Die Sicherheit, dass keine lebende Seele das, was ich hier unten zusammengekritzelt habe, je zu Gesicht bekommen wird, ist mir eine große Erleichterung. Ich fühle mich befreit. Mein Gewissen ist mir zwar eine Last, aber es scheint ein wenig leichter geworden zu sein. Bist Du bei mir, Armand? Kannst Du mich hören? Mir gefällt der Gedanke, dass Du hier neben mir sitzt. Ich hätte gern eine Kamera wie Monsieur Marville, dann hätte ich jedes Zimmer unseres Hauses fotografieren und unsterblich machen können.

Ich hätte mit unserem Schlafzimmer angefangen – dem Herz unseres Hauses. Als neulich die Umzugsleute kamen und unsere Möbel packten, um sie zu Violette zu bringen, verbrachte ich eine ganze Weile in unserem Schlafzimmer. Wenn Wände sprechen könnten, hätten sie wohl viele Geschichten zu erzählen … Sie wurden Zeugen von neuem Leben und Tod. Ich stand an der Stelle, wo das Bett war, gegenüber dem Fenster, und sagte mir: Hier wurdest Du geboren, hier bist Du gestorben. Hier starb Dein Vater und sein Vater wahrscheinlich auch. Hier brachte ich unsere Kinder zur Welt.

Nie werde ich die kanariengelbe Tapete vergessen, die bordeauxroten Samtvorhänge, die Vorhangstangen, die wie Pfeilspitzen ausliefen. Den Marmorkamin. Den ovalen Spiegel mit dem vergoldeten Rahmen. Den zierlichen Bonheur du Jour mit den Schubladen voller Briefe, Briefmarken und Federn. Den kleinen Tisch mit den Rosenholzintarsien, wo Du immer Deine Brille und Deine Handschuhe ablegtest und ich die Bücher stapelte, die ich bei Monsieur Zamaretti kaufte. Das breite Mahagonibett mit den Messingbeschlägen und Deine grauen Filzpantoffeln auf der linken Seite, wo Du schliefst. Ja, ich werde mich immer daran erinnern, wie die Sonne hereinschien, selbst an Wintermorgen strich sie mit einem siegessicheren goldenen Finger über die Wände und ließ das Gelb der Tapete in schimmerndem Gold leuchten.

Beim Gedanken an unser Zimmer spüre ich wieder den stechenden Geburtsschmerz. Es heißt, Frauen vergäßen ihn mit der Zeit. Nein, den Tag, als Violette geboren wurde, werde ich wohl nie vergessen. Vor meiner Hochzeit hatte meine Mutter nie mit mir über die Dinge des Lebens gesprochen. Aber worüber sprach sie überhaupt je mit mir? Sosehr ich auch nachdenke, ich kann mich an kein interessantes Gespräch, an keinen denkwürdigen Moment mit ihr entsinnen. Deine Mutter flüsterte mir vor der Niederkunft mit unserem ersten Kind ein paar Worte zu. Sie sagte, ich müsse tapfer sein. Das jagte mir einen Schauder über den Rücken. Der Geburtshelfer war ein gelassener Mann, der nicht viel sprach, und wenn die Hebamme zu mir kam, war sie immer in Eile, denn im Viertel brauchte noch eine andere Frau ihre Hilfe. Meine Schwangerschaft verlief problemlos, ohne häufige Übelkeit und andere Komplikationen. Ich war damals zweiundzwanzig Jahre alt, und ich war gesund.

Sengende Julihitze. Es hatte wochenlang nicht geregnet. Die Wehen hatten bereits eingesetzt, und der Schmerz in meinem Rücken wurde immer schneidender. Ich fragte mich auf einmal, ob das, was vor mir lag, nicht entsetzlich schmerzhaft werden würde. Doch ich wollte noch nicht klagen. Ich lag im Bett, Maman Odette hielt meine Hand. Die Hebamme kam spät, sie war in einen Aufstand geraten und kam atemlos an, ihre Haube saß ganz schief. Wir hatten keine Ahnung, was draußen los war. Sie informierte Dich und Maman Odette im Flüsterton, dass die Leute auf die Barrikaden gingen und dass es schlimm kommen würde. Sie dachte, ich könnte sie nicht hören, aber ich hörte sie sehr wohl.

Während die Stunden verstrichen und ich langsam und mit wachsender Angst verstand, was Maman Odette gemeint hatte, als sie gesagt hatte, ich müsse »tapfer sein«, wurde klar, dass unser Kind sich entschieden hatte, mitten in einer brodelnden Revolution zur Welt zu kommen. In unserer kleinen Straße konnten wir das lauter werdende Grollen des Aufruhrs hören. Es begann mit Schreien, Rufen und Hufgeklapper. Von Panik ergriffene Nachbarn informierten Dich, dass die königliche Familie geflohen war.

Ich hörte all dies wie aus weiter Ferne. Man drückte mir ein feuchtes Tuch auf die Stirn, aber das linderte weder den Schmerz noch die Hitze. Hin und wieder musste ich würgen, mein Inneres war aufgewühlt vor Qual, aber ich erbrach nichts außer Galle. Unter Tränen gestand ich Maman Odette, dass ich mich außer Stande sähe, mich dieser Prüfung zu stellen. Sie versuchte mich zu besänftigen, aber ich sah, dass auch sie Angst hatte. Immer wieder lief sie zum Fenster und blickte nach draußen. Sie ging hinunter, um mit Dir und den Nachbarn zu sprechen. Alle interessierten sich nur für die Unruhen, nicht für dieses Kind. Es schien sich wirklich niemand um mich und das Baby zu kümmern. Was würde werden, wenn Ihr alle, auch die Hebamme, das Haus verlassen, wenn Ihr gehen und mich hier lassen müsstet, hilflos, unfähig zu jeder Bewegung? Machten alle Frauen diesen Horror durch oder nur ich? Hatte auch meine Mutter solche Schmerzen gehabt? Und Maman Odette, als sie Dich bekam? Undenkbare Fragen, die ich niemals auszusprechen wagte und die ich Dir jetzt nur schreiben kann, weil niemand sie je lesen wird.

Ich erinnere mich, dass ich anfing, unkontrolliert zu schluchzen, der Schmerz und das Grauen rissen an meinem Bauch. Während ich schmerzgekrümmt und schweißgebadet im Bett lag, hörte ich durch das offene Fenster die Schreie: »Nieder mit den Bourbonen!« Das tiefe Donnern der Kanonen erschreckte uns, die Hebamme bekreuzigte sich immer wieder. Nicht weit entfernt hörte man Gewehre krachen, ich betete, dass das Kind bald käme, ich betete, dass der Aufstand vorbeiginge. Das Schicksal unseres Königs und was mit unserer Stadt geschah, war mir egal. Wie egoistisch ich war, dass ich nur an mich dachte – nicht einmal an das Kind, nur an mich und diesen gewaltigen Schmerz.

Es dauerte Stunden, die Nacht wurde zum Tage, und der nicht nachlassende Schmerz stach wie mit Feuerforken auf mich ein. Du hattest Dich unauffällig zurückgezogen, sicherlich warst Du mit Madame Odette unten im Salon, und ich tat zunächst alles, um meine Schreie in mir zu ersticken. Doch bald überkamen mich wieder diese Marterwellen, sie schlugen höher und höher, und ich musste die Schreie hinauslassen. Am Anfang versuchte ich sie mit meiner nassen Hand oder einem Kissen zu dämpfen, doch bald war ich fast in Trance vor Schmerz und schrie aus vollem Halse, ohne Rücksicht auf das offene Fenster und auf Dich unten im Salon. Niemals in meinem Leben hatte ich so laut, so kraftvoll geschrien. Meine Kehle war ganz trocken. Ich hatte keine Tränen mehr. Ich dachte, ich müsse sterben. Und manchmal wurde es so unerträglich, dass ich auch wirklich sterben wollte.

Als dann die lauteste und tieftönendste Glocke von Notre-Dame ein Warngeläut anstimmte, ein nicht enden wollendes Gedröhn, das mein erschöpftes Gehirn hämmernd durchdrang, da wurde schließlich meine Tochter geboren – in den schlimmsten Stunden der Revolte, am letzten der drei blutigen Tage, an dem das Hôtel de Ville gestürmt wurde. Maman Odette erfuhr, dass die Trikolore des Volkes hoch über den Dächern wehte und die weiß-goldene Fahne der Bourbonen nirgends mehr zu sehen war. Du hattest gehört, dass viele Zivilisten umgekommen waren.

Ein kleines Mädchen. Ich war zu erschöpft, um enttäuscht zu sein. Man legte es mir an die Brust, und als ich es ansah, dieses schrumpelige Geschöpf mit dem verzerrten Gesicht, da empfand ich unerklärlicherweise weder Liebe noch Stolz. Es stieß mich mit seinen winzigen Fäusten weg und jammerte klagend. Nein, es war keine Liebe auf den ersten Blick zwischen mir und meiner Tochter. Auch achtunddreißig Jahre später hat sich nichts verändert. Ich weiß nicht, wieso das so kam, ich kann es nicht erklären. Es ist mir ein Rätsel. Warum liebt man ein Kind und ein anderes nicht? Warum stößt ein Kind seine Mutter weg? Wessen Fehler ist das? Warum geschieht es so früh, schon bei der Geburt? Warum kann man daran nichts ändern?

Violette ist eine harte Frau geworden, knochig, mit Kanten und Ecken, sie hat nicht die Spur Deiner Vornehmheit oder meiner Herzlichkeit. Wie kommt es, dass wir Kinder von unserem Fleisch und Blut austragen und dennoch keine Beziehung zu ihnen bekommen, als wären sie Fremde? Sie sieht Dir ähnlich, sie hat Deine Nase, Deine dunklen Haare und Augen. Sie ist nicht hübsch, hätte es aber sein können, wenn sie mehr gelächelt hätte. Sie hat nicht einmal das Mürrische meiner Mutter oder diese kokette Eitelkeit, die manchmal amüsant war. Was findet mein Schwiegersohn, dieser affektierte, spießige Laurent, nur an ihr? Wahrscheinlich die perfekte Hausfrau. Sie ist sicherlich eine gute Köchin. Sie führt diesen Landarzthaushalt mit eiserner Hand. Und ihre Kinder … Clémence und Léon … Ich kenne sie ja kaum … Ich habe die Süßen seit Jahren nicht mehr gesehen …

Das ist nun mein einziges Bedauern, Liebster. Als Großmutter hätte ich gern mit meinen Nachkommen ein Band geknüpft. Aber nun ist es zu spät. Vielleicht wird man als enttäuschte Tochter eine unzulängliche Mutter. Vielleicht ist die fehlende Liebe zwischen Violette und mir mein Fehler. Vielleicht bin ich schuld. Ich stelle mir vor, wie Du mir mit einem »Ts, ts« über den Arm streichst. Aber weißt Du, Armand, ich habe den Kleinen so viel mehr geliebt. Es ist also sicherlich mein Versäumnis. Nun, im Winter meines Lebens, kann ich zurückblicken und diese Tatsache fast ohne Schmerz feststellen. Aber nicht ohne Reue.

Ach, mein Lieber, wie sehr Du mir fehlst! Ich betrachte die letzte Fotografie, die ich von Dir habe, die vom Totenbett. Sie hatten Dir Deinen eleganten schwarzen Anzug angezogen, den Du nur zu ganz besonderen Anlässen trugst. Dein Haar, kaum ergraut, ist zurückgekämmt und Dein Schnauzbart gebürstet. Deine Hände sind über Deiner Brust gefaltet. Wie oft habe ich mir dieses Bild angesehen, seit Du von mir gegangen bist? Sicherlich Tausende Mal.