Rue Childebert, den 20. August 1850

Liebste Rose meines Herzens,

Dein Schmerz, Dein Kummer sind grenzenlos, ich weiß. Er war so ein lieber, ein so niedlicher Junge, doch leider holte Gott ihn zu sich, und wir können nichts anderes tun, als uns Seiner Wahl zu beugen, meine Liebste. Ich schreibe diese Zeilen am Kamin, der Kerzenschein flackert in der stillen Nacht. Du bist oben in unserem Schlafzimmer und versuchst zur Ruhe zu kommen. Ich weiß nicht, wie ich Dir helfen soll, und komme mir ganz unnütz vor. Ein abscheuliches Gefühl. Könnte doch Maman Odette hier sein, um Dich zu trösten! Aber sie hat uns schon vor langer Zeit verlassen und den Kleinen nicht mehr kennengelernt. Doch sie hätte Dich in diesen schweren Stunden mit ihrer Liebe und Zärtlichkeit umsorgt. Warum sind wir Menschen in solchen Situationen nur so hilflos? Warum verstehen wir es nicht, Trost und Fürsorge zu geben? Ich bin wütend auf mich selbst, der ich hier sitze und Dir schreibe – ich bin ein nutzloser Ehemann, denn ich kann Dich in keiner Weise aufmuntern.

Seit er letztes Jahr von uns gegangen ist, bist Du ein Geist Deiner selbst. Du bist mager und blass geworden, ohne ein Lächeln auf Deinem Gesicht. Selbst bei der Hochzeit unserer Tochter jüngst, an jenem herrlichen Tag am Fluss, hast Du nicht ein einziges Mal gelächelt. Das fiel allen auf, und natürlich fragten sie nach. Dein Bruder war sehr besorgt, und sogar Deine Mutter, die sonst nie auf Deinen Seelenzustand achtet, sowie Dein neuer Schwiegersohn, ein junger Arzt, sprachen abseits der anderen mit mir darüber. Die einen schlugen eine Reise nach Süden ans Meer vor, andere meinten, das Beste seien Ruhe, nahrhaftes Essen, lange Spaziergänge.

Dein Blick ist traurig und leer, er bricht mir das Herz. Ach, was soll ich nur tun? Ich ging durch unser Viertel und suchte nach einer Kleinigkeit, einem Schmuckstück, das Dich erfreuen könnte, aber ich kam mit leeren Händen zurück. Ich setzte mich in das Kaffeehaus an der Place Gozlin, nahe dem Haus, wo Du aufgewachsen bist, und las die Zeitungen – alle handelten nur von Balzacs Tod. Wie Du weißt, ist er einer meiner Lieblingsschriftsteller, aber bei allem, was Du an quälendem Schmerz durchmachen musst, kann ich über Monsieur Balzacs Dahinscheiden einfach keine Trauer empfinden. Der arme Kerl war ungefähr in meinem Alter. Und auch er hatte eine Frau, die er so leidenschaftlich liebte, wie auch ich Dich mit einer Leidenschaft liebe, die mein ganzes Leben entflammt.

Rose, meine Liebste, ich bin ein wehmütiger Gärtner, der nicht mehr weiß, wie er seine geliebte Blume zu voller, reicher Blüte bringen kann. Du bist erstarrt, Rose, als würdest Du es nicht mehr wagen, zu erblühen. Als würdest Du es nicht mehr wagen, Dich mir zu schenken, mich mit Deinem verführerischen Duft zu betören, wenn sich Deine Blütenblätter langsam entfalten. Ist daran der Gärtner schuld? Unser geliebter Sohn ist tot, und mit ihm starb ein Teil unseres Lebens. Doch unsere Liebe ist noch immer stark, oder etwa nicht? Sie ist unsere größte Stärke, wir müssen sie aufrechterhalten, um weiterzuleben. Denk daran, wie unsere Liebe unserem Kind vorausging, durch unsere Liebe kam er überhaupt erst auf die Welt. Wir müssen unsere Liebe hegen und pflegen, sie nähren und feiern. Ich teile Deinen Kummer, ich trauere als Vater um unseren Sohn, aber können wir ihn nicht auch als Liebende betrauern? Schließlich war er die Frucht zweier wundervollen Liebenden. Ich sehne mich nach dem süßen Duft Deiner Haut, meine Hände verlangt es, die Rundungen Deines geliebten Körpers zu streicheln, meine Lippen brennen darauf, Dir tausend Küsse an geheimen Stellen zu schenken, die nur ich kenne und liebe. Ich möchte spüren, wie Du Dich mir unter meinen zärtlichen Liebkosungen entgegendrängst, in der liebevollen Kraft meiner Umarmung. Ich dürste nach Deiner Liebe, ich will die Süße Deines Fleisches schmecken, die Vertrautheit Deiner Weiblichkeit, will wieder die fiebernde Ekstase erleben, in die wir uns als Liebende dort oben im Königreich unseres Schlafzimmers immer brachten, als Mann und Frau, die sich in tiefer, wahrer Liebe verbunden sind.

Du bist mir das Wichtigste im Leben, Rose, und ich werde mit aller Macht darum kämpfen, Deinen Glauben an unsere Liebe und unser Leben wiederherzustellen.

Für immer der Deine,

Dein Mann Armand