Erinnerst Du Dich an die ersten Schreie der Wasserträger kurz nach Tagesanbruch? Sie kamen, wenn wir oben noch im Bett lagen und langsam aus dem Schlaf erwachten. Die stämmigen Burschen tappten unsere Straße hinunter und überquerten die Rue des Ciseaux, im Schlepptau einen müden Esel, beladen mit Fässern. Das monotone Rascheln der Straßenfegerbesen und das frühe Geläut der Kirche, so nah, als würde in unserem Schlafzimmer die Glocke läuten. Und die nahe Saint-Sulpice-Kirche bimmelte als wohlklingendes Echo zurück. Ein neuer Tag erwachte in unserer kleinen Straße. Der morgendliche Gang zum Markt mit Germaine, wenn das Straßenpflaster noch sauber war, die Kloaken über Nacht geleert worden waren, der kleine Spaziergang die Rue Sainte-Marguerite hinunter – nach und nach öffneten die Läden, die Eisengitter schepperten –, weiter durch die Rue Montfaucon und in die große, quadratische Markthalle voller verlockender Düfte, die Auslagen eine Augenweide. Als Violette klein war, nahm ich sie immer mit, wie auch meine Mutter mich als Kind mitgenommen hatte. Den Kleinen hatte ich auch zweimal die Woche dabei. (Ich bin im Moment nicht in der Lage, über den Kleinen zu schreiben. Vergib mir, Herr! Was bin ich für ein Feigling.) Du und ich, wir wurden zwischen der schwarzen Kirchturmspitze von Saint-Germain und den Türmen von Saint-Sulpice geboren und wuchsen dort auf. Wir kannten dieses Viertel wie unsere Westentasche. Wir wussten, dass sich in heißen Sommern der beißende Gestank des Flusses durch die Rue des Saints-Pères zog. Wir wussten, dass der Jardin du Luxembourg im Winter von einem Mantel aus glitzerndem Raureif bedeckt war. Dass der Verkehr entlang der Rue Saint-Dominique und Rue Taranne immer dichter wurde, dass vornehme Damen in Kutschen mit Wappen ausfuhren, dass Droschkenkutscher mit überladenen Marktkarren und eiligen, überfüllten Omnibussen wetteiferten. Nur Reiter im Sattel konnten sich ihren Weg durchs Gedränge bahnen. Erinnerst Du Dich an den Rhythmus unserer frühen Tage? Den Tagesablauf, der sich auch nicht änderte, als ich Ehefrau, Mutter und schließlich Witwe wurde. Trotz der Unruhen, die in unserer Stadt verschiedentlich wegen politischer Krisen und Aufstände ausbrachen, kam unsere Lebensführung, mein Alltag aus Kochen, Putzen, Haushalt nie aus dem Tritt. Als Maman Odette noch lebte – erinnerst Du Dich, wie pingelig sie war in Bezug auf den Geschmack der Bouillabaisse oder die Qualität der Schnecken, selbst als der Mob durch die Straßen fegte? Und das Theater mit ihrer Wäsche – immer musste sie perfekt gestärkt sein. Und dann der Abend. Essen um sechs Uhr. Nacheinander wurde den Straßenlampen von dem pfeifenden Laternenanzünder Licht gegeben. An Winterabenden setzten wir uns an den Kamin. Germaine brachte mir Kamillentee, und Du führtest Dir gelegentlich ein Gläschen Likör zu Gemüte. Wie ruhig, wie friedlich diese Abende waren. Der Schein der Lampe flackerte leicht und füllte den Raum mit einem besänftigenden rosigen Schimmern. Du warst auf Deine Domino-Partie konzentriert, später auf Deine Lektüre, ich auf meine Stickerei. Das einzige Geräusch war das Knistern der Flammen und Dein schwerer Atem. Ich vermisse diese ungestörten Abende, Armand. Wenn die Dunkelheit dichter wurde und das Feuer langsam verglomm, zogen wir uns zurück. Germaine hatte wie üblich die Wärmflasche in unser Bett gelegt. Und so ging der Abend unmerklich in den Morgen über.

Wie gut ich unseren Salon noch vor mir sehe. Nun ist es ein leerer Raum, kahl und nackt wie eine Mönchszelle, aber ich weiß noch immer, wie er aussah. Es war das erste Zimmer, das ich betrat, als ich Deine Mutter besuchte. Geräumig, eine hohe Decke, eine Tapete mit smaragdgrünem Blattmuster, ein Kamin aus hellem Stein. Schwere Damastvorhänge in einem Bronzeton. Vier große Fenster mit Buntglasscheiben – golden, dunkelrot, violett –, die auf die Rue Childebert sahen. Man konnte bis hinunter zum Erfurth-Brunnen sehen, wo die Nachbarn sich ihre täglichen Wasservorräte besorgten. Elegantes Balkenwerk, ein vornehmer Lüster, gläserne Türknäufe, edle Stiche mit Jagdszenen und Landschaften, weiche Teppiche. Ein exotischer Kaktus nahm den ganzen Alkoven ein. Auf dem breiten Kaminsims stand die römische Marmorbüste eines jungen Mannes, eine vergoldete Uhr mit Emaillezifferblatt und ein Paar silberne Kerzenhalter unter Glasblenden.

An jenem ersten Tag bei Deiner Mutter stellte ich mir vor, wie Du hier aufgewachsen bist und Dein Vater vor Dir. Dein Vater starb, als Du fünfzehn warst, meiner bei einem Reitunfall, als ich zwei war. Ich erinnere mich nicht an ihn, und Deinen Vater erwähntest Du nur selten. Doch Maman Odette flüsterte mir über das Teetablett hinweg zu, wie impulsiv und reizbar ihr Mann gewesen sei und was Du für ein geduldiger Sohn wärst. Du hattest ein sanfteres, liebenswürdigeres Wesen als er.

Ich weiß, dass Deine Mutter mich von Anfang an akzeptiert hat, schon als Du mich ihr vorgestellt hast. Sie saß in ihrem Lieblingssessel, dem breiten grünen mit den Fransen, auf dem Schoß ihr Strickzeug. Sie wurde mir in nur wenigen Monaten eine zweite Mutter, noch bevor wir in der Kirche von Saint-Germain getraut wurden. Meine leibliche Mutter Berthe hatte wieder geheiratet, als ich sieben war – Edouard Vaudin, einen aufdringlichen, rüpelhaften Mann. Mein Bruder Émile und ich hassten ihn. Was hatten wir für eine triste Kindheit an der Place Gozlin! Berthe und Edouard kümmerten sich nur um sich selbst, wir waren nicht von Interesse für sie. Maman Odette machte mir das allerschönste Geschenk: Ich fühlte mich geliebt. Deine Mutter behandelte mich wie ihre eigene Tochter. Stundenlang saßen wir im Salon, und ich lauschte hingerissen ihren Geschichten, wenn sie von Dir und Deiner Jugend erzählte und sagte, wie sehr sie Dich als ihren einzigen Sohn dankbar liebte. Sie schilderte Dich als Säugling, als klugen Schüler, als treuen Sohn, der sich gegen Jules Bazelet und dessen Wutausbrüche gewehrt hatte. Manchmal leistetest Du uns Gesellschaft, reichtest Tee und Kekse, und Deine Augen hafteten auf mir.

Den ersten Kuss bekam ich von Dir auf der Treppe mit der knarrenden Stufe. Ob es auf dem Weg nach oben oder nach unten geschah, weiß ich nicht mehr, aber ich erinnere mich an diesen ersten Kuss und dass mein Herz raste wie wild. Für einen Mann Deines Alters, ganze acht Jahre älter als ich, warst Du ziemlich dreist. Aber das gefiel mir wohl, ich fühlte mich geborgen.

Ganz zu Anfang, wenn ich Dich und Deine Mutter besuchte, war es, als würde die Rue Childebert mich schon willkommen heißen, wenn ich durch die Rue des Ciseaux und die Rue d’Erfurth ging und die Mauer der Kirche vor mir sah. Es war schmerzlich, an die Place Gozlin zurückkehren zu müssen. Die Zuneigung Deiner Mutter und Deine wachsende Liebe hüllten mich in einen schützenden Raum. Meine Mutter teilte all das nicht mit mir. Sie war zu beschäftigt mit der Leere ihres Lebens, den Abendgesellschaften, der Form ihres neuen Huts, dem Schwung eines neuen Haarknotens. Émile und ich hatten gelernt, allein zurechtzukommen. Wir freundeten uns mit den Geschäftsinhabern und den Kaffeehausbesitzern in der Rue du Four an, dort warteten wir, bis unsere Mutter nach Hause kam. Sie nannten uns »die kleinen Cadoux« und spendierten uns heiße Pastete direkt aus dem Backofen, Karamellbonbons und andere Leckereien. Die Cadoux-Kinder, wohlerzogen und demütig und voller Ehrfurcht vor ihrem lautstarken Stiefvater.

Bis ich Dich und Maman Odette kennenlernte, wusste ich nicht, was das Wort »Familie« bedeutete. Bis das quadratische Haus mit der grünen Tür an der Ecke der Rue Childebert mein Haus wurde. Mein Himmelreich.