Kaum Schmerzen heute Morgen. Erstaunlich, wie robust mein Körper ist. In meinem Alter! Liegt es daran, dass ich denke, ich sei noch jung im Herzen? Dass ich keine Angst habe? Weil ich weiß, dass Du auf mich wartest? Draußen scheint eine fahle Sonne. Es ist noch kälter geworden. Schnee liegt nicht. Durchs Küchenfenster kann ich nur die Sonne und den blauen Himmel sehen. Unsere Stadt, oder eher die Stadt des Kaisers und des Präfekten, sieht wunderschön aus in der Wintersonne. Ach, wie froh bin ich, dass ich diese Boulevards nun nicht mehr sehen muss! Was schrieben die Brüder Goncourt darüber? Ich habe es neulich gelesen: »Die neuen Boulevards – so lang, so breit, so schnurgerade und so öde wie endlose Straßen.« Was habe ich gelacht!

An einem Sommerabend nötigte Alexandrine mich zu einem Spaziergang auf dem neuen Boulevard hinter der Madeleine-Kirche. Es war ein heißer, stickiger Tag, und ich sehnte mich nach der kühlen Stille meines Salons, aber sie wollte davon nichts hören. Ich musste also ein schönes Kleid anziehen (das rubinrot-schwarze), meinen Haarknoten richten und in diese kleinen Stiefeletten schlüpfen, die Dir so gefielen. Kurz und gut, eine so elegante ältere Dame wie ich musste einfach ausgehen und die Welt sehen, anstatt mit ihrem Kräutertee und der Mohairdecke auf den Knien zu Hause zu sitzen! Schließlich lebte ich in einer schönen Stadt! Würde es mir nicht besser gefallen, heute Abend mit ihr auszugehen, als allein zu Hause zu sein? Ich ließ sie mich liebevoll drangsalieren.

Wir nahmen einen überfüllten Omnibus. Unzählige Menschen waren auf diesen neuen Prachtstraßen unterwegs. Hatte Paris denn so viele Einwohner? Wir konnten uns kaum einen Weg bahnen auf diesen brandneuen, von Rosskastanien gesäumten Gehsteigen. Und erst dieser Lärm, Armand! Das ständige Rattern von Rädern, Hufgeklapper, Stimmengewirr und Gelächter. Zeitungsverkäufer riefen die Schlagzeilen aus. Blumenmädchen boten Veilchen feil. Grelle Ladenbeleuchtungen, die grellen neuen Gaslampen, es war taghell. Stell Dir einen nicht enden wollenden Strom von Kutschen und Passanten vor. Alle schienen umherzustolzieren, ihre schönen Kleider, ihren Schmuck zu zeigen, einen raffinierten Hut, einen üppigen Busen, ausladende Hüften. Rote Lippen, Lockenfrisuren, funkelnde Edelsteine. Läden boten in einer Schwindel erregenden Fülle an Formen, Farben und Stoffen ihre Waren feil. Draußen vor hell erleuchteten Cafés saßen Reihe um Reihe ganze Menschentrauben an kleinen Tischen, Kellner eilten geschwind mit hoch erhobenen Tabletts hin und her.

Alexandrine kämpfte beherzt um einen Tisch (ich hätte das nie gewagt), und schließlich saßen wir direkt vor einer Gruppe lautstarker Männer, die Bier in sich hineinschütteten. Wir bestellten Pflaumenlikör. Rechts von uns posierten zwei stark geschminkte Damen, ich starrte auf ihre weiten Ausschnitte und ihr gefärbtes Haar. Alexandrine warf mir unauffällig einen Blick zu und rollte mit den Augen. Wir wussten, was diese Damen darstellten und worauf sie aus waren. Und schon bald wankte ein Mann vom Nebentisch zu ihnen hinüber, beugte sich zu ihnen hinunter und flüsterte ihnen etwas zu. Kurz darauf torkelte er, eine Dame an jedem Arm, unter den Hochrufen und Pfiffen seiner Kumpane davon. »Empörend«, zischte Alexandrine. Ich nickte und nippte an meinem Likör.

Je länger ich dort saß und als ohnmächtige Zuschauerin diesen Strom von Vulgarität mitansehen musste, desto wütender wurde ich. Ich betrachtete die massigen hellen Gebäude an dem monotonen, kerzengeraden Boulevard. In diesen luxuriösen Wohnungen, die für wohlhabende Bürger gebaut worden waren, brannte kein einziges Licht. Der Präfekt und der Kaiser hatten nach ihren eigenen Vorstellungen bloße Kulissen errichtet. Sie hatten kein Herz und keine Seele.

»Ist das nicht großartig?«, sagte Alexandrine mit großen Augen. Ich sah sie an und brachte es nicht über mich, mein Missfallen zu äußern. Sie war jung und enthusiastisch und wie all diese Leute um uns herum, die den Sommerabend genossen, liebte sie das neue Paris. Sie sog sich voll mit dieser Grellheit, diesem Gepränge, dieser Oberflächlichkeit.

Ach, was war nur aus meiner mittelalterlichen Stadt geworden, aus ihrem wunderlichen Charme, ihren gewundenen dunklen Gassen? Mir schien an jenem Abend, Paris hätte sich in eine rotgesichtige, überreife Dirne verwandelt, die ihre Unterröcke zur Schau stellt.