Neben mir steht ein Stapel Bücher. Ich hüte sie wie einen Schatz. Ja, Bücher. Ich höre Dich kichern! Lass mich berichten, wie es dazu kam.

Als ich einmal mit dem Kopf voller Düfte und in Gedanken an all die Farben und Blüten und an das Ballkleid der Baronne de Vresse aus dem Blumenladen kam, lud mich Monsieur Zamaretti ein, in seine Buchhandlung zu kommen, wann immer ich ein wenig Zeit hätte. (Ihm war natürlich aufgefallen, dass Alexandrines neue Ladenausstattung ihrem Geschäft zum Aufschwung verholfen hatte, und er hatte daraufhin beschlossen, auch seinen Laden neu zu gestalten. Ich war nie bei ihm unten gewesen – Du schon, denn Du hast ja immer gern gelesen. Monsieur Zamaretti hatte auch mitbekommen, dass ich in den letzten Jahren immer stundenlang bei Alexandrine saß. War er etwa ein wenig eifersüchtig auf unsere Freundschaft? Jedenfalls tauchte er an einem verregneten Junitag plötzlich im Blumenladen auf, Alexandrine und ihre Kunden unterhielten sich gerade über die Aufsehen erregende Hinrichtung des jungen Arztes Edmond-Désiré Couty de la Pommerais vor dem Zuchthaus in der Rue de la Roquette – ihm wurde zur Last gelegt, seine Geliebte vergiftet zu haben. Die Massen waren nur so zum Schafott geströmt und hatten zugesehen, wie der Mann guillotiniert wurde. Monsieur Zamaretti konnte mit blutrünstigen Details aufwarten, nachdem ein Freund von ihm die Enthauptung aus nächster Nähe gesehen hatte. Je lauter wir vor Schreck aufkreischten, desto besser schien ihm das Ganze zu gefallen.)

Ich nahm seine Einladung an und besuchte eines Nachmittags die Buchhandlung. Als Erstes fiel mir der intensive Geruch von Leder und Papier auf. Es war sehr angenehm. Monsieur Zamaretti hatte seinen Laden schön hergerichtet. Die Wände waren in einem sehr ansprechenden Hellblau gehalten, man konnte in bequemen Sesseln sitzen und bei hellem Licht lesen, so viel man wollte. Es gab eine hohe Ladentheke aus Holz, sie war voller Stifte, Notizbücher, Lupen, Briefe und Zeitungsausschnitte. Monsieur Zamarettis Laden war länglicher und dunkler als Alexandrines, es herrschte eine gelehrte, intellektuelle Atmosphäre. Es gab Regale voller Bücher in allen Formaten und Farben und eine lange Leiter, mit der man sie herunterholen konnte.

Alexandrines Laden war immer erfüllt von Plaudereien und Geräuschen, dem Rascheln des Papiers, mit dem sie die Blumen einschlug, dem Klingeln der Türglocke, Blaises häufigem Husten. Hier aber war es still. In einer Ecke stand ein Herr und las in aller Ruhe. Es war fast, als würde man eine Kirche betreten. Ich beglückwünschte Monsieur Zamaretti zu seiner geschmackvollen Einrichtung und wollte wieder gehen. Doch dann fragte er mich das Gleiche, was mich Alexandrine vor Monaten auch gefragt hatte – mit der Ausnahme, dass seine Frage sein Metier betraf und nicht Alexandrines.

»Lesen Sie gerne, Madame Rose?«

Ich war verdutzt. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Schließlich ist es peinlich, zugeben zu müssen, dass man nicht las. Man kommt sich vor wie ein Trottel. Ich nuschelte also ein paar Worte und starrte auf meine Schuhe.

»Vielleicht wollen Sie sich setzen und ein wenig lesen«, bot er mir mit seinem gewinnenden Lächeln an. (Wie Du Dich erinnern wirst, sieht er nicht besonders gut aus, aber seine haselnussbraunen Augen, seine weißen Zähne und seine ausgesuchte Kleidung sind eindeutig hervorzuheben. Du weißt ja, wie sehr ich auf Kleidung achte, und so kann ich Dir genau sagen, dass er an jenem Tag dunkelblaue Karohosen, eine dunkel- und hellrosa karierte Weste sowie einen pelzverbrämten Gehrock trug.) Er führte mich zu einem Sessel und schaltete die Leselampe an. Ich setzte mich widerstandslos hin.

»Ich kenne zwar Ihren Geschmack nicht, aber darf ich Ihnen für heute ein paar Bücher vorschlagen?«

Ich nickte. Er strahlte und kletterte flink eine Leiter hinauf. Da sah ich, dass er smaragdgrüne Socken trug. Mit einem Stapel Bücher unterm Arm, die er auf der Hüfte abstützte, kam er zurück.

»Ich habe hier ein paar Autoren, die Ihnen sicherlich zusagen werden. Paul de Kock, Balzac, Dumas, Erckmann-Chatrian …«

Er legte die ledergebundenen Bände mit Titeln in Goldprägelettern auf dem Tischchen vor mir ab. Der Barbier von Paris, Freund Fritz, Die schwarze Tulpe, Oberst Chabert. Ich warf einen kritischen Blick darauf und biss mir auf die Lippe.

»Ha!«, rief er plötzlich aus. »Ich habe eine Idee!«

Wieder erklomm er die Leiter, dieses Mal holte er nur ein Buch. Kaum war er wieder unten, reichte er es mir.

»Das wird Ihnen gefallen, Madame Rose.«

Ich nahm es sachte entgegen. Entmutigt sah ich, dass es ziemlich dick war.

»Wovon handelt es?«, fragte ich höflich.

»Von einer jungen Frau. Sie ist schön und gelangweilt. Sie ist mit einem Arzt verheiratet und erstickt in der Banalität des Lebens in der Provinz.«

Ich sah, dass der stille Leser auf der anderen Seite des Raums den Kopf hob, nickte und aufmerksam zuhörte.

»Und was geschieht mit dieser schönen, gelangweilten Frau?«, fragte ich mit plötzlich erwachter Neugier.

Monsieur Zamaretti sah mich an, als hätte er mit mir einen dicken Fisch an Land gezogen.

»Na, diese Frau ist eine begierige Leserin von Liebesromanen. Sie findet ihre Ehe eintönig und sehnt sich nach einer Romanze. Also lässt sie sich auf Affären ein, und die Tragödie nimmt unweigerlich ihren Lauf …«

»Ist das denn ein Roman für eine gesetzte ältere Dame wie mich?«, fiel ich ihm ins Wort.

In gespieltem Entsetzen riss er den Mund auf. (Du erinnerst Dich, wie gern er übertrieb …)

»Madame Rose! Wie könnte Ihr bescheidener und ehrfürchtiger Diener es je wagen, Ihnen ein Buch zu empfehlen, das nicht Ihrem gesellschaftlichen Status und Ihrer geistigen Kapazität entspräche? Ich habe dieses Buch nur ausgesucht, weil ich ganz zufällig weiß, dass Damen, die sonst nur selten lesen, es leidenschaftlich verschlingen.«

»Höchstwahrscheinlich hat der skandalträchtige Prozess sie dazu angeregt«, bemerkte der einsame Leser in seiner Ecke. Monsieur Zamaretti fuhr zusammen, als hätte er dessen Anwesenheit ganz vergessen. »Danach wollten die Leute dieses Buch umso mehr lesen.«

»Da haben Sie wirklich recht, Monsieur. Der Skandal trieb die Verkaufszahlen rasant in die Höhe, das muss man zugeben.«

»Was für ein Skandal? Was für ein Prozess?«, fragte ich und kam mir schon wieder dumm vor.

»Das war vor ein paar Jahren, Madame Rose, zu der Zeit, als Ihr Mann im Sterben lag. Der Autor wurde des Verstoßes gegen die guten Sitten und die Moral angeklagt. Die vollständige Veröffentlichung des Romans wurde zunächst untersagt, und er wurde nur zensiert abgedruckt. Das zog einen Prozess nach sich, der in der Presse ausführlich kommentiert wurde. Daraufhin wollten alle das Buch lesen, das so einen Skandal hervorgerufen hatte. Ich habe täglich Dutzende Exemplare verkauft.«

Ich betrachtete das Buch und blätterte das Vorsatzblatt um.

»Und was halten Sie selbst davon, Monsieur Zamaretti?«, fragte ich.

»Ich halte Gustave Flaubert für einen unserer allergrößten Schriftsteller und Madame Bovary für ein Meisterwerk.«

»Also bitte!«, ließ sich der Leser in der Ecke verächtlich vernehmen. »Das geht nun doch ein wenig zu weit.«

Monsieur Zamaretti ging nicht auf ihn ein.

»Lesen Sie einfach die ersten Seiten, Madame Rose. Wenn es Ihnen nicht gefällt, legen Sie das Buch einfach wieder weg.«

Wieder nickte ich, holte tief Luft und schlug die erste Seite auf. Ich tat das natürlich lediglich Monsieur Zamaretti zum Gefallen. Er war seit Deinem Tod so nett zu mir gewesen, er schenkte mir immer ein herzliches Lächeln und winkte mir zu, wenn ich an seinem Laden vorbeiging. Ich machte es mir in dem Ohrensessel bequem und nahm mir vor, zwanzig Minuten zu lesen. Dann würde ich mich bedanken und nach oben gehen.

Als Nächstes erinnere ich mich, dass Germaine Hände ringend vor mir stand. Ich wusste gar nicht mehr, wo ich war und was ich hier tat. Es war, als würde ich aus einer anderen Welt zurückkommen. Germaine starrte mich sprachlos an. Dann merkte ich plötzlich, dass ich noch immer unten in der Buchhandlung saß. Draußen war es schon ganz dunkel, und mein Magen knurrte.

»Wie spät ist es?«, fragte ich kleinlaut.

»Nun, Madame, es geht auf sieben Uhr zu. Mariette und ich haben uns die größten Sorgen gemacht. Das Abendessen ist fertig, das Huhn ist jedoch mittlerweile angebrannt. Im Blumenladen konnten wir Sie nicht finden, und Mademoiselle Walcker sagte, Sie seien längst gegangen.«

Aufmerksam besah sie sich das Buch in meinen Händen. Da wurde ich mir gewahr, dass ich über drei Stunden gelesen hatte. Monsieur Zamaretti half mir auf – mit einem triumphierenden Lächeln.

»Vielleicht wollen Sie ja morgen wiederkommen und Ihre Lektüre fortsetzen …«, säuselte er.

»Ja«, sagte ich ganz benommen. Dann ließ ich mich von einer gestrengen Germaine, die ständig nur mit der Zunge schnalzte und den Kopf schüttelte, die Treppe hinaufführen.

»Geht es Madame gut?«, fragte Mariette, die, umhüllt von dem Appetit anregenden Geruch gebratenen Huhns, hinter der Tür gewartet hatte.

»Madame geht es bestens«, blaffte Germaine sie an. »Madame hat gelesen und darüber alles andere vergessen.«

Das hätte Dich sicherlich zum Lachen gebracht, Liebster!