Unser Junge war noch ganz klein, er konnte noch nicht laufen. Mit seinem Kindermädchen (ein süßes, sanftes Persönchen, ich erinnere mich jedoch nicht mehr an seinen Namen) waren wir im Jardin du Luxembourg beim Medici-Brunnen. Es war ein schöner, windiger Frühlingstag, der Park war voller Kinder, Mütter, Vögel und Blumen. Du warst nicht dabei, das weiß ich sicher. Ich trug einen hübschen Hut, dessen blaues Band immer wieder aufging und in der frischen Brise hinter mir herflatterte. Ach, wie hat Baptiste gelacht!

Als der Wind mir dann den Hut ganz vom Kopf fegte, frohlockte er richtiggehend, ein breites Lächeln umspielte seine Lippen. Und dann, ganz flüchtig, sah ich etwas in seinem Gesicht … Sein Mund war zu einem breiten Grinsen verzogen, das ich schon einmal gesehen hatte und das ich nicht aus meinem Gedächtnis löschen konnte. Ein scheußliches Grinsen. Dieser schreckliche Anblick versetzte mir einen Stich wie ein Dolch. Ich fuhr mit der Hand an meine Brust und unterdrückte einen Schrei. Besorgt fragte das junge Mädchen, ob alles in Ordnung sei. Ich beruhigte mich wieder. Mein Hut war fortgeflogen und hüpfte über den staubigen Weg wie ein Tier. Baptiste deutete wimmernd darauf. Ich fand meine Fassung wieder und eilte hin, um ihn zu holen. Doch mein Herz pochte wie wild.

Dieses Lächeln. Dieses Grinsen. Mir kam an Ort und Stelle das Mittagessen wieder hoch, ich erbrach mich. Ich weiß nicht mehr, wie ich es nach Hause schaffte. Das Mädchen half mir. Ich erinnere mich, dass ich umgehend in unser Schlafzimmer lief und den restlichen Tag bei zugezogenen Vorhängen im Bett verbrachte.

Lange Zeit fühlte ich mich gefangen in einer Zelle ohne Fenster und Türen. Ich fand keinen Weg hinaus. Der Raum war dunkel und erdrückend. Stundenlang suchte ich die Tür, ich war überzeugt, sie sei irgendwo im Tapetenmuster verborgen, ich strich mit Handflächen und Fingern über die Wände und suchte verzweifelt nach dem Spalt. Das war kein Traum. Das war mein Geisteszustand, das stand mir immer im Sinn, während ich meinen täglichen Verrichtungen nachging, während ich mich um die Kinder kümmerte, den Haushalt, um Dich. Wieder und wieder drückte mir die Zelle ohne Ausgang auf die Seele. Manchmal musste ich mich in der kleinen Kammer neben unserem Schlafzimmer verkriechen, damit ich wieder normal atmen konnte.

Ich vermied es immer, im Salon auf genau die Stelle zu treten, wo es passiert war, nicht weit von dem Sessel entfernt, in dem Maman Odette ihren letzten Atemzug getan hatte. Nach und nach gelang es mir, die Erinnerung an das, was sich in diesem Raum abgespielt hatte, auszulöschen. Es dauerte Monate, es dauerte Jahre. Meine abgöttische Liebe zu meinem Sohn und meine tiefe Liebe zu Dir triumphierten am Ende über die schiere Ungeheuerlichkeit der Wahrheit. Ich habe es Dir nie erzählt. Ich konnte einfach nicht. Während ich täglich über diese Stelle auf dem Teppich hinwegstieg, stieg ich über die Erinnerung hinweg. Ich blendete sie aus, ich wischte sie weg wie einen Fleck. Wie schaffte ich das? Wie hielt ich das aus? Ich tat es einfach. Ich riss mich zusammen wie ein Soldat vor der Schlacht. Die Jahre vergingen. Das Grauen verblich. Der Teppich, auf dem es geschehen war, verblich auch, bis man ihn eines Tages durch einen neuen ersetzte.

Sogar heute noch, Liebster, kann ich die Worte nicht niederschreiben, kann die Sätze nicht formulieren, die die Wahrheit darlegen. Ich kann nicht. Doch die Schuldgefühle belasteten mich ständig und immer. Und, weißt Du, als Baptiste starb, da war ich sicher, Gott wollte mich für meine Sünden bestrafen.

Nach dem Tod unseres Sohnes versuchte ich mich Violette zuzuwenden. Sie war nun mein einziges Kind. Aber sie ließ meine Liebe nicht zu. Sie blieb unnahbar, distanziert und war ein wenig herablassend, so als wäre ich für sie minderwertiger als Du. Jetzt, mit der Distanz, die das Alter einem schenkt, verstehe ich, dass sie vielleicht darunter litt, dass ich ihren Bruder vorgezogen hatte. Ich sehe jetzt ein, dass es als Mutter mein größter Fehler war, Baptiste mehr zu lieben als Violette, und dies auch zu zeigen. Wie ungerecht ihr das vorgekommen sein muss. Immer gab ich ihm den glänzendsten Apfel, die süßeste Birne. Er musste im Schatten sitzen, im weichsten Bett liegen, im Theater den besten Platz bekommen, bei Regen einen Schirm haben. Hat er das je ausgenutzt? Hat er auf seine Schwester herabgesehen? Vielleicht unwissentlich. Vielleicht fühlte sie sich seinetwegen noch weniger geliebt.

Ich versuche mir in aller Ruhe über all das klar zu werden. Meine Liebe zu Baptiste war die stärkste Kraft in meinem Leben. Warst Du überzeugt, ich könnte nur ihn lieben? Fühltest auch Du Dich vernachlässigt? Ich erinnere mich, dass Du einmal eine Bemerkung darüber verloren hast, wie vernarrt ich in den Jungen sei. Das war ich. O ja, Liebster, das war ich. Und als die fürchterliche Wahrheit ans Licht kam, liebte ich ihn umso mehr. Ich hätte ihn hassen, ihn zurückstoßen können, aber nein, meine Liebe glühte umso heißer, als hätte ich ihn um jeden Preis vor seinen schrecklichen Wurzeln schützen müssen.

Erinnerst Du Dich, dass ich nach seinem Tod nichts von seinen Sachen wegwerfen konnte? Viele Jahre lang war sein Zimmer eine Art Schrein, ein Tempel für meinen geliebten Sohn. Dort saß ich wie in Trance und weinte. Du warst rücksichtsvoll und liebevoll, aber Du hast es nicht verstanden. Wie konntest Du auch? Violette, die mittlerweile ein junges Mädchen war, verachtete meine Trauer. Ja, ich hatte das Gefühl, bestraft worden zu sein. Mein Goldprinz war mir genommen worden, weil ich gesündigt hatte, weil ich nicht in der Lage gewesen war, den tätlichen Angriff zu verhindern. Weil alles meine Schuld war. Und jetzt, Armand, während ich die Männer des Abbruchtrupps durch die Straße kommen höre, ihre lauten Stimmen, ihr derbes Lachen, ihre Kampfeslust, die sich an ihrer horrenden Aufgabe entzündet, jetzt ist mir, als würde ich erneut überfallen. Doch dieses Mal ist es nicht Monsieur Vincent, der mich mit der Waffe seiner Männlichkeit nötigt, mich seinem Willen zu beugen, nein, es ist eine Riesenschlange aus Stein und Zement, die das Haus dem Erdboden gleichmachen und mich ins Nichts katapultieren wird. Und hinter dieser grässlichen Steinschlange steht der Mann, der das Sagen hat. Mein Feind. Dieser Bärtige, dieser Haussmann. Er.