Ich empfand das dringende Bedürfnis, eine Pause zu machen, ich konnte eine Weile nicht mehr schreiben. Doch nun gleitet meine Feder wieder übers Papier, und ich bin wieder mit Dir verbunden. Ich schrieb Dir nicht viele Briefe. Wir waren ja nie getrennt. Ich habe alle Deine kleinen Gedichte aufbewahrt – nun, es sind keine richtigen Gedichte, eher kleine Liebesbezeigungen, die Du hier und da für mich verstecktest. Wie ich sie vermisse! Wenn meine Sehnsucht zu groß ist, werde ich schwach und hole sie. Ich bewahre sie in einem kleinen Lederbeutel zusammen mit Deinem Ehering und Deiner Lesebrille auf. »Rose, liebe Rose, das Strahlen in Deinen Augen ist wie die Morgenröte, aber nur ich kann es sehen.« Oder: »Rose, bezaubernde Rose, die Du keine Dornen hast, nur Knospen der Anmut und Liebe.« Ein Fremder würde sie wahrscheinlich kindisch finden. Das ist mir egal.

Wenn ich sie lese, kann ich noch immer Deine schöne tiefe Stimme hören. Ach, Armand, Deine Stimme vermisse ich am meisten. Warum können die Toten nicht zurückkommen und mit uns sprechen? Du könntest leise mit mir reden, wenn ich morgens Tee trinke, und nachts, wenn ich in der Stille wach liege, könntest Du mir noch mehr Worte zuflüstern. Und wie gern würde ich Maman Odettes Lachen hören und das Plappern meines Sohnes. Die Stimme meiner Mutter? Nein, überhaupt nicht. Ich vermisse sie nicht im Geringsten. Als sie schon sehr betagt in ihrem Bett an der Place Gozlin starb, fühlte ich nichts, nicht einmal einen Anflug von Trauer. Du standest neben mir und meinem Bruder Émile und sahst mich an, als könntest Du in meinem Gesicht lesen. Ich wollte Dir sagen, dass nicht meine Mutter mir fehlte, nein, sondern nach wie vor Deine Mutter, Maman Odette, die fast zwanzig Jahre zuvor gestorben war. Ich glaube, Du wusstest es. Außerdem trauerte ich noch immer um unseren Sohn. All die Jahre seit seinem Tod besuchte ich jeden zweiten Tag sein Grab, ich lief bis ganz hinunter zum Cimetière du Sud beim Wall von Montparnasse. Manchmal kamst Du mit, aber meistens ging ich allein.

Wenn ich an seinem Grab saß, überkam mich ein merkwürdiger, schmerzlicher Friede. Bei Regen oder Sonnenschein, mein Schirm schützte mich bei jeder Gelegenheit. Ich wollte mit keinem reden, und wenn jemand zu nahe kam, versteckte ich mich unter meinem Schirm, damit ich allein und ungestört blieb. Eine Frau in meinem Alter besuchte mit derselben Regelmäßigkeit ein Grab in der Nähe. Auch sie saß stundenlang da, die Hände im Schoß gefaltet. Ob sie wohl betete? Ich betete manchmal. Aber ich zog es vor, direkt mit meinem Sohn zu sprechen. Im Geiste redete ich mit ihm, als würde er vor mir stehen. Anfangs störte mich die Anwesenheit der anderen Dame, doch ich gewöhnte mich schnell an sie. Wir sprachen nie miteinander. Manchmal nickten wir uns kurz zu. Um wen trauerte sie? Um den Mann, einen Sohn, eine Tochter, die Mutter? Sprach sie mit ihren Toten so wie ich?

Du fragtest mich nie, was ich zu Baptiste sagte, wenn ich ihn besuchte. Du warst sehr rücksichtsvoll. Nun kann ich es Dir sagen. Ich erzählte ihm alle Neuigkeiten, den Klatsch und Tratsch aus dem Viertel: Wie Madame Chanteloups Wäscherei in der Rue des Ciseaux fast niedergebrannt wäre, wie die Feuerwehrleute die ganze Nacht gegen die Flammen gekämpft hatten und wie schrecklich, aber auch aufregend es gewesen war; wie tapfer seine Freunde waren (der lustige kleine Gustave aus der Rue de la Petite-Boucherie und die widerspenstige Adèle aus der Rue Sainte-Marthe); dass ich eine neue Köchin gefunden hatte, die begabte, aber schüchterne Mariette, die von Germaine unverschämt herumkommandiert wurde, bis ich eingriff – oder, besser gesagt, bis Du als Hausherr ihr die Meinung sagtest.

Tag um Tag, Monat für Monat, Jahr um Jahr ging ich auf den Friedhof und sprach mit meinem Sohn. Ich sagte ihm Dinge, die ich Dir nie zu erzählen gewagt hätte, Liebster. Zum Beispiel über unseren Kaiser und dass ich keineswegs beeindruckt war von diesem Zwerg, der im kalten Nieselregen im Sattel paradierte, während die Menschenmenge brüllte: »Lang lebe der Kaiser!« – vor allem nach all den Menschenleben, die sein Staatsstreich gekostet hatte. Ich erzählte ihm von dem großen Ballon mit dem majestätischen Adler, der über den Dächern hinter dem Kaiser herschwebte. Der Ballon war imposant, flüsterte ich Baptiste zu, der Kaiser aber war alles andere als das. Du hingegen warst mit der Mehrheit der Leute damals noch der Ansicht, dass der Kaiser »eindrucksvoll« sei. Ich war viel zu zurückhaltend, um meine politischen Überzeugungen auszusprechen. Also sagte ich ganz leise zu Baptiste, dass diese hochnäsigen Bonapartes meiner bescheidenen Meinung nach viel zu sehr von sich eingenommen seien. Ich erzählte ihm von der verschwenderischen kirchlichen Vermählung in der Kathedrale mit der frischgebackenen spanischstämmigen Kaiserin, die alle sehen wollten und um die alle so ein Aufhebens machten. Als dann der Prinz geboren war, erzählte ich ihm von den Salutschüssen, die von den Kanonen vor dem Invalidendom abgefeuert wurden. Wie eifersüchtig ich auf diesen kleinen Prinzen war! Ich frage mich, ob Du das je spürtest. Sieben Jahre zuvor hatten wir unseren kleinen Prinzen verloren, unseren Baptiste. Ich konnte es nicht ertragen, die endlosen Berichte über das neugeborene Königskind in der Presse zu lesen, und wandte den Blick ab, damit ich die immer neuen, mir widerwärtigen Bilder der Kaiserin, die stolz mit ihrem Sohn posierte, nicht mehr sehen musste.