Sens, den 23. Oktober 1868

Meine liebe Madame Rose,

ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen für Ihre unschätzbare Hilfe danken soll. Ich glaube, Sie sind der einzige Mensch auf dieser Welt, der wirklich versteht, wie verzweifelt und aufgewühlt ich war, als ich mich damit abfinden musste, dass das Hotel abgerissen werden würde. Sie und ich wissen, welche Kraft ein Haus hat, in welchen Bann es uns schlagen kann und wie sehr wir uns an ihm erfreuen können. Das Hotel war ein Teil von mir. Ich und mein Mann, als er noch unter uns weilte, haben diesem Gebäude Herz, Leib und Seele geschenkt. Ich erinnere mich an den Tag, als ich das Hotel zum ersten Mal sah. Es wirkte düster und ungastlich, wie es sich so unter der Kirche duckte. Jahrelang war es unbewohnt gewesen. Es wimmelte von Mäusen und stank nach Schimmel.

Mein Mann Gaston sah gleich, was man daraus machen konnte. Ja, dafür hatte er ein Auge. Manche Häuser sind wie Menschen, sie sind schüchtern und offenbaren ihr Wesen nicht so leicht. Es dauerte eine Weile, dieses Haus zu erobern, zu zähmen, es unser zu nennen. Aber wir haben es geschafft, und jeder Schritt auf diesem Weg war eine einzige Freude.

Ich wusste von Anfang an, dass ich ein Hotel eröffnen wollte. Ich wusste, was dies mit sich brachte, was für einen enormen Arbeitsaufwand es verlangte, aber ich ließ mich nicht entmutigen, und Gaston auch nicht. Als wir dann schließlich am Balkon im ersten Stockwerk das Schild Hôtel Belfort anbrachten, wäre ich vor Stolz und Freude fast ohnmächtig geworden! Sie wissen ja, dass das Hotel fast immer ausgebucht war. Es war die einzige gute Unterkunft im Viertel, und nachdem sich das langsam herumgesprochen hatte, hatten wir immer ausreichend Gäste.

Ach, Madame Rose, wie ich meine Gäste vermisse! Ihr Geplauder, ihre Treue, ihre Marotten. Selbst die merkwürdigen Gäste. Selbst die ehrbaren Herren, die für ein schnelles Stelldichein mit einem jungen Mädchen aufs Zimmer gingen, sobald ich ihnen den Rücken drehte. Erinnern Sie sich an Madame Roche, die immer im Juni ihren Hochzeitstag bei mir feierte? Und Mademoiselle Brunerie, die reizende alte Jungfer, die immer das Zimmer in der obersten Etage haben wollte, das aufs Dach der Kirche sah? Sie fühle sich Gott dort näher, sagte sie. Manchmal frage ich mich, wie es möglich ist, dass ein Haus, in dem ich mich so geborgen fühlte, das ich mein Heim nannte und mit dem ich auch Geld und somit meinen Lebensunterhalt verdiente, so einfach vom Erdboden verschwinden kann.

Wie Sie wissen, entschloss ich mich zum Umzug, bevor die Rue Childebert zerstört wurde. Ich lebe nun bei meiner Schwester in Sens und versuche eine Familienpension einzurichten, bin aber nicht sehr erfolgreich damit.

Wie sehr wir bis zum bitteren Ende kämpften – vor allem Sie, Doktor Nonant und ich! Offenbar nahmen die anderen Bewohner der Straße ihr Schicksal gelassener an. Vielleicht hatten sie weniger zu verlieren. Vielleicht freuten sie sich auch darauf, anderswo ein neues Leben zu beginnen. Manchmal frage ich mich, was aus ihnen allen geworden ist.

Ich weiß, dass ich unsere Nachbarn wohl nie mehr wiedersehen werde. Ein seltsamer Gedanke, wo wir uns doch jeden Morgen grüßten. All die vertrauten Gesichter, Häuser, Läden. Monsieur Jubert, der seine Angestellten zusammenstauchte. Monsieur Horace, der schon um neun Uhr morgens einen in der Krone hatte. Die beiden Zankliesen Madame Godfin und Mademoiselle Vazembert. Monsieur Bougrelle im Gespräch mit Monsieur Zamaretti. Der köstliche Schokoladenduft, der aus Monsieur Monthiers Geschäft wehte. Ich habe so viele Jahre in der Rue Childebert gelebt, ungefähr vierzig, nein, fünfundvierzig, und kann den Gedanken nicht ertragen, dass es diese Straße nun nicht mehr geben soll. Den neuen Boulevard, der sie verschlungen hat, will ich gar nicht sehen. Niemals.

Haben Sie sich entschlossen, zu Ihrer Tochter zu ziehen, Madame Rose? Bitte schreiben Sie mir doch von Zeit zu Zeit und berichten mir Ihre Neuigkeiten. Vielleicht wollen Sie mich ja auch einmal hier in Sens besuchen. Es ist ein nettes Städtchen. Eine willkommene Erholung von den endlosen Bauarbeiten, dem Staub und Lärm von Paris. Ich tröste mich damit, dass meine Gäste mir noch immer schreiben und mir sagen, wie sehr ihnen mein Hotel fehlt. Sie wissen ja, wie ich sie verwöhnte. Alle Zimmer waren makellos sauber, sie waren schlicht, aber geschmackvoll eingerichtet, und Mademoiselle Alexandrine brachte jeden Tag frische Blumen, von Monsieur Monthiers Pralinen gar nicht zu reden.

Wie sehr es mir fehlt, an der Rezeption zu stehen und meine Gäste willkommen zu heißen! Was war es doch für ein internationales Völkchen. So ein Irrsinn, zur Zeit der Weltausstellung zumachen zu müssen! Und wie grausam, sich damit abfinden zu müssen, dass die Frucht so vieler Jahre Arbeit zunichte gemacht wird.

Ich denke oft an Sie, Madame Rose, Ihre Güte und Freundlichkeit gegenüber allen Nachbarn. Ihre Tapferkeit, als Ihr Mann starb. Monsieur Bazelet war so ein feiner Herr. Ich weiß, dass er den Anblick, wie sein geliebtes Haus abgerissen wird, nicht ertragen hätte. Ich sehe Sie beide noch durch die Straße spazieren, bevor er so krank wurde. Sie waren ein so schönes Paar! Beide waren Sie bezaubernd, gut aussehend und so charmant. Und ich sehe auch noch den kleinen Jungen, Gott hab ihn selig. Ihr Kleiner wird immer unvergessen sein, Madame Rose. Gott segne ihn und Sie. Hoffentlich geht es Ihnen gut bei Ihrer Tochter, ich erinnere mich, dass Sie sich nicht sehr gut verstanden. Vielleicht bringt Sie diese Prüfung einander ja wieder näher.

Ich bete für Sie.

In aller Freundschaft und mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen,

Micheline Paccard