die gierigen Flammen warfen.

Der Lärm war entsetzlich. Weißt Du, ich kann noch immer das laute Knistern des Feuers hören, die Schreie und Rufe der Arbeiter, das unerträgliche Hämmern der Äxte, die sich in den Stein gruben, die donnernden Schläge, die die Erde unter unseren Füßen erbeben ließen. Schnell waren unsere Kleider von einer dicken Rußschicht bedeckt, unsere Schuhe mit Kalk verschmutzt, der Saum meines Kleides war durchnässt. Unsere Gesichter waren grau vom Schotterstaub, unsere Münder und Zungen trocken. Wir husteten und keuchten, Tränen liefen uns über die Wangen. Ich spürte, wie Dein Arm an meinem Arm zitterte. Doch wir waren nicht die einzigen Zuschauer. Auch andere waren gekommen, um sich die Zerstörung anzusehen. Ihre schmutzigen Gesichter waren voller Angst, ihre Augen, die von Asche und Staub brannten, waren rot und tränten.

Wir hatten davon in der Zeitung gelesen. Wie alle Pariser wussten wir, dass Teile unserer Stadt erneuert werden sollten, aber so ein Inferno hätten wir uns niemals vorstellen können. Gelähmt von dem, was ich da sah, grübelte ich darüber nach, dass hier einmal Menschen gelebt und geatmet hatten, dass dies ihr Zuhause gewesen war. Dort drüben an der einstürzenden Wand sah man die Überreste eines offenen Kamins und die schwachen Spuren eines Gemäldes, das dort gehangen hatte. Im Winter hatte sich eine Familie vor dem Kamin versammelt. Und diese heitere Tapete hatte einmal ein Schlafzimmer ausgekleidet, hier hatte jemand geschlafen und geträumt. Und was war davon übrig geblieben? Eine Brache.

Das Leben in Paris unter der Herrschaft unseres Kaisers und unseres Präfekten war wie das Leben in einer belagerten Stadt, die täglich von Schmutz, Schutt, Asche und Schlamm heimgesucht wurde. Unsere Kleider, Schuhe und Hüte waren immer staubig. Ständig brannten uns die Augen, unser Haar war andauernd mit einer Schicht feinen grauen Puders bedeckt. Was für eine Ironie, dachte ich, als ich Deinen Arm streichelte, dass direkt neben diesem riesigen Trümmerfeld andere Pariser seelenruhig weiterlebten. Und das war erst der Anfang – was noch vor uns liegen sollte, ahnten wir mitnichten. Seit drei, vier Jahren mussten wir nun mit den Verschönerungsaktionen leben. Wir hatten keinen Schimmer, dass der Präfekt keinerlei Mitleid zeigen würde: dass er unsere Stadt noch weitere fünfzehn Jahre mit der unmenschlichen Grausamkeit von Enteignung und Zerstörung schlagen würde.

Wir beschlossen, schnell diese Baustelle zu verlassen. Du warst leichenblass und bekamst kaum Luft. Wie kämen wir zur Rue Childebert zurück? Wir hatten die Orientierung verloren. Wir waren auf unbekanntem Terrain. Egal, in welche Richtung wir in unserer Panik gingen, wir trafen auf ein Pandämonium – Wirbelstürme aus Asche, donnernde Explosionen, Lawinen von Ziegelsteinen. Der Morast und der feuchte Schutt knirschten unter unseren Schritten, während wir verzweifelt versuchten, von hier wegzukommen. »Aus dem Weg, Himmelherrgott!«, brüllte eine wütende Stimme, als nur wenige Meter entfernt eine ganze Fassade mit einem ohrenbetäubenden Schlag und dem schrillen Bersten von Glas einstürzte.

Wir brauchten Stunden nach Hause. An jenem Abend sprachst Du sehr lange nicht. Dein Abendessen rührtest Du kaum an, Deine Hände zitterten. Ich sah ein, dass es ein schrecklicher Fehler gewesen war, Dich mitzunehmen und Dir zuzumuten, diese Zerstörung mit anzusehen. Ich versuchte, Dich zu trösten. Ich wiederholte genau die Worte, die Du selbst ausgesprochen hattest, als der Präfekt ernannt worden war: »Die Kirche werden sie niemals anrühren, auch die umliegenden Häuser nicht, wir sind sicher, unser Haus ist sicher.«

Du wolltest nichts hören. Deine Augen waren glasig, die Pupillen weit, ich wusste, dass Du die fallenden Fassaden vor Dir sahst, die Meute von Arbeitern, die die Gebäude zerstörten, die lodernden Feuer in der Grube. Ich glaube, in jenem Moment wurden die ersten Anzeichen Deiner Krankheit überdeutlich. Ich hatte sie zuvor nicht beachtet, aber nun waren sie offensichtlich. Dein Verstand geriet durcheinander. Du warst erregt, verwirrt, verloren. Von da an weigertest Du Dich, das Haus zu verlassen, selbst für einen kurzen Spaziergang im Jardin du Luxembourg. Du bliebst aufrecht im Salon gegenüber der Tür sitzen. Stundenlang konntest Du so dasitzen, Du bemerktest niemanden, mich nicht, Germaine nicht, keinen, der Dich ansprach. Du seist der Hausherr, brummtest Du. Ja, ganz richtig, das warst Du, der Hausherr. Niemand würde sich an Deinem Haus vergreifen. Niemand.

Nach Deinem Tod ging der Abriss unter der Leitung des gnadenlosen Präfekten und seiner zerstörungswütigen Mannschaft in anderen Teilen der Stadt weiter. Ich war zu sehr damit beschäftigt zu lernen, ohne Dich weiterzuleben.

Doch vor zwei Jahren, lange bevor der Brief eintraf, geschah etwas. Und da begriff ich es. Ja, ich wusste es.

Es passierte, als ich mit einer Tüte Kamillentee aus Madame Godfins Laden trat. Mir fiel ein Herr auf, der an der Ecke vor dem Brunnen stand. Umständlich stellte er eine Kamera auf, ein ehrerbietiger Gehilfe stand neben ihm. Ich erinnere mich, dass es noch früh am Tag und es auf der Straße noch ziemlich ruhig war. Der Mann war untersetzt, mit graumeliertem Haar und einem Bart. Ich hatte noch nicht oft eine Kamera gesehen, nur beim Fotografen in der Rue Taranne, der unsere Porträts aufnahm.

Ich ging langsam auf ihn zu und sah ihm bei der Arbeit zu. Alles wirkte äußerst kompliziert. Zuerst verstand ich nicht, wen oder was er fotografieren wollte, denn außer mir war niemand zu sehen. Sein Apparat war auf die Rue des Ciseaux gerichtet. Während er herumhantierte, fragte ich unauffällig den jungen Gehilfen, was sie hier vorhätten.

»Monsieur Marville ist der offizielle Fotograf des Präfekten«, verkündete der junge Mann und schwellte stolz die Brust.

»Verstehe …«, sagte ich. »Und wen will Monsieur Marville hier fotografieren?«

Der junge Bursche sah auf mich herab, als hätte ich etwas unglaublich Dummes von mir gegeben. Er hatte ein einfältiges Gesicht und schlechte Zähne für sein Alter.

»Nun, Madame, er fotografiert keine Leute, er fotografiert Straßen.« Wieder warf er sich in die Brust. »Auf Befehl des Präfekten und mit meiner Hilfe nimmt Monsieur Marville die Straßen von Paris auf, die für die Erneuerung abgerissen werden sollen.«