Wir machten uns auf zu einer Art Expedition, Gilbert und ich. Er packte mich warm ein, als würden wir zum Nordpol fahren. Ich trug einen fremden schmutzigen grünen Mantel, der so nach Anis und Wermut stank, dass ich fast vermutete, man hatte ihn mit Absinth getränkt. Dazu eine dicke, dreckverkrustete Pelzmütze, die mich jedoch wärmte. Sicherlich hatte sie früher einer Freundin der Baronne de Vresse oder so jemandem gehört. Als wir vors Haus traten, schlug mir die Kälte entgegen und umfing mich mit ihrer eisigen Umarmung. Ich stöhnte überrascht auf. Ich konnte nichts sehen, die Straße war zu dunkel. Ich musste an diese pechschwarzen Nächte denken in der Zeit, bevor die Straßen beleuchtet waren und als der Heimweg, selbst in einem sicheren Teil der Stadt, noch ein gefährliches Unterfangen gewesen war. Gilbert hob seine Laterne und schob das Türchen auf, so dass das abgeblendete Licht alles um uns herum matt beschien. Unser Atem stieg in dichten weißen Wölkchen auf. Ich wappnete mich, weil ich damit rechnete, einen Krater zu sehen wie damals, als der gierige Boulevard Émiles Haus verschluckt hatte. Ich kniff die Augen zusammen, um im Halbdunkel besser zu sehen.

Die Häuserreihe gegenüber war weg, dem Erdboden gleichgemacht, und, glaub mir, es war ein lähmender Anblick. Stattdessen lagen dort Berge von Schutt, der noch nicht abtransportiert worden war. Madame Godfins Laden war ein Holzstoß. Von Madame Barous Haus stand noch eine wacklige Wand. Die Druckerei war vollkommen verschwunden. Monsieur Monthiers Schokoladengeschäft bestand nur noch aus einem Stapel verkohlten Holzes. Chez Paulette hatte sich in einen Steinhaufen verwandelt. Auf unserer Straßenseite standen die Häuser noch wacker, sie wirkten aber auf einmal so hinfällig, dass mir der Schreck in die Glieder fuhr. Die meisten Fenster waren zerbrochen, zumindest die, deren Fensterläden nicht geschlossen waren. Die Fassaden waren mit Enteignungsverfügungen und -anordnungen zugekleistert. Unrat und Papierfetzen türmten sich auf dem einst sauberen Straßenpflaster. Es war herzzerreißend, Liebster.

Langsam gingen wir die verlassene, gespenstisch ruhige Straße hinunter. Die kalte Luft schien immer dicker zu werden. Meine Sohlen rutschten auf dem glatten Pflaster, aber Gilbert hielt mich trotz seines Hinkebeins ganz fest. Wieder fiel mir auf, wie groß er war. Ganz unten an der Straße schrie ich vor Schreck leise auf. Die Rue d’Erfurth war komplett vom Erdboden verschwunden, bis ganz vor zur Rue des Ciseaux. Nichts mehr war übrig außer Schutt und Müll. All die vertrauten Läden und Geschäfte waren weg, auch der Brunnen und die Bank, auf der ich immer mit Maman Odette gesessen hatte. Mir drehte sich mit einem Mal der Kopf, als hätte ich mich verlaufen. Ich hatte die Orientierung verloren. Gilbert erkundigte sich freundlich, ob mit mir alles in Ordnung sei. Ich nickte hilflos. Weißt Du, manchmal holt mich mein Alter ein, und dann fühle ich mich so alt, wie ich bin. Und glaub mir, an diesem Abend lasteten meine sechzig Jahre schwer auf mir.

Ich sah nun, wo der riesige Bogen des Boulevards Saint-Germain weitergezogen werden sollte: genau hier neben der Kirche. Unsere dunkle Häuserreihe, wo in keinem Fenster Licht brannte und sich die einsturzgefährdeten Dächer deutlich vor dem fahlen, sternenlosen Winterhimmel abzeichneten, war die letzte, die noch stand. Es kam mir vor, als wäre ein Riese hindurchgetrampelt und hätte wie ein wütendes Kind mit seiner großen, ungeschickten Hand die kleinen Straßen hinweggefegt, die ich seit meiner Kindheit kannte.

Und dennoch lebten abseits der zerstörten Viertel Menschen in Häusern, die noch standen und nicht gefährdet waren. Menschen aßen, tranken, schliefen, sie gingen ihrem Alltag nach, sie lebten ein ganz normales Leben, feierten Geburtstage, Hochzeiten, Taufen. Die Abbrucharbeiten, die hier vonstatten gingen, waren wohl eine Belästigung für sie – der Lärm, der Staub, der Dreck –, aber zumindest waren ihre Häuser nicht bedroht. Sie würden nie erfahren, was es heißt, ein trautes Heim zu verlieren. Trauer übermannte mich, meine Augen wurden feucht. Auf einmal überkam mich der Hass auf den Präfekten wieder mit einer solchen Macht und Wut, dass ich Hals über Kopf in die dünne Schneeschicht gefallen wäre, wäre da nicht Gilberts kräftige Hand gewesen.

Als wir wieder nach Hause kamen, war ich erschöpft. Gilbert muss es bemerkt haben, denn er blieb weit in die Nacht hinein bei mir. Er kannte einen Herrn aus der Rue des Canettes, der ihm von Zeit zu Zeit Geld und Essen gab; heute Abend hatte er Suppe spendiert. Wir schlürften sie mit Genuss, die heiße Flüssigkeit machte uns satt. Ich musste an Alexandrine denken, die den weiten Weg in diesen abgesperrten, zum Abriss freigegebenen Teil des Viertels auf sich genommen hatte, um nach mir zu sehen. Ich war ihr von Herzen verbunden. Es war riskant, unter den Holzschranken voller bedrohlicher Plakate – »Kein Durchgang« oder »Gefahr« – hindurchzukriechen und durch die verlassenen Straßen zu schleichen. Was sie wohl erwartet hatte? Dass sie mich in meinem leeren Salon mit einer schönen Tasse Tee vorfindet? Oder hatte sie erraten, dass ich ihren Keller als Versteck nutzte? Irgendetwas musste sie ahnen, sonst wäre sie nicht hierher zurückgekommen. Gilbert hatte recht. Sie war ein kluges Mädchen. Wie sehr sie mir fehlte!

Vor ein paar Wochen, als die Leute aus der ganze Straße im Hinblick auf den bevorstehenden Abriss ihre Sachen packten, verbrachten wir beide einen Vormittag zusammen im Jardin du Luxembourg. Sie hatte eine Stelle in einem großen Blumengeschäft am Palais Royal gefunden. Sonderlich begeistert war sie darüber zwar nicht, denn wie sie mir sagte, muss der Besitzer so herrisch sein wie sie selbst, und es kommt immer wieder zum Streit, doch im Moment sei es das Beste für sie, meinte sie, und sie bekommt ein gutes Gehalt. Dort, in der Nähe des Louvre, fand sie auch eine Unterkunft – große, helle Räumlichkeiten. Natürlich würde sie die Rue Childebert vermissen, sagte sie, aber sie war eine moderne, fortschrittliche junge Frau und fand es richtig, was der Präfekt für unsere Stadt tat. Ihr gefiel auch der Bois de Boulogne in der Nähe des Château de la Muette und der neue künstliche See. (Ich finde diese Anlage ordinär. Du würdest mir zustimmen, wenn Du sie sehen könntest. Wie könnte dieser hügelige Park mit seinen brandneu gepflanzten Bäumen jemals eine Konkurrenz für unseren Jardin du Luxembourg mit der altehrwürdigen Pracht der Medici sein?)

Vor acht Jahren hatte sich Alexandrine nicht einmal an der Eingemeindung der Vororte gestört – unser ehemaliges 11. Arrondissement ist nun das 6. Dir hätte das auch missgefallen. Paris ist ein Moloch geworden, überallhin streckt es seine Tentakel aus! Es gibt jetzt zwanzig Arrondissements, und über Nacht bekam Paris vierhunderttausend neue Einwohner. Unsere Stadt hat Passy, Auteuil, Batignolles-Monceau, Vaugirard, Grenelle, Montmartre verschlungen, und Orte, wo ich noch nie gewesen war, gehören nun zu Paris – Belleville, La Villette, Bercy, Charonne. Ich finde das erschreckend und verwirrend.

Trotz unserer Meinungsverschiedenheiten war es immer interessant, sich mit Alexandrine zu unterhalten. Sicher, sie war halsstarrig und manchmal verließ sie mich wutschnaubend, aber sie kam immer wieder zurück und bat mich um Entschuldigung. Ich habe sie übermäßig lieb gewonnen. Ja, sie war mir wie eine zweite Tochter, eine warmherzige, gescheite, kultivierte Tochter. Findest Du mich ungerecht? Vermutlich schon. Aber Du musst verstehen, dass sich Violette mit der Zeit weit von mir entfernt hat, sowohl geografisch als auch gefühlsmäßig. Dass Alexandrine im selben Jahr wie Baptiste geboren ist, 1839, ist ein weiterer Grund, warum sie mir so teuer ist. Ich habe ihr von unserem Sohn erzählt, aber nur ein Mal. Es war zu schmerzlich, diese Worte auszusprechen.

Manchmal wundert es mich, dass sie keinen Mann hat. Ist es wegen ihres hitzigen Temperaments? Dass sie immer genau das sagt, was sie denkt, und es für sie nie in Frage kommen würde, sich einem Mann unterzuordnen? Vielleicht. Sie vertraute mir an, dass eine Familie und Kinder ihr nicht fehlten. Sie gab sogar zu, dass es das Letzte für sie wäre, sich um einen Ehemann zu kümmern. Mir ist eine solche Haltung unglaublich fremd, ich finde sie fast schockierend. Aber Alexandrine ist ja auch nicht wie die anderen Menschen, die ich kenne. Über ihre Kindheit in Montrouge hat sie nie viel erzählt. Ihr Vater trank und war grob zu ihr. Ihre Mutter starb, als sie noch klein war. Und so bin ich also in gewisser Weise ihre »Maman«.