Mitten in der Nacht spürte ich jemanden neben mir und wäre fast ohnmächtig geworden. Einen panikerfüllten Moment lang dachte ich, es wäre der Eindringling und keiner würde mich je hören, wenn ich hier unten im Keller schrie. Ich fürchtete, meine letzte Stunde wäre gekommen. Ein paar quälende Momente lang suchte ich nach den Streichhölzern und versuchte die Kerze anzuzünden.

Mit zitternder Stimme rief ich: »Wer ist da?«

Ich spürte eine warme Hand. Zu meiner Erleichterung und meinem Erstaunen war es Alexandrine. Sie war mit dem Schlüssel, den sie noch hatte, ins Haus gekommen und im Dunkeln die Treppe zu mir heruntergeschlichen. Sie hatte also begriffen, dass ich mich hier versteckte. Ich bat sie eindringlich, mich nicht zu verraten. Sie sah mir im trüben Kerzenschein in die Augen, sie wirkte sehr erregt.

»Waren Sie die ganze Zeit hier, Madame Rose?«

Ich erklärte ihr ausführlich, dass mein Freund Gilbert, der Lumpensammler, mich unterstützte, dass er täglich für mich Essen, Wasser und Kohle besorgte, dass es mir bestens ging trotz der Eiseskälte, die in die Stadt eingezogen war. Sie nahm meine Hand und stammelte richtiggehend, als sie ausrief: »Aber Sie können nicht länger hierbleiben, Madame Rose! In den nächsten vierundzwanzig Stunden wird das Haus abgerissen! Es wäre Irrsinn, hierzubleiben, Sie werden …« Unsere Blicke trafen sich, diese haselnussbraunen Augen, aus denen die Klugheit strahlte, und ich hielt ihrem Blick ruhig und mit geradem Rücken stand. Sie schien tief in meinem Inneren eine Antwort zu suchen, und ich gab ihr diese Antwort stumm. Sie brach in Tränen aus. Ich nahm sie in den Arm, und so saßen wir lange da, bis ihr Schluchzen ein wenig nachließ. Als sie sich wieder gefasst hatte, flüsterte sie nur: »Warum?«

Ich verlor mich im Ausmaß ihrer Frage. Wie sollte ich ihr das nur erklären? Wo sollte ich beginnen? Die kalte, schneidende Stille umfing uns. Mir war, als hätte ich schon immer hier unten gelebt, als würde ich nie mehr das Tageslicht sehen. Wie spät war es? Es spielte keine Rolle. Die Nacht schien stillzustehen. Der Modergeruch des Kellers hatte sich mittlerweile in Alexandrines Haar und Kleider gestohlen.

Für mich war sie wie eine Tochter, während ich sie an mich drückte – als wären wir vom selben Fleisch, vom selben Blut. Wir wärmten uns gegenseitig, und ich denke, uns verband eine Art Liebe, ein mächtiges Band der Zuneigung war zwischen uns gesponnen, und in jenem Moment fühlte ich mich ihr näher, als ich mich jedem anderen Menschen in meinem Leben je gefühlt hatte, selbst Dir. Ich hatte das Gefühl, ich könnte ihr alles sagen, was auf mir lastete, hatte das Gefühl, sie würde es verstehen. Ich holte tief Luft und begann zu erzählen, dass dieses Haus mein Leben bedeute, dass jeder Raum eine Geschichte erzähle, meine Geschichte, Deine Geschichte. Nach Deinem Tod war es mir nie gelungen, Deine Abwesenheit auf irgendeine Weise auszugleichen. Deine Krankheit hat meine Liebe zu Dir nicht geschwächt, sondern im Gegenteil gestärkt.

In seiner inneren Struktur, in seiner malerischen Schönheit barg das Haus die Geschichte unserer Liebe. Es war auf immer und ewig meine Verbindung zu Dir. Würde ich das Haus verlieren, würde ich auch Dich noch einmal verlieren. Ich sagte Alexandrine, dass ich gedacht hatte, dieses Haus würde ewig leben, ewig stehen, ungeachtet der Zeit, der Kriege, der Ereignisse, so wie die Kirche heute noch immer steht. Ich hatte gedacht, dieses Haus würde nach Dir, nach mir weiterleben und eines Tages würden hier andere kleine Jungen lachend die Treppen hinunterrennen, andere schlanke, dunkelhaarige Mädchen sich aufs Sofa neben dem Kamin kuscheln, andere Herren in aller Ruhe am Fenster lesen. Ich hatte gedacht, das Haus würde Zeuge der Sorgen, Freuden und Tragödien anderer Familien werden. Wenn ich nach vorn blickte oder es zumindest versuchte, sah ich das Haus immer unverrückbar vor mir. Es schien unverändert. Ich hatte geglaubt, es würde Jahr für Jahr denselben Geruch wahren, dieselben Risse in der Wand, die knarrenden Stufen, die unebenen Bodenfliesen in der Küche, die einfallenden Sonnenstrahlen je nach Jahreszeit.

Ich habe mich geirrt. Das Haus war dem Abbruch geweiht. Und ich würde es nie verlassen. Alexandrine hörte ganz ruhig zu, sie unterbrach mich nicht ein einziges Mal. Ich verlor jedes Zeitgefühl, und meine Stimme ertönte im Halbdunkel wie eine Art Signal, das uns in die Morgendämmerung, in den Tag führte. Ich glaube, nach einer Weile schlief sie ein, ich auch.

Als ich die Augen wieder aufschlug, wusste ich, dass Gilbert hier war. Ich hörte, wie er sich oben zu schaffen machte, und Kaffeeduft drang zu uns herunter. Alexandrine regte sich murmelnd. Ich strich ihr zärtlich das Haar aus dem Gesicht. Sie sah so jung aus, wie sie hier in meinen Armen lag, ihre Haut wirkte frisch und rosig. Ich fragte mich, warum noch kein Mann ihr Herz erobert hatte und wie ihr Leben aussah, abgesehen von den Blumen, die für sie lebenswichtig waren. War sie einsam? Sie war wirklich ein geheimnisvolles Geschöpf. Als sie schließlich erwachte, merkte ich, dass sie nicht genau wusste, wo sie war. Sie konnte nicht glauben, dass sie hier unten neben mir geschlafen hatte. Ich brachte sie in die Küche hinauf, wo Gilbert Kaffee gekocht hatte. Sie sah ihn an und nickte. Als sie sich dann an unser nächtliches Gespräch erinnerte, wirkte sie ernüchtert. Sie nahm meine Hand und hielt sie ganz fest, mit flehentlicher, banger Miene. Aber ich blieb hart. Ich schüttelte den Kopf.

Mit einem Mal wurde ihr Gesicht tiefrot, sie packte mich an den Schultern und schüttelte mich heftig.

»Das können Sie nicht tun! Das können Sie nicht tun, Madame Rose!«

Sie schrie so, dass ihre Stimme sich überschlug, Tränen liefen ihr über die Wangen. Ich versuchte sie zu beruhigen, aber sie wollte nichts hören, ihr Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Sie hatte regelrecht einen hysterischen Anfall. Gilbert sprang auf, verschüttete dabei Kaffee und riss sie von mir weg.

»Was ist mit den Menschen, die sich um Sie sorgen, die Sie brauchen?«, zischte sie keuchend und versuchte sich tretend und boxend von Gilbert loszumachen. »Was soll ich denn ohne Sie tun, Madame Rose? Wie können Sie mich einfach so verlassen? Merken Sie denn nicht, wie egoistisch Sie sind? Ich brauche Sie, Madame Rose. Ich brauche Sie, wie die Blumen den Regen brauchen. Sie sind mir so wichtig. Spüren Sie das denn nicht?«

Ihre Sorge berührte mich tief. Noch nie hatte ich sie in einem solchen Zustand erlebt. Zehn Jahre lang hatte ich Alexandrine als eine aufgeräumte, herrische Person gekannt. Sie wusste sich Respekt zu verschaffen. Niemand konnte sie hintergehen. Und nun saß sie weinend hier, am Boden zerstört vor Trauer, und streckte die Hände nach mir aus. Wie ich das tun könne, fragte sie wieder, wie ich so grausam sein könne, so herzlos. Ob ich nicht begriffen hätte, dass ich wie eine Mutter für sie war, ihre beste Freundin, ihre einzige Freundin.

Ich hörte zu. Ich hörte zu und weinte auch, still, ich wagte nicht länger, sie anzusehen. Unkontrolliert rannen mir die Tränen herunter.

»Sie könnten zu mir ziehen«, sagte sie leise, erschöpft, ihre Stimme war nur noch ein Krächzen. »Ich würde mich um Sie kümmern, würde Sie beschützen, Sie wissen, dass ich das für Sie tun würde, Madame Rose. Ich würde Sie nie allein lassen, Sie würden nie wieder allein sein.«

Gilberts tiefe dröhnende Stimme erschreckte uns beide.

»Das reicht jetzt, Mademoiselle«, vermeldete er. Alexandrine sah ihn an, er sah sie an und strich sich belustigt über seinen schwarzen Bart. »Ich kümmere mich um Madame Rose. Sie ist nicht allein.«

Verächtlich warf Alexandrine den Kopf zurück. Ich war froh zu sehen, dass wieder etwas Leben in sie zurückgekehrt war.

»Sie?«, höhnte sie.

»Ja, ich«, versetzte er ziemlich würdevoll und streckte sich zu seiner vollen Größe aus.

»Aber dann sind Sie doch bestimmt mit mir einer Meinung, Monsieur, dass Madame Roses Plan, bis zum Ende hier im Haus zu bleiben, der pure Wahnsinn ist!«

Er zuckte mit den Schultern, wie immer.

»Das ist Madame Roses Entscheidung. Das muss sie ganz allein wissen.«

»Wenn Sie so denken, Monsieur, dann hegen wir wohl kaum dieselben Gefühle für Madame Rose.«

Er packte sie am Arm und baute sich bedrohlich vor ihr auf.

»Was wissen Sie schon von Gefühlen«, fauchte er, »Sie, die Sie immer in einem sauberen Bett geschlafen und nie Hunger gelitten haben? Das sittsame Fräulein mit der feinen Nase in duftenden Blütenblättern! Was wissen Sie schon von Liebe, von Kummer und Leid? Was wissen Sie von Leben und Tod? Ich höre.«

»Lassen Sie mich bloß in Ruhe«, maulte sie und stieß ihn weg. Sie ging zur anderen Seite der kahlen Küche und drehte uns den Rücken zu.

Dann gab es ein langgezogenes Schweigen. Ich beobachtete die beiden seltsamen Wesen, die in den letzten Jahren so einen bedeutenden Raum in meinem Leben eingenommen hatten. Ich wusste nichts von ihrer Vergangenheit, kannte ihre Geheimnisse nicht, und dennoch schienen mir beide merkwürdig ähnlich zu sein in ihrem Einzelgängerdasein, in ihrer Lebenseinstellung, ihrem äußeren Erscheinungsbild. Groß, dünn, schwarz gekleidet, blasses Gesicht, krauses dunkles Haar. Dasselbe Leuchten in ihren hellen Augen. Dieselben verborgenen Wunden. Woher hatte Gilbert sein lahmes Bein? Wo wurde er geboren, wer war seine Familie, wie lautete seine Geschichte? Und warum war Alexandrine immer allein? Warum sprach sie nie über sich selbst? Ich würde es wohl nie erfahren.

Ich streckte jedem eine Hand hin. Ihre Hände lagen kalt und trocken in meinen.

»Bitte streitet euch nicht meinetwegen«, sagte ich ganz ruhig. »Ihr beide bedeutet mir so viel in diesen letzten Stunden.«

Wortlos nickten sie, sahen mich dabei aber nicht an.

Der Tag war nun angebrochen, klar, fahlhell und klirrend kalt. Zu meiner Überraschung reichte mir Gilbert den Wintermantel und die Pelzmütze, die ich in jener Nacht getragen hatte, als er mich auf einen Streifzug durchs Viertel mitgenommen hatte.

»Ziehen Sie das an, Madame Rose. Und holen auch Sie Ihren Mantel, Mademoiselle. Packen Sie sich warm ein.«

»Wohin gehen wir?«, fragte ich verwundert.

»Nicht weit. Nur für etwa eine Stunde. Wir müssen uns beeilen. Vertrauen Sie mir. Es wird Ihnen gefallen. Und Ihnen auch, Mademoiselle.«

Widerstandslos tat Alexandrine, was er ihr sagte. Ich glaube, sie war zu müde und zu aufgebracht, um einen neuen Streit anzufangen.

Draußen strahlte die Sonne wie ein eigenartiges Juwel, niedrig und fast weiß hing sie am Himmel. Die Kälte war so durchdringend, dass ich spürte, wie sie mir bei jedem Atemzug in die Lungen schnitt. Ich konnte es nicht noch einmal ertragen, die teilweise zerstörte Rue Childebert anzusehen, also hielt ich den Blick gesenkt. Gilbert eilte uns in die Rue Bonaparte voraus, er humpelte stark. Die Straße war verlassen. Ich sah keine einzige Menschenseele, nicht einmal eine Droschke. Das fahle Licht und die kalte Luft schienen alles Leben erstickt zu haben. Wohin brachte er uns? Wir hasteten weiter, ich hatte mich bei Alexandrine untergehakt. Sie zitterte am ganzen Leib.

Wir kamen zum Flussufer. Dort erwartete uns ein ganz ungewöhnlicher Anblick. Erinnerst Du Dich an den bitterkalten Winter, bevor Violette geboren wurde? Damals haben wir an dieser Stelle gestanden, zwischen dem Pont des Arts und dem Pont Neuf, und hatten zugesehen, wie riesige Eisschollen vorbeitrieben. Nun aber war die Kälte so streng, dass der ganze Fluss zugefroren war. Gilbert führte uns an die Kais, wo ein paar Kähne reglos im Eis feststeckten. Ich zögerte, wollte zurückgehen, aber Gilbert drängte mich, ihm zu vertrauen, und das tat ich.

Der Fluss war von einer dicken, unebenen grauen Eisschicht bedeckt. So weit ich mit einem Blick hinüber auf die Île de la Cité sehen konnte, gingen Leute auf dem Eis spazieren. Ein Hund rannte ausgelassen hin und her, er hüpfte und bellte, manchmal glitt er aus. Gilbert mahnte mich, sehr vorsichtig zu sein. Alexandrine lief jauchzend voraus, begeistert wie ein Kind. Wir hatten die Mitte des Flusses erreicht. Ich sah braunes Wasser unter dem Eis vorbeirauschen. Von Zeit zu Zeit hörte man ein lautes Knirschen. Das machte mir Angst. Wieder sagte Gilbert, ich müsse keine Angst haben. Es sei so kalt, dass das Eis mindestens einen Meter dick sei.

Wie sehr ich mich in jenem Augenblick nach Dir sehnte, Armand. Du wärst sprachlos gewesen bei diesem Anblick. Als wäre man in einer anderen Welt! Ich sah, wie Alexandrine mit dem kleinen schwarzen Hund umhertollte. Langsam stieg die Sonne höher, blass wie nie, und immer mehr Leute kamen die Böschung herunter. Die Zeit schien stillzustehen wie die gefrorene Wasserschicht unter meinen Füßen. Lautes Stimmengewirr und Gelächter. Der frische, eisige Wind. Die Schreie der Möwen in der Luft.

Als ich dort stand und Gilbert tröstend seinen Arm um mich legte, wusste ich, dass meine Zeit gekommen war. Ich wusste, dass das Ende nah war und es an mir lag: Ich konnte noch immer weichen, konnte noch immer das Haus verlassen. Aber ich hatte keine Angst. Gilbert sah mich an, während ich still neben ihm stand, und ich spürte, dass er genau wusste, was ich dachte.

Ich erinnerte mich an das letzte Essen, das Monsieur Helder in seinem Restaurant gegeben hatte. Alle Nachbarn waren da, ja, alle waren wir gekommen: Monsieur und Madame Barou, Alexandrine, Monsieur Zamaretti, Doktor Nonant, Monsieur Jubert, Madame Godfin, Mademoiselle Vazembert, Madame Paccard, Monsieur Horace, Monsieur Bougrelle, Monsieur Monthier. Wir saßen an den langen schmalen Tischen, die Dir so gefielen, unter der Hutablage aus Messing vor der rauchvergilbten Wand. Die Fenster mit den Spitzengardinen gingen auf die Rue Childebert und ein Stück der Rue d’Erfurth. Wir hatten hier oft zu Mittag und zu Abend gegessen. Du hattest eine Schwäche für das Salé aux lentilles, Pökelfleisch auf Linsen, und ich ließ mir gern die Bavette schmecken, einen Rinderbraten. Ich saß zwischen Madame Barou und Alexandrine und konnte es einfach nicht fassen, dass in ein paar Wochen oder Monaten all das verschwunden sein würde, ausradiert, ausgelöscht. Wir aßen schweigend. Keiner sprach viel. Sogar Monsieur Horaces Witze liefen ins Leere. Beim Dessert sah Monsieur Helder Gilbert die Straße hinunterhinken. Er wusste, dass wir Freunde waren. Er öffnete die Tür und lud Gilbert mit seiner rauen Stimme ein. Niemand schien sich an dem abgerissenen Lumpensammler in unserer Mitte zu stören. Gilbert nahm Platz, nickte allen respektvoll zu und verzehrte seine Meringue mit einer gewissen Anmut, wie ich fand. Unsere Blicke kreuzten sich, er zwinkerte fröhlich. Ah, er hat in jungen Jahren bestimmt einmal gut ausgesehen! Beim Kaffee nach dem Essen hielt Monsieur Helder umständlich eine Rede. Er wollte uns allen danken, dass wir seine Gäste gewesen waren, er zöge nun in die Corrèze, wo er bei Brive-la-Gaillard mit seiner Frau, deren Eltern dort lebten, ein Restaurant eröffnen wollte. Sie wollten nicht länger in einer Stadt leben, die so umfassend modernisiert wurde und, wie sie fanden und fürchteten, dabei ihre Seele verlor. Paris sei nicht mehr, was es einmal war, klagte er, und solange er noch Kraft hätte, würde er diese Kraft anderswo einsetzen und noch einmal von vorn anfangen.

Am Tag nach diesem letzten, tränenreichen Essen im Chez Paulette ging ich zufällig neben Gilbert durch die Straße. Seine Anwesenheit war tröstlich. Alle Nachbarn hatten angefangen, ihre Sachen zu packen und wegzuziehen. Droschken und Karren parkten vor den Häusern. Die Umzugspacker würden Anfang der folgenden Woche meine Möbel abholen. Gilbert fragte mich, wohin ich gehen wollte. Bis dahin war meine Antwort auf diese Frage ständig dieselbe gewesen: zu meiner Tochter Violette nach Tours. Aber irgendwie spürte ich, dass ich gegenüber diesem merkwürdigen Fremden ich selbst sein konnte. Ich musste nicht lügen.

Also, Liebster, sagte ich eines Tages zu Gilbert: »Ich gehe nicht weg. Ich werde mein Haus nie verlassen.« Er schien ganz genau zu verstehen, was das bedeutete. Er nickte. Er stellte keine Fragen. Ein paar Minuten später sagte er lediglich:

»Ich bin für Sie da, Madame Rose, ich helfe Ihnen, so gut ich kann.«

Ich sah ihn forschend an.

»Und warum, bitte, wollen Sie das tun?«

Er überlegte lange und strich mit seinen schmutzigen Fingern über seinen langen, zerzausten Bart.

»Sie sind ein einzigartiger, wertvoller Mensch, Madame Rose. In den letzten Jahren haben Sie mir immer ausgeholfen. Das Leben hat es nicht gut mit mir gemeint. Ich habe meine Familie verloren, meinen Besitz, mein Haus und auch die meiste Hoffnung. Aber wenn ich mit Ihnen zusammen bin, habe ich das Gefühl, dass es doch noch ein bisschen Hoffnung gibt. Einen kleinen Hoffnungsschimmer. Selbst in dieser modernen, anstrengenden Welt, die ich nicht verstehe.«

Das war zweifellos die längste Rede, die er je in meinem Beisein gehalten hatte. Ich war gerührt, wie Du Dir vorstellen kannst, und suchte krampfhaft nach den passenden Worten. Sie kamen nicht. Also strich ich nur über seinen Jackenärmel. Er nickte lächelnd. Aus seinen Augen sprach Trauer, vermischt mit Freude. Ich wollte ihn nach seiner Familie fragen, nach denen, die er verloren hatte. Aber zwischen ihm und mir gab es unterschwelliges Einvernehmen und gegenseitige Achtung. Wir mussten einander keine Fragen stellen. Wir brauchten keine Antworten.

Ich wusste, dass ich in ihm den einen und einzigen Menschen gefunden hatte, der nie über mich urteilen würde. Denjenigen, der mich nicht aufhalten würde.