Meine liebe Madame Rose,

das ist der erste Brief, den ich Ihnen schreibe, aber ich weiß, dass es nicht der letzte sein wird. Germaine kam herunter und sagte, dass Sie heute Nachmittag nicht in den Laden kommen können, weil Sie sich schlimm erkältet haben. Das tut mir so leid, ich werde Sie vermissen. Werden Sie schnell wieder gesund!

Ich ergreife nun die Feder, während Blaise sich um die ersten Bestellungen kümmert, und werde Ihnen den Brief bringen, sobald ich ihn zu Ende geschrieben habe. Es ist heute Morgen kühl hier unten, und es ist mir wirklich eine Erleichterung, Sie oben wohlig und warm zugedeckt im Bett zu wissen, während Germaine und Mariette sich um Sie kümmern. Ich bin so an Ihre Anwesenheit hier bei mir gewöhnt, dass ich den Anblick des leeren Stuhls in der Ecke, wo Sie immer mit Ihrer Stickerei sitzen, kaum ertrage. Alle Kunden werden nach Ihnen fragen, dessen können Sie sicher sein. Doch am besorgtesten wird unsere göttliche Baronne sein. Sie wird sich bei Blaise erkundigen, wo Sie sind, was los ist, und sie wird ihm eine kleine Aufmerksamkeit für Sie mitgeben, ein Buch oder eine dieser Pralinen, die Sie so mögen.

Ich genieße die Unterhaltungen mit Ihnen. Mit meinen Eltern sprach ich nie viel. Mein Vater zog seiner Tochter und auch seiner Frau den Schnaps vor, und meine Mutter war nicht gerade eine liebevolle Person. Ich bin als einsames Einzelkind aufgewachsen, und irgendwie sind Sie für mich wie eine Mutter. Ich hoffe, das stört Sie nicht. Sie haben ja schon eine Tochter, die wie Sie einen blumigen Namen trägt, dennoch kann ich mich der Vermutung nicht erwehren, dass Sie ihr nicht besonders nahe sind. Sie haben in meinem Leben einen neuen, wichtigen Platz eingenommen, Madame Rose, und wenn ich mir heute Ihren leeren Stuhl ansehe, spüre ich das ganz stark. Dennoch gibt es da noch eine andere Sache, über die ich mich mit Ihnen jetzt beraten will. Es ist vertrackt, und ich weiß nicht genau, wie ich es ansprechen soll. Ich werd’s aber versuchen.

Sie wissen, wie ich zu den Umbauarbeiten des Präfekten stehe. Ich betrachte sie als einen notwendigen Fortschritt für unsere Stadt und ich habe vollauf begriffen, dass Sie das ganz anders sehen. Aber ich muss mich von der Last dessen, was ich weiß, befreien. Sie sind der festen Überzeugung, dass unser Viertel nicht gefährdet sei, dass die Erneuerungen Ihr Haus wegen dessen Nähe zur Kirche nicht beträfen. Nun, da bin ich mir nicht so sicher. Ich sehe, was mit unserer Stadt geschieht, und ich freue mich über diese Veränderungen (da Sie erkältet sind, werden wir nicht schon wieder wegen des Präfekten streiten, also lassen wir dieses Thema hier und heute auf sich beruhen). Dennoch möchte ich Sie bitten, darüber nachzudenken, was passieren würde, wenn Sie die Nachricht bekämen, dass Ihr Haus abgerissen werden soll. (Ich weiß, dass Sie jetzt zusammenzucken und mich hassen werden. Aber ich mag Sie zu sehr, Madame Rose, als dass ich vor einer vorübergehenden Missstimmung zurückschrecken würde.)

Erinnern Sie sich, als Sie mir halfen, die weißen Lilien zur Place Furstenberg zu liefern, nachdem der Maler Eugène Delacroix in seinem Atelier gestorben war? (Es ist schon ein paar Jahre her.) Während wir die Blumen im Atelier arrangierten, hörte ich zufällig ein Gespräch zwischen zwei Männern mit. Ich erzählte Ihnen nichts davon, denn ich wollte Sie nicht verstören. Auch ich habe nicht geglaubt, dass Ihr Haus in Gefahr sein könnte. Doch ich sehe, wie schnell die Bauarbeiten voranschreiten, in einem irrsinnigen Tempo und alles wohlorganisiert und von langer Hand geplant, und jetzt wittere auch ich die Gefahr. Die Männer (der eine vornehm, gut situiert, mit gezwirbeltem Schnauzbart und in perfekt gebügeltem Anzug; der andere jünger und offensichtlich weniger wichtig) sprachen über den Präfekten und seine Mannschaft. Ich hörte nicht sehr aufmerksam zu, aber ich schnappte Folgendes auf: »Ich habe den Plan im Hôtel de Ville gesehen. Diese engen, dunklen Straßen um die Kirche herum, direkt hier um die Ecke, werden alle verschwinden. Zu feucht, zu eng. Wie gut, dass der alte Delacroix nicht mehr hier ist und das erleben muss.«

Als wir damals zusammen aus diesem Haus auf die Rue de l’Abbaye traten, dachte ich, es wird wohl noch eine Weile dauern, bis es so weit ist. Ich dachte auch, dass die Rue Childebert vielleicht doch nicht betroffen wäre, weil sie tatsächlich so nahe an der Kirche liegt. Aber nun ist mir klar, dass dem wohl nicht so ist. Oh, Madame Rose, ich habe Angst.

Ich schicke Blaise nun mit diesem Brief zu Ihnen und bitte Sie, ihn bis zum Ende zu lesen. Wir müssen überlegen, was zu tun ist, wenn das Allerschlimmste eintritt. Noch haben wir Zeit, wenn auch nicht mehr allzu viel.

Ich schicke Ihnen auch einen Strauß Ihrer Lieblingsrosen. Die rosafarbenen. Immer wenn ich sie in die Hand nehme und daran rieche, denke ich an Sie.

Mit herzlicher Zuneigung,

Alexandrine