Rue Childebert, den 28. September 1834

Meine allerliebste Rose,

wie leer das Haus ist ohne Dich, Armand und die Kleine! Ach je, plötzlich wirkt es so groß, zwischen diesen Mauern hallt nun meine Einsamkeit wider. Noch zwei lange Wochen, bis Ihr alle wieder von Eurer Reise ins Burgund zurückkommt. Wie soll ich das nur aushalten? Ich kann es nicht ertragen, allein im Salon zu sitzen. Mein Strickzeug, die Zeitung, meine Bibel, alles fällt mir aus der Hand. In diesen düsteren Stunden wird mir nun klar, wie viel Du mir bedeutest, meine süße Rose. Ja, Du bist die Tochter, die ich mir immer gewünscht habe. Und ich spüre, dass ich Dir näher bin als Deine eigene Mutter, Gott segne sie. Wie glücklich müssen wir uns schätzen, dass wir uns durch meinen Sohn, Deinen Mann, gefunden haben. Du bist das Licht unseres Lebens, Rose. Bevor Du hier einzogst, lauerte eine gewisse düstere Stimmung in diesen vier Wänden. Mit Dir aber zogen Lachen und Fröhlichkeit in unser Haus ein.

Ich glaube, Du hast von alldem gar keine Ahnung. Du bist ein so selbstloses, reines Geschöpf, Rose. Doch unter Deiner Herzlichkeit hast Du große Kraft. Ich frage mich manchmal, wie Du erst in meinem Alter sein wirst. Ich kann mir Dich einfach nicht als eine alte Dame vorstellen, denn Du bist die Jugend, wie sie leibt und lebt! Der anmutige Schwung Deiner Schritte, Dein golden wallendes Haar, Dein Lächeln, Deine Augen. O ja, Rose, Deine Augen. Sie werden nie trübe werden. Auch wenn Du so alt und grau bist wie ich jetzt, werden Deine himmelblauen Augen weiterhin leuchten.

Warum bist Du erst so spät in mein Leben getreten? Ich weiß, dass ich nicht mehr viele Jahre zu leben habe, der Arzt hat mich wegen meines Herzens gewarnt, man kann an meinem Zustand nicht viel ändern. Ich mache kurze Spaziergänge, aber ohne Dich sind sie nur halb so erquicklich. (Madame Collévillé begleitet mich manchmal, aber sie geht schrecklich langsam und sie riecht säuerlich und unangenehm …)

Gestern wurden wir in der Rue de l’Échaudé Zeuginnen eines Kampfes. Es war herrlich dramatisch! Ein Bursche hatte sich zweifellos zu viel von der Grünen Fee zu Gemüte geführt und belästigte eine vornehm gekleidete Dame. Ein anderer Mann forderte ihn auf, dies zu unterlassen, und stieß ihn von der Dame weg. Daraufhin stürzte sich der Trunkenbold auf ihn, man hörte einen schauderhaften Schlag, einen Schrei, es floss Blut, und der arme Mann, der die Dame retten wollte, hatte ein gebrochenes Nasenbein. Doch da hatte sich schon ein weiterer Mann in die Schlägerei eingemischt, und im Nu war die ganze Straße voller prügelnder, schwitzender Männer. Die Dame stand da, umklammerte ihren Sonnenschirm und sah einfach nur niedlich und dümmlich aus. (Ach, ihre Garderobe hätte Dir gefallen: eines dieser körperbetonten Kleider mit Wespentaille und glockigem Saum – eine blau gepunktete Augenweide – und ein ziemlich flotter Hut mit einer Straußenfeder, die genauso zitterte wie sie selbst.)

Komm bald wieder nach Hause, liebste Rose, und bring mir auch meine Lieben wohlbehalten zurück.

Deine Dich liebende Schwiegermutter

Odette Bazelet