Beim Gedanken an den Salon kann ich bestimmte Bilder nicht aus dem Gedächtnis bannen. Es gibt natürlich glückliche Bilder. Wie ich als Deine Braut die Treppe heraufkomme, der Spitzenschleier weich auf meinem Gesicht und Hals, Deine Hand warm an meinem Kreuz. Das Gemurmel der Gäste. Doch ich hatte nur Augen für Dich, mein Gatte. Im kühlen Halbdunkel der Kirche hatte ich mein Gelübde geflüstert, ich war sogar zu schüchtern, um den Blick zu Deinem Gesicht zu heben. Die Leute hinter uns machten mich verlegen, meine Mutter und ihre extravaganten Freunde, ihr grelles Kleid, ihr verwegener Hut.

Ich sehe mich selbst als das junge Mädchen in Weiß, das, noch immer mit dem kleinen Strauß heller Rosen in der Hand und einem neuen Goldring, der ihm fest am Finger sitzt, vor dem Kamin steht. Eine verheiratete Frau. Madame Armand Bazelet. Mindestens fünfzig Leute hatten in diesem Raum Platz. Es gab Champagner und Häppchen. Doch es war, als wären wir beide allein. Von Zeit zu Zeit trafen sich unsere Blicke, und ich fühlte mich geborgen, geborgener denn je in meinem ganzen Leben, geborgen in Deiner Liebe, in Deinem Haus. Das Haus mochte ich von Anfang an, genauso wie Deine Mutter. Das Haus umarmte mich wie Deine Mutter. Es umfing mich. Ich liebte seinen ganz eigenen Geruch, eine Mischung aus Bienenwachs, frischer Wäsche und guter, einfacher Küche.

Doch es gibt nicht nur zärtliche, heitere Erinnerungen an dieses Haus. Leider. Manche Augenblicke sind im Moment zu schwierig, um sie noch einmal zu durchleben. Ja, ich bin kleinmütig, Armand. Der Mut kommt mir immer nur tröpfchenweise. Bitte hab Geduld. Lass uns mit Folgendem beginnen:

Bevor Violette geboren wurde, kamen wir einmal von einem Ausflug mit Maman Odette nach Versailles zurück; wir sahen, dass die Haustür aufgebrochen war. Wir rannten die Treppe hinauf und fanden alle unsere Sachen auf einem Haufen vor – Bücher, Kleider, einfach alles. Die Möbel waren umgekippt, die Küche war ein einziges Durcheinander. Schmutzige Fußspuren besudelten die Flure und Teppiche. Maman Odettes Goldarmband war weg, genauso wie mein Smaragdring und Deine Manschettenknöpfe aus Platin. Und Dein Geldversteck neben dem Kamin war ausgeraubt. Die Polizei kam. Ich glaube, ein paar Männer durchsuchten die Nachbarschaft, aber wir bekamen unsere Sachen nie wieder zurück. Ich erinnere mich, wie aufgebracht Du warst. Du ließt daraufhin ein weiteres, robusteres Schloss an der Tür anbringen.

Noch eine traurige Erinnerung: Wenn ich mir unseren Salon vorstelle, muss ich an Deine Mutter denken. An den Tag, als ich sie zum ersten Mal traf, aber auch an den Tag, als sie starb. Acht Jahre liegen zwischen diesen beiden Momenten, dem glücklichen und dem schrecklichen. Doch, weißt Du, nun, da ich dies über dreißig Jahre danach schreibe, sind diese Momente zeitlich sehr zusammengerückt.

Violette war damals fünf Jahre alt, ein kleiner Wildfang. Maman Odette war die Einzige, die sie zähmen konnte. In ihrem Beisein hatte sie nie Wutausbrüche. Ich frage mich, welchen Zauber ihre Großmutter auf sie ausübte. Vielleicht besaß sie ganz einfach die Autorität, die mir fehlte. Vielleicht war ich als Mutter zu weich. Zu nachgiebig. Dennoch fühlte ich mich Violette nicht mütterlich zugetan. Der Kleine war es, der mir später das Herz stahl. Ich fand mich mit Violettes Temperament ab, das sie von ihrem Großvater väterlicherseits geerbt hatte.

Du warst an jenem Tag unterwegs, Du trafst Dich mit dem Notar der Familie in der Nähe der Rue de Rivoli und wolltest erst zum Abendessen wieder zurück sein. Violette schmollte wie üblich, ihr Gesicht war zu einer abweisenden, finsteren Miene verzogen. Nichts konnte sie an jenem Morgen aufheitern, weder ihre neue Puppe noch ein leckeres Stück Schokolade. Maman Odette saß in ihrem grünen Sessel mit den Fransen und tat ihr Bestes, um ihrem einzigen Enkelkind ein Lächeln zu entlocken. Wie geduldig und standhaft sie war! Während ich mich über meine Näherei beugte, dachte ich, ich sollte mich in meinem Verhalten als Mutter an ihrer ruhigen, unnachgiebigen und dennoch liebevollen Art orientieren. Wie machte sie das? Vermutlich durch Erfahrung. Jahrelang hatte sie mit einem launenhaften Gatten zu tun gehabt.

Ich höre noch, wie mein silberner Fingerhut an die Nadel stieß, und höre Maman Odettes leises Summen, während sie meiner Tochter übers Haar strich, und das Knistern der Flammen im Kamin. Von draußen hörte man vereinzelt das Rumpeln einer Kutsche, tappende Schritte. Es war ein kalter Wintermorgen. Beim Spaziergang mit Violette nach ihrem Mittagsschlaf wären die Straßen eisglatt. Ich müsste sie fest an der Hand halten, und das hasste sie. Ich war siebenundzwanzig Jahre alt und hatte ein bequemes, beschauliches Leben. Du warst ein aufmerksamer, zärtlicher Mann, manchmal ein wenig geistesabwesend, und seltsamerweise schienst Du schneller zu altern als ich. Für Deine fünfunddreißig Jahre sahst Du älter aus. Deine Zerstreutheit störte mich nicht, ich fand sie sogar charmant. Manchmal vergaßt Du, wo Deine Schlüssel waren oder welchen Tag wir hatten, und Deine Mutter wies Dich immer wieder darauf hin, dass Du dieses oder jenes schon einmal gesagt oder diese oder jene Frage schon mal gestellt hättest.

Ich stopfte eine alte Socke und war ganz auf meine Arbeit konzentriert. Maman Odette hatte aufgehört zu summen. Die plötzliche Stille veranlasste mich, den Blick auf meine Tochter zu richten. Fasziniert starrte sie auf ihre Großmutter, drehte den Kopf hin und her, um sie besser sehen zu können. Ich sah nur Maman Odettes Rücken, der sich zu dem Kind hin beugte, ihre runden Schultern in dem grauen Samtkleid, ihre breiten Hüften. Violettes Augen waren vor Neugier ganz dunkel. Was erzählte ihr die Großmutter wohl gerade? Was machte sie für ein Gesicht, zog sie vielleicht eine lustige Grimasse? Ich lachte leise und legte die Socke weg.

Plötzlich stieß Maman Odette ein Röcheln aus, ein fürchterliches pfeifendes Geräusch, als wäre ihr tief im Hals ein Bissen stecken geblieben. Mit Schrecken sah ich, wie sie langsam zu Violette hinüberglitt, die sich nicht gerührt hatte – wie eine kleine versteinerte Statue. Ich stürzte zu Maman Odette, so schnell ich konnte, packte ihren Arm, und als sie mir ihr Gesicht zuwandte, wurde ich fast ohnmächtig vor Grauen. Es war nicht wiederzuerkennen – jegliche Farbe war daraus gewichen, ihre Augen waren zwei flackernde weiße Kugeln. Ihr Mund stand offen, von ihrer Unterlippe hing ein glitzernder Speichelfaden, wieder röchelte sie, noch ein Mal, und hob ihre schlaffen Hände hilflos zur Brust. Dann sackte sie zu meinen Füßen zusammen. Fassungslos stand ich da und konnte mich nicht rühren. Ich fuhr mir mit der Hand an die Brust und spürte, wie mein Herz klopfte.

Sie war tot. Das sah ich auf einen Blick – ihr regloser Körper, ihr kalkweißes Gesicht, dieser grässliche Blick. Violette rannte zu mir, versteckte sich in meinen Röcken, durch den dicken Stoff hindurch packte sie meine Hüften. Am liebsten hätte ich ihre sich festkrallenden Finger weggestoßen und um Hilfe gerufen, aber ich war unfähig, mich zu bewegen. Ich stand einfach nur da, vom Donner gerührt. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich wieder gefasst hatte. Ich eilte in die Küche und schreckte das Dienstmädchen auf. Violette jammerte mittlerweile vor Angst. Ein langgezogenes, hohes Heulen, das mir in den Ohren schmerzte. Ich flehte sie an, still zu sein.

Maman Odette war tot. Und Du warst nicht zu Hause. Das Hausmädchen kreischte auf, als sie die Leiche auf dem Teppich sah. Irgendwoher nahm ich ausreichend Kraft, um ihr zu befehlen, sich zusammenzureißen und Hilfe zu holen. Schluchzend verschwand sie. Ich blieb mit dem schreienden Kind zurück, ich konnte die Leiche nicht mehr ansehen. Beim Frühstück hatte Maman Odette noch ganz munter gewirkt. Sie hatte ihr Brötchen mit Appetit gegessen. Warum war dies geschehen? Wie war das möglich? Sie konnte nicht tot sein. Der Doktor würde kommen und sie wiederbeleben. Tränen rannen mir über die Wangen.

Schließlich kam der Arzt mit seiner schwarzen Tasche die Treppe heraufgepoltert. Schnaufend kniete er sich hin und legte Maman Odette zwei Finger an den Hals. Als er dann sein altes Ohr auf ihre Brust drückte, schnaufte er noch mehr. Ich wartete und betete. Aber er schüttelte seinen grauhaarigen Kopf. Und dann schloss er Maman Odette die Lider. Es war vorbei. Sie war tot.

Als mein Vater starb, war ich noch ein Kind gewesen und kann mich an nichts erinnern. Maman Odette war die Erste meiner Familie, die ich sterben sah. Ihr Tod war eine Katastrophe für mich. Wie sollte ich ohne ihr Lächeln zurechtkommen, ohne den Klang ihrer Stimme, ihre Schrullen, ihr weiches Lachen? Alles in unserem Haus erinnerte mich ständig an sie, wie um mich zu verhöhnen. Ihre Fächer, ihre Hauben. Die Sammlung kleiner Elfenbeintiere. Die Handschuhe mit ihren Initialen. Ihre Bibel, die immer in ihrem Retikül steckte. Die kleinen Lavendelsäckchen mit ihrem betörenden Duft, die sie hier und da zwischen die Dinge schob.

Der Salon wurde nach und nach schwarz vor Menschen. Der Priester, der uns getraut hatte, kam und bemühte sich vergeblich, mich zu trösten. Die Nachbarn liefen vor dem Haus zusammen. Madame Collévillé war in Tränen aufgelöst. Alle hatten Maman Odette gemocht.

»Es war ohne Zweifel ihr Herz«, sagte der alte Arzt zu mir, als man die tote Maman Odette in ihr Schlafzimmer trug. »Wo ist Ihr Mann?«

Alle fragten wieder und wieder, wo Du seist. Jemand bot sich an, Dir umgehend eine Nachricht zu schicken. Ich glaube, es war Madame Paccard vom Hotel Belfort. Ich wühlte in Deinem Studierzimmer und suchte die Adresse des Notars. Und als ich dann meiner Tochter über den Kopf strich, musste ich an den Überbringer der schlechten Nachricht denken, der nun auf dem Weg zu Dir war und Dir stetig näher kam. Du wusstest nichts. Du berietst Dich mit Maître Regnier über Hinterlassenschaften und Geldanlagen und hattest keine Ahnung. Ich zuckte zusammen, als ich mir Deinen Blick vorstellte, wenn man Dir den Zettel übergeben würde, wie Du erbleichen würdest, wenn Du die Worte begriffen hättest, wie Du Dich aufrappeln, Dir schnell den grauen Übermantel um die Schultern legen, den Hut schief aufsetzen und in all der Eile Deinen Gehstock vergessen würdest. Den Nachhauseweg über den Fluss in einer Kutsche, die im Schneckentempo dahinzukriechen schien, den dichten Verkehr, die glatten Straßen, das schreckliche Pochen Deines Herzens.

Dein Gesicht, als Du kamst. Das werde ich nie vergessen. Maman Odette war für Dich und für mich alles gewesen. Sie war unsere Säule der Kraft, unsere Quelle der Weisheit. Wir waren ihre Kinder. Sie hatte uns so zärtlich umsorgt. Wer würde nun für uns sorgen?

Der schreckliche Tag zog sich dahin, schwer von den Folgen des Todes und dessen Erfordernissen. Beileidsbezeugungen trudelten ein, Blumen, Kondolenzkarten, Flüstern, Murmeln, Trauerkleidung in entmutigendem Schwarz. Unsere Haustür war schwarz verhangen, Passanten bekreuzigten sich.

Ich hatte das Gefühl, das Haus schenkte mir Geborgenheit, hielt mich fest zwischen seinen Steinmauern wie ein robustes Schiff im Sturm. Das Haus behütete mich, tröstete mich. Du hattest alle Hände voll zu tun mit Schreibarbeiten und der Vorbereitung der Beisetzung auf dem Cimetière du Sud, wo auch Dein Vater und Deine Großeltern liegen. Die Messe sollte in der Saint-Germain-Kirche gelesen werden. Ich beobachtete Dich bei Deiner intensiven Arbeit. Violette war ungewöhnlich still, sie drückte die Puppe an ihre Brust. Leute rannten um uns herum in einem endlosen Tanz der Hilfsbereitschaft. Von Zeit zu Zeit tätschelte eine liebevolle Hand meinen Arm oder reichte mir ein Getränk.

Wieder sah ich Maman Odettes weißes Gesicht vor mir. Hörte das pfeifende Röcheln. Musste sie leiden? Hätte ich es verhindern können? Die Erinnerungen kamen zurück: unser täglicher Gang auf den Markt, dann über die Rue Beurrière zur Cour du Dragon, wo sie immer gern einen Blick in die Werkstätten warf und ein Schwätzchen mit dem Schmied hielt. In gemächlichem Schritt hakte sie sich bei mir unter, die Quaste ihrer Haube an meiner Schulter. Wenn wir die Rue Taranne erreicht hatten, blieb sie gern ein Weilchen stehen, atemlos und mit rosigen Wangen. Dann sah sie mich mit ihren braunen Augen, die den Deinen so ähnlich sind, strahlend an. »Was bist Du nur für ein hübsches Mädchen, Rose.« Meine Mutter hatte nie zu mir gesagt, dass ich hübsch war.