Mein Geliebter,

ich höre, wie sie unsere Straße heraufkommen. Ein ungewohntes, Unheil verkündendes Poltern. Dumpfe Schläge, helle Schläge. Der Boden bebt unter meinen Füßen. Ich höre auch Schreie. Männerstimmen, laut und erregt. Pferdegewieher, Hufgeklapper. Es klingt wie eine Schlacht, wie in diesem heißen, entsetzlichen Juli, als unsere Tochter geboren wurde, in jener grässlichen Zeit, als überall in der Stadt Barrikaden aufgebaut worden waren. Es riecht wie in einer Schlacht. Stickige Staubwolken. Beißender Rauch. Schmutz und Schutt. Ich weiß, dass das Hotel Belfort abgerissen wurde. Gilbert sagte es mir. Ich darf gar nicht daran denken! Ich tue es auch nicht. Ich bin nur froh, dass Madame Paccard nicht mehr hier ist und das mit ansehen musste.

Während ich Dir diese Zeilen schreibe, sitze ich in der Küche. Sie ist leer, die Einrichtung wurde letzte Woche ausgeräumt und zu Violette nach Tours verschickt. Den Tisch ließen sie zurück, er war zu sperrig, genauso wie der schwere Emaillekochherd. Sie waren in Eile, es war mir zuwider, ihnen dabei zuzusehen. Jede Minute war mir verhasst. In kürzester Zeit war das Haus all seines Zubehörs beraubt. Dein Haus. Das Haus, in dem Du Dich sicher fühltest. Ach, mein Liebster! Keine Angst, ich werde nie von hier fortgehen.

Morgens scheint die Sonne in die Küche. Das gefiel mir an diesem Raum immer so. Nun ist er ganz trostlos, ohne Mariettes emsiges Wirtschaften, das Gesicht gerötet von der Hitze des Herds, und ohne die grummelnde Germaine, die sich die Haarsträhnen in den straffen Dutt zurücksteckt. Wenn ich mich konzentriere, kann ich fast die verlockenden Duftschwaden von Mariettes Ragout riechen, die gemächlich durchs Haus ziehen. Unsere einst heimelige Küche ist traurig und nackt ohne die glänzenden Töpfe und Pfannen, die Germaine immer so peinlich sauber hielt, ohne die Kräuter und Gewürze in ihren kleinen Gläsern, ohne das frische Gemüse vom Markt, das warme Brot auf dem Schneidbrett.

Ich erinnere mich an den Morgen im vergangenen Jahr, als der Brief kam. Es war ein Freitag. Ich saß im Salon am Fenster, trank meinen Tee und las Le Petit Journal. Ich genieße diese ruhige Stunde, bevor der Tag richtig beginnt. Es war nicht unser üblicher Postbote – diesen hier hatte ich noch nie gesehen. Ein großer, hagerer Bursche mit strohblondem Haar unter einer flachen grünen Mütze. Der blaue Baumwollkittel mit dem roten Kragen schien ihm viel zu weit zu sein. Von meinem Platz aus sah ich, wie er sich schwungvoll an die Mütze tippte und Germaine den Brief übergab. Dann war er wieder weg. Ich hörte ihn leise pfeifen, als er die Straße hinaufging.

Es war noch früh, ich hatte vor einer Weile schon gefrühstückt. Ich nahm einen Schluck Tee und widmete mich wieder meiner Zeitung. Offensichtlich gab es in den letzten Monaten nur ein Thema: die Weltausstellung. Siebentausend ausländische Besucher strömten täglich durch die Boulevards. Ein Kreis illustrer Gäste: Zar Alexander II., Bismarck, der Vizekönig von Ägypten. Was für ein Triumph für unseren Kaiser!

Ich hörte Germaines Schritte auf der Treppe, das Rascheln ihres Kleids. Ich bekomme nicht viel Post. Nur hin und wieder einen Brief von meiner Tochter, wenn das schlechte Gewissen sie plagt. Oder von meinem Schwiegersohn aus demselben Grund. Manchmal eine Karte von meinem Bruder Émile. Oder von der Baronne de Vresse aus Biarritz, wo sie den Sommer am Meer verbringt. Und die eine oder andere Rechnung und Steuerforderung.

An jenem Morgen bekam ich einen länglichen weißen Umschlag, verschlossen mit einem dicken blutroten Siegel. Ich drehte ihn um: Préfecture de Paris, Hôtel de Ville. Adressiert an meinen Namen, der in großen schwarzen Lettern aufgedruckt war. Ich öffnete den Umschlag. Die Worte sprangen mich an. Zuerst verstand ich sie nicht – dabei hatte ich meine Lesebrille noch auf der Nasenspitze. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich das Papier auf meinen Schoß legen und tief durchatmen musste. Nach einer Weile nahm ich das Schreiben wieder zur Hand und zwang mich, es zu lesen.

»Ist etwas, Madame Rose?«, sorgte sich Germaine. Sie muss mein Gesicht gesehen haben.

Ich schob den Brief wieder in den Umschlag. Ich stand auf, strich mein Kleid mit den Handflächen glatt. Ein schönes Kleid, dunkelblau, mit gerade so viel Rüschen, wie eine alte Dame wie ich sie noch tragen kann. Es hätte Dir gefallen. Ich erinnere mich an dieses Kleid und an die Schuhe, die ich an jenem Tag trug, schlichte Pantoffeln, hübsch und weiblich, und ich erinnere mich an Germaines Schrei, als ich ihr sagte, was in dem Brief stand.

Erst später, viel später, als ich allein in unserem Schlafzimmer war, brach ich auf dem Bett zusammen. Ich wusste zwar, dass dies früher oder später eintreten würde, aber es war trotzdem ein Schock. In der Nacht dann, als alle im Haus schliefen, nahm ich eine Kerze und holte den Stadtplan heraus, den Du Dir immer so gern ansahst. Ich rollte ihn aus und legte ihn flach auf den Esstisch, wobei ich darauf achtete, dass kein Wachs darauf tropfte. Ja, ich sah es: den unaufhaltsamen Vorstoß der Rue de Rennes nach Norden, die von der Gare Montparnasse direkt auf uns zuläuft, und den Boulevard Saint-Germain, ein gieriges Monster, das vom Fluss aus nach Westen kriecht. Mit zwei zitternden Fingern folgte ich ihrem Lauf, bis diese sich trafen. Genau in unserer Straße. Ja, mein Lieber, unserer Straße.

In der Küche ist es kalt. Ich muss hinuntergehen und ein weiteres Umschlagtuch holen. Und Handschuhe – aber nur für meine linke Hand, denn die rechte muss für Dich weiterschreiben. Du dachtest, die nahe Kirche würde uns retten, Liebster. Du und Père Levasque.

»Die Kirche werden sie niemals anrühren, auch die umliegenden Häuser nicht«, höhntest Du vor fünfzehn Jahren, als der Präfekt ernannt wurde. Selbst nachdem wir gehört hatten, was mit dem Haus meines Bruders Émile geschehen war, als der Boulevard de Sébastopol gebaut wurde, hattest Du noch keine Angst. »Wir sind in der Nähe der Kirche, das wird uns schützen.«

Ich setze mich oft in die Kirche und denke an Dich. Vor einem Jahrzehnt bist Du nun von uns gegangen. Für mich ist es wie ein Jahrhundert. In der Kirche ist es ruhig, friedvoll. Ich betrachte die alten Pfeiler, die rissigen Gemälde. Ich bete. Père Levasque kommt zu mir, und wir unterhalten uns in dem gedämpften Halbdunkel.

»Es braucht mehr als einen Präfekten oder einen Kaiser, um unserem Viertel etwas anzutun, Madame Rose! Die Kirche ist sicher, wir sind es also auch, unser Viertel kann sich glücklich schätzen«, flüstert er eindringlich. »Childebert, der Merowingerkönig und Stifter unserer Kirche, wacht über seine Gründung wie eine Mutter über ihr Kind.«

Gern erinnert mich Père Levasque daran, wie oft die Kirche im neunten Jahrhundert von den Normannen geplündert und niedergebrannt wurde. Ich glaube, dreimal. Wie sehr Du Dich doch geirrt hast, Liebster.

Die Kirche ist sicher, nicht aber unser Haus. Das Haus, das Du liebtest.