Ich spürte eine eisige Hand an meiner Brust und schrie in die Stille hinein. Natürlich war da keiner, keine eisige Hand. Wie sollte mich auch jemand hier unten in meinem Kellerversteck finden? Ich brauche eine Weile, um meinen Herzschlag zu beruhigen und wieder normal zu atmen. Noch immer kann ich das Knarren der Treppe hören, kann die große, fleckige Hand über den Handlauf gleiten sehen, das Innehalten vor meiner Tür spüren, bevor er hereinkommt. Werde ich denn je frei sein? Wird die Angst mich je verlassen? Das Haus beschützt mich nicht länger vor diesem Albtraum. Jemand ist in das Haus eingedrungen. Es ist nicht mehr sicher.

In mehrere dicke Wolltücher gehüllt, gehe ich mit der Kerze ins Kinderzimmer im obersten Stock. Ich war länger nicht mehr hier oben gewesen, auch nicht, als das Haus noch bewohnt war. Es ist ein länglicher, niedriger Raum mit Balken, und während ich in der Tür stehe, kann ich noch immer die vielen Spielsachen vor mir sehen. Kann unseren Sohn sehen, seine goldenen Locken, sein süßes Gesichtchen. Ich verbrachte Stunden in diesem Zimmer mit Baptiste, ich spielte mit ihm, sang ihm Lieder vor, alles, was ich mit meiner Tochter nie getan hatte, ganz einfach weil sie es nie zugelassen hatte.

Während ich meine Augen durch den nunmehr leeren Raum wandern lasse, erinnere ich mich an die glückliche Zeit mit dem Kleinen. Du hattest beschlossen, das Haus renovieren und verschiedene Schäden reparieren zu lassen: Löcher im Dach, Risse hier und da, der übliche Verschleiß. Jede Ecke, jeder Winkel wurde inspiziert. Unentwegt kamen Handwerker, das Haus wurde neu gestrichen, das Gebälk ausgebessert, die Böden abgeschliffen. Es war eine fröhliche, gutmütige Truppe, und wir lernten sie gut kennen. Monsieur Alphonse, der Vorarbeiter, hatte einen schwarzen Bart und eine laute Stimme, der rothaarige Ernest war sein Gehilfe. Wöchentlich kamen andere Handwerker für die unterschiedlichen Arbeiten. Montags hast Du immer die Fortschritte begutachtet und Dich mit dem Vorarbeiter besprochen. Es nahm viel Zeit in Anspruch, Du hast Dich intensiv darum gekümmert. Du wolltest, dass das Haus wieder wunderschön aussieht. Dein Vater und Dein Großvater hatten nicht viel richten lassen, nun nahmst Du es auf Dich, das Haus zu sanieren.

Trotz der Bauarbeiten kamen Freunde zu Besuch oder zum Abendessen. Ich erinnere mich, dass es mich viel Zeit kostete, die Menüs und die Tischordnung auszuarbeiten, zu entscheiden, welches Zimmer für Besucher hergerichtet werden musste. Ich nahm diese Aufgaben sehr ernst. Ich schrieb jedes Menü sorgfältig in ein dafür vorgesehenes Heft, so dass ich meinen Gästen nicht zweimal das Gleiche auftischte. Wie stolz war ich auf unser Haus, wie behaglich und hübsch es an Winterabenden aussah, wenn das Feuer im Kamin brannte und die Lampen ein warmes Licht spendeten! Glückliche Zeiten.

Während dieses gesegneten Jahrzehnts wuchs Violette zu einem stillen, selbstbezogenen jungen Mädchen heran. Sie war gut in der Schule, sie war ernsthaft, aber wir konnten nur wenig miteinander anfangen. Wir hatten nichts gemeinsam, so wie meine Mutter und ich. Ich glaube, sie sprach eher mit Dir, aber auch Dir war sie nicht nahe. Und für Baptiste interessierte sie sich kaum. Zwischen ihr und ihrem Bruder lagen neun Jahre Altersunterschied. Sie war wie der Mond – silbern, kalt und distanziert – und er war die strahlende Sonne, voller Glut, voller Feuer.

Baptiste war ein begnadetes Kind. Seine Geburt verlief kurz und schmerzlos – was mich erstaunte, denn ich hatte mich für die Marter gewappnet, die ich mit Violette durchstehen musste. Doch da war es schon, dieses prachtvolle Kind, gesund, rosig und energisch, und betrachtete die Welt bereits aus großen Augen. Wie sehr ich mir wünschte, Maman Odette hätte ihren Enkel noch erleben können, aber sie hatte uns schon vier Jahre zuvor verlassen. Ja, diese Dekade war golden, golden wie das Haar unseres Sohnes. Er war ein unkompliziertes, glückliches Kind. Nie beklagte er sich, und wenn, dann mit so einem Liebreiz, dass man dahinschmolz. Er baute gern kleine Häuser aus bunten Holzklötzen, die Du ihm zum Geburtstag geschenkt hattest. Stundenlang errichtete er sorgfältig ein Haus, Zimmer für Zimmer.

»Das ist dein Schlafzimmer, Maman«, sagte er dann stolz. »Da scheint die Sonne herein, so wie du es magst. Und Papas Studierzimmer ist gleich hier, mit einem großen Schreibtisch, wo er alle seine Papiere ablegen und seine wichtigen Arbeiten erledigen kann.«

Es fällt mir so schwer, dies niederzuschreiben, Armand. Ich habe Angst vor der Macht der Worte, sie können einen verletzen wie ein scharfes Messer. Das Kerzenlicht flackert an den kahlen Wänden. Ich habe Angst. Angst vor dem, was ich sagen muss. Bei der Beichte bei Père Levasque versuchte ich schon so oft, mein Gewissen zu erleichtern, aber es ging nicht. Ich habe es nie geschafft.

Irgendwie wusste ich immer, dass Gott mir meinen Sohn nehmen würde, dass meine Zeit mit ihm knapp bemessen wäre. Jeder Augenblick mit ihm war eine Freude. Eine Freude, überschattet von Angst. Im Februar fegte eine weitere Revolution durch unsere Stadt. Dieses Mal war ich nicht ans Bett gefesselt und bekam alles mit. Ich war vierzig und trotz meiner Jahre noch immer kräftig und stark. Die Unruhen brachen in den ärmeren Vierteln der Stadt aus, Barrikaden aus Eisengittern, umgekippten Wagen, Möbeln, Baumstämmen wurden in den Straßen aufgebaut. Du erklärtest mir, der König hätte es nicht geschafft, der Korruption in der Politik ein Ende zu bereiten, und eine beispiellose Wirtschaftskrise hätte uns heimgesucht. Das betraf mich nicht, mein Alltag als Ehefrau und Mutter hatte sich nicht verändert. Die Preise auf dem Markt waren zwar in die Höhe geschnellt, aber unsere Mahlzeiten waren noch immer üppig. Unser Leben war – in dem Moment – noch dasselbe.