Heute Morgen hob trotz der vorherrschenden Kälte wieder der Baulärm an. Es dauert nun nicht mehr lange. Da mir nicht viel Zeit bleibt, will ich mit meiner Geschichte fortfahren. Ich muss Dir noch immer so viel erzählen! Vor einem halben Jahr beschlossen Madame Paccard, Doktor Nonant und ich, zum Hôtel de Ville zu gehen und gegen die Zerstörung unserer Straße zu protestieren. Unsere zahlreichen Schreiben waren von den Beamten beantwortet worden, die, wie Du Dir vorstellen kannst, lediglich immer wiederholten, dass die Entscheidung unwiderruflich sei, dass man aber über die Entschädigungssumme, die uns zugewiesen werden sollte, noch verhandeln könne. Doch für uns drei war nicht das Geld ausschlaggebend. Wir wollten unsere Häuser behalten.

Also, stell Dir uns drei an jenem Junitag vor. Wir waren wildentschlossen – Madame Paccard mit bebendem Dutt, Doktor Nonant mit ernstem Gesicht und Backenbart und Deine Rose in ihrem besten weinroten Seidenmantel und ihrem Hut mit Schleier. An jenem sonnigen, warmen Morgen überquerten wir den Fluss, und ich war wie immer beeindruckt von dem prachtvollen Renaissancebau am anderen Ende der Brücke. Mein Magen hatte sich vor lauter Nervosität verkrampft, und mir war fast schwindlig vor banger Erwartung, während wir auf die erhabene Steinfassade zugingen. Waren wir nicht verrückt zu glauben, den Präfekten persönlich zu Gesicht zu bekommen? Und würde er uns überhaupt anhören? Ich war froh, dass ich nicht allein war und meine Mitstreiter an meiner Seite hatte. Die beiden wirkten sehr viel selbstsicherer als ich.

In der riesigen Eingangshalle, die ich noch nie betreten hatte, plätscherte ein Brunnen unter der Windung einer breiten Treppe. Menschen schlenderten in Grüppchen durch die große Halle, die mit ihrem Deckenschmuck und ihrer majestätischen Würde Ehrfurcht gebot. Hier lebte und arbeitete er also, er, dieser Mann, dessen Namen niederzuschreiben ich noch immer nicht über mich bringe. Er und seine Familie (die graue Maus Octavie, die angeblich gesellschaftliche Verpflichtungen hasst, und die beiden Töchter Henriette und Valentine, rosagesichtig, vollbusig, goldblond und zurechtgemacht wie Preiskühe) schliefen irgendwo in den labyrinthischen Winkeln unter dem gewaltigen Dach dieses Prachtbaus.

Ach, wir hatten in den Zeitungen alles über diese üppigen, verschwenderischen Feste gelesen, die hier mit einem Gepränge abgehalten wurden, als sei der Präfekt der Sonnenkönig in Person. Baronne de Vresse war vor einem Jahr beim Ball gewesen, der für den Zar und den König von Preußen gegeben worden war – drei Orchester und tausend Gäste. Auch beim Empfang für Kaiser Franz-Joseph von Österreich im darauffolgenden Oktober war sie mit vierhundert anderen Gästen zugegen gewesen, die von dreihundert Kellnern bedient worden waren. Sie hatte uns das siebengängige Menü und die großen Blumenarrangements geschildert, die Kristallgläser, das feine Porzellan, die fünfzig riesigen Kandelaber. Die Kaiserin hatte ein Taftkleid getragen, das mit Rubinen und Diamanten besetzt war. (Alexandrine war der Mund offen gestanden, ich war wie versteinert gewesen.) Jeder Pariser wusste, dass der Präfekt den besten Weinkeller der Stadt pflegte. Jeder Pariser wusste auch, dass das einzige Licht, das ein einzelnes Fenster im Hôtel de Ville erleuchtete, wenn er zu früher Stunde durch die Rue de Rivoli ging, im Zimmer des Präfekten brannte, der sich abrackerte, nur um seine Armee aus Spitzhacken in unsere Stadt ausschwärmen zu lassen.

Da wir keinen Termin mit einem bestimmten Beamten hatten, schickte man uns in den ersten Stock zur Abteilung für Grundbesitz und Enteignung. Dort trafen wir mit sinkendem Mut auf eine lange Warteschlange. Wir stellten uns an und übten uns in Geduld. Ich fragte mich, wer all diese Leute waren und was sie für Anträge stellen wollten. Die Dame vor mir war in meinem Alter, sie hatte ein müdes Gesicht und abgetragene Kleidung. Aber die Ringe an ihren Fingern waren prächtig und kostbar. Neben ihr stand ein bärtiger Mann mit ernstem Gesicht, ungeduldig klopfte er mit dem Fuß auf den Boden und sah alle zehn Minuten auf die Uhr. Da war auch eine ganze Familie, junge Eltern, sehr ordentlich, mit einem quengeligen Kleinkind und einem gelangweilten kleinen Mädchen.

Wir warteten. Von Zeit zu Zeit ging eine Tür auf, und ein Beamter kam und notierte die Namen der Neuankömmlinge. Mir kam es vor, als dauerte es Ewigkeiten. Als wir endlich an der Reihe waren, durften wir das Büro nicht gemeinsam betreten, nur einzeln. Kein Wunder brauchte das alles so lange! Wir ließen Madame Paccard als Erste gehen.

Die Minuten flossen träge dahin. Als sie schließlich wieder herauskam, schien ihre Miene noch länger geworden zu sein, sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Sie murmelte etwas, das ich nicht verstand, und sank, den Kopf in den Händen, auf einen Stuhl. Doktor Nonant und ich betrachteten sie beklommen. Die Dame mit der ramponierten Kleidung war vorher im selben Zustand aus dem Büro gekommen, Tränen waren ihr übers Gesicht gelaufen. Ich wurde immer nervöser. Ich ließ Doktor Nonant den Vortritt, denn ich wollte mir die Beine vertreten, der Raum war stickig und muffig, voll von den Gerüchen und Ängsten der anderen.

Ich ging in den breiten Flur hinaus und lief auf und ab. Es ging so emsig zu wie in einem Bienenstock. Hier entschied sich alles. Die allmähliche Zerstörung unserer Stadt hatte hier ihren Anfang genommen. All diese geschäftigen Männer, die mit Unterlagen und Akten umhereilten, hatten etwas mit diesem Umbau zu tun. Wer von ihnen hatte entschieden, dass der Boulevard direkt an der Kirche vorbeiführen sollte? Wer hatte die aktuellen Pläne gezeichnet? Wer hatte den ersten tödlichen Strich gezogen?

Wir hatten alle von den herausragenden Mitarbeitern des Präfekten gelesen. Wir kannten ihre Gesichter, denn sie waren mittlerweile berühmt. Die Crème de la Crème der Elite unseres Landes, die brillantesten Ingenieure mit den besten Diplomen vom Polytechnikum und von der Hochschule für Hoch- und Tiefbau, der École Nationale des Ponts et Chaussées. Victor Baltard, der »Eisenmann«, errichtete die riesigen Markthallen, von denen ich Dir erzählt habe. Jean-Charles Alphand erlangte als »Gärtner« Berühmtheit, weil er unserer Stadt grüne Lungen gab. Der allbekannte »Wassermann« Eugène Belgrand war besessen von unserer Kanalisation. Gabriel Davioud baute zwei Theater an der Place du Châtelet, dazu diese missliche, überdimensionierte Fontaine Saint-Michel, den Brunnen an der Place Saint-Michel. Alle diese Männer spielten eine prominente Rolle und sonnten sich in ihrem Ruhm.

Und der Kaiser beobachtete all dies natürlich von der goldenen Zuflucht seiner Paläste aus, fernab von Schutt, Staub und der ganzen Tragödie.

Als ich dann aufgerufen wurde, musste ich vor einem blonden jungen Mann Platz nehmen, der mein Enkel hätte sein können. Er hatte langes, welliges Haar, auf das er übermäßig stolz zu sein schien, er trug einen tadellosen hochmodischen dunklen Anzug und polierte Schuhe. Sein Gesicht war ebenmäßig und hatte den zarten Teint eines Mädchens. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich Aktenmappen und Ordner. Hinter ihm saß ein älterer Herr mit Brille über eine Schreibarbeit gebeugt. Blinzelnd warf mir der junge Mann einen trägen, hochmütigen Blick zu und sah auf die Uhr. Er zündete ein Zigarillo an und blies wichtigtuerisch den Rauch aus, dann bat er mich, meine Beschwerde vorzubringen. Ich erklärte ihm ganz ruhig, dass ich gegen den Abriss meines Hauses sei. Er fragte nach meinem Namen und meiner Adresse, schlug ein dickes Buch auf und fuhr mit dem Finger über ein paar Seiten. Dann brummte er:

»Cadoux, Rose, verwitwete Bazelet, wohnhaft Rue Childebert 6.«

»Ja, Monsieur«, sagte ich, »das bin ich.«

»Sie sind vermutlich nicht mit der Entschädigungssumme einverstanden, die die Präfektur Ihnen zuwies.«

Er sagte es gelangweilt, mit verächtlicher Gelassenheit, und besah sich dabei seine Fingernägel. Wie alt war dieser eingebildete Fatzke?, fragte ich mich wütend. Zweifellos hatte er vergnüglichere Dinge im Kopf, ein Mittagessen mit einer jungen Dame oder ein Galadiner am Abend. Was sollte er tragen? Den braunen Frack oder den blauen? Und fände er davor noch Zeit, seine Haare einzudrehen? Ich sagte nichts, saß einfach nur vor ihm, eine Hand hatte ich flach auf den Schreibtisch zwischen uns gelegt.

Als er mich schließlich anblickte – wahrscheinlich erstaunte ihn meine Schweigsamkeit –, sah ich Wachsamkeit in seinen Augen aufblitzen. Er dachte wohl: Die da wird Theater machen, ich komme zu spät zum Mittagessen. Ich sah mich mit seinen Augen: eine respektable, gut gekleidete ältere Dame, die in ihrer Jugend, also vor Ewigkeiten, vermutlich ein hübsches Mädchen gewesen war und nun gekommen ist, um mehr Geld zu fordern. Das taten sie alle. Und manchmal bekamen sie es auch. Das dachte er wohl.

»Welche Summe haben Sie sich vorgestellt, Madame Bazelet?«

»Ich glaube, Sie haben den Inhalt meines Antrags nicht ganz erfasst, Monsieur.«

Er versteifte sich und hob eine Augenbraue.

»Dann erklären Sie sich bitte, Madame.«

Ach, diese Ironie in seiner Stimme, dieser Spott. Ich hätte ihn in sein glattes rundes Gesicht schlagen mögen!

Ich sagte noch einmal ganz deutlich:

»Ich bin gegen den Abriss meines Hauses, des Elternhauses meines Mannes.«

Er unterdrückte ein Gähnen.

»Ja, Madame, soweit habe ich das verstanden.«

»Ich will kein Geld.«

Er war verdutzt.

»Was wollen Sie dann, Madame?«

Ich holte tief Luft.

»Ich will, dass der Präfekt den Boulevard Saint-Germain weiter von der Kirche entfernt baut. Ich will mein Haus in der Rue Childebert behalten.«

Das Kinn fiel ihm herunter. Er starrte mich an. Dann brach er in Gelächter aus, ein hässliches, gurgelndes Lachen. Oh, wie ich ihn hasste! Er lachte und lachte, und der krötengesichtige Mann hinter ihm lachte auch. Dann ging eine Tür auf, und ein Mann schaute herein, der sich schließlich auch vor Lachen die Seiten hielt, als dieses Früchtchen grölte: »Madame will, dass der Präfekt den Boulevard verlegt, damit ihr Haus stehen bleibt.« Sie kicherten fröhlich und lachten sich krumm, während sie mit dem Finger auf mich zeigten.

Es gab nichts weiter zu sagen oder zu tun. Ich stand auf, so würdevoll, wie es ging, und verließ den Raum. Im Vorzimmer wischte sich Doktor Nonant mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Als er mein Gesicht sah, schüttelte er den Kopf und hob verzweifelt die Hände. Madame Paccard tätschelte meinen Arm. Natürlich hatten sie das Gelächter gehört. Das ganze Hôtel de Ville hatte es gehört.

Es waren noch mehr Leute gekommen, die Luft war abgestanden und drückend. Wir hasteten hinaus. Und als wir die Treppen hinuntergingen, da sahen wir ihn plötzlich.

Der Präfekt. Er überragte alle und jeden hier, er stand ganz in unserer Nähe, so nah, dass wir jäh innehielten und laut den Atem einsogen. Ich hatte ihn, wie ich Dir sagte, schon einmal gesehen, aber nicht aus nächster Nähe. Nun stand er eine Armeslänge von mir entfernt. Ich konnte die Poren seiner Haut sehen, sie war leicht gefleckt und rötlich, ich sah den streng getrimmten krausen Bart, das Leuchten seiner eisblauen Augen. Er war korpulent, fast fett, seine Hände waren wie Schinkenhälften, gewaltig.

Wir drückten uns an den Handlauf, als er, gefolgt von ein paar Beamten, vorbeirauschte. Er roch nach ranzigem Schweiß, Alkohol und Tabak. Er sah uns nicht. Er machte einen entschlossenen, unbeugsamen Eindruck. Ich hätte am liebsten die Hand ausgestreckt und sein fleischiges Handgelenk gepackt, damit er mich ansah, um meinem Hass, meiner Angst, meiner Beklommenheit freien Lauf zu lassen und ihn anschreien zu können, dass er mit der Zerstörung meines Hauses meine Erinnerungen, meine Existenz, die Grundfesten meines Lebens zerstört. Doch meine Hand blieb schlaff an meiner Seite hängen. Und dann war er weg.

Schweigend verließen wir drei das Hôtel de Ville, wir hatten den Kampf verloren. Wir hatten uns nicht getraut, den Präfekten anzusprechen, keiner von uns hatte sich getraut. Nun konnten wir nichts mehr tun. Die Rue Childebert war dem Untergang geweiht. Der Doktor würde seine Patienten verlieren, Madame Paccard ihr Hotel und ich unser Haus. Es gab keine Hoffnung mehr. Es war vorbei.

Draußen war es mild, fast zu warm. Ich band meinen Hut fest, als wir die Brücke überquerten. Für den Verkehr auf dem Fluss, die Kähne und Boote, die auf und ab fuhren, hatte ich keinen Blick, auch dem dichten Straßenverkehr um uns herum mit Doppeldeckerbussen und eifrigen Droschkenkutschern schenkte ich keine Aufmerksamkeit. Ich hörte noch immer das widerliche Lachen, meine Wangen brannten.

Als ich nach Hause kam, Liebster, war ich so erzürnt, dass ich mich hinsetzte und einen langen Brief an den Präfekten schrieb. Ich trug Germaine auf, ihn zum Postamt zu bringen und umgehend aufzugeben. Ich habe keine Ahnung, ob er ihn je gelesen hat. Aber es tat mir gut, ihn zu schreiben. Es nahm mir ein wenig die Last von der Seele. Ich erinnere mich wortwörtlich an diesen Brief. Schließlich ist es ja noch nicht so lange her, dass ich ihn geschrieben habe.