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Fast genau ein Jahr später, an einem warmen Sommerabend im August, saßen sie im Garten ihres gemieteten Hauses, das sie vor wenigen Monaten bezogen hatten, gemeinsam mit all ihren Freunden, die extra zu dieser kleinen Party über das Wochenende angerückt waren. Auch Patrizia war gekommen, gemeinsam mit einer etwas schüchtern lächelnden, aber sehr sympathisch wirkenden jungen Frau, die Clarissa vom Typ her ein wenig ähnelte.

»Das ist Gabriele«, sagte sie. »Meine neue Freundin.« Um zu bekräftigen was dies bedeutete, legte sie ihren Arm um Gabrieles Hüfte. Sie sah Clarissa direkt in die Augen. Clarissa erwiderte ihren Blick und horchte tief in sich hinein. Nein, sie verspürte keinen Stich in der Magengegend, obwohl sie fast darauf wartete. Patrizia hatte jemanden gefunden, mit dem sie glücklich sein konnte. Gut so. Sie liebte Patrizia immer noch, aber sie liebte sie als der Mensch, der sie war und nicht so, wie sie es verdient hätte. Clarissa hoffte, dass sie mit ihrer Gabriele glücklich werden würde.

So wie sie selbst mit Daniel glücklich war. Vieles hatten sie erlebt und nicht mal das Drama, das sich im vergangenen Jahr in ihrer Familie abgespielt hatte, hatte etwas daran ändern können. Auch Damian war glücklich. Er saß mit seiner Freundin, mit der er noch immer zusammen war, in der hintersten Ecke des Gartens vor einem Brombeerstrauch und die beiden machten sich einen Spaß daraus, Brombeeren zu pflücken und sie sich gegenseitig in den Mund zu stecken.

Daniel stand am Grill, fröhlich lachend wendete er seine Würstchen und Steaks. Aber als er Patrizia sah, wischte er seine Hände ab und kam sofort auf sie zu. Bedankt hatte er sich schon vor langer Zeit. Aber als er Patrizia zu dieser Party eingeladen und ihr sogar ein Gästezimmer im Haus versprochen hatte, wusste sie in diesem Moment, dass er seinen Frieden mit ihr gemacht hatte und zwar einen ehrlichen Frieden. Ein Frieden, der es ihr ermöglichte, weiterhin mit Patrizia befreundet sein zu können, ganz ohne Missverständnisse.

»Schön, dass du gekommen bist«, sagte er zu Patrizia.

»Ich freue mich sehr, dass du mich eingeladen hast.«

Sie stellte ihm Gabriele vor.

»Herzlich willkommen«, sagte Daniel. »Fühlt euch wie zu Hause. Holt euch was zu trinken und sucht euch einen schönen Platz, das Fleisch ist gleich fertig – und ich muss zurück zum Grill.«

»Ich muss noch mal zum Auto«, sagte Patrizia. »Ich habe ein kleines Geschenk dabei.«

Sie lief den Gartenweg entlang und Clarissa blieb mit Gabriele stehen. Beide Frauen schauten ihr nach.

»Glückwunsch«, sagte Clarissa leise zu Gabriele. »Sie ist eine Zauberfrau.« Gabriele lächelte.

»Ich weiß«, sagte sie. »Nenn mich Gabi. Alle nennen mich Gabi, ich habe keine Ahnung, warum Patrizia auf Gabriele besteht.«

Sie lächelte. Liebevoll, aber etwas schüchtern, streichelte sie kurz über Clarissas Oberarm. Als ob sie bei ihr um Entschuldigung bitten müsste, dafür, dass sie nun mit Patrizia zusammen war. Als hätte sie das nötig.

»Schon gut,« sagte Clarissa. »Mach sie glücklich, sie hat es verdient.«

Patrizia kam zurück. In ihren Armen trug sie einen Welpen, dem sie eine riesige, rote Schleife umgebunden hatte, die besonders gut zur Geltung kam, weil das schwarze Fell des Welpen wunderschön in der Abendsonne glänzte.

»Ich dachte...«

In Clarissas Augen schimmerten Tränen, als sie den kleinen Hund an sich nahm und sie presste sanft ihr Gesicht in den Nacken des Kleinen.

»Es ist allerdings ein Mädchen«, sagte Patrizia. »Aber sie fand ich am allerschönsten aus dem ganzen Wurf.«

Der Welpe quietschte vor Freude und leckte hektisch über Clarissas Gesicht. »Ich glaube sie mag mich«, sagte Clarissa.

»Normalerweise verschenke ich keine Tiere«, sagte Patrizia erklärend.

Daniel kam näher und schaute sich den Hund genauer an, und begrüßte das neue Familienmitglied indem er ihn sanft hinter den Schlappohren kraulte.

»Und was wird daraus, wenn es groß ist?« fragte er.

»Eine Labrador-Hündin«, sagte Patrizia. »Also, um noch mal auf den Punkt zu kommen, normalerweise verschenke ich grundsätzlich keine Tiere, aber in eurem Fall wusste ich, dass ich damit nichts falsch machen kann.«

Clarissa reichte den Welpen an Daniel weiter und fiel Patrizia vor Freude um den Hals, trat aber gleich wieder zurück und sah verunsichert erst ihren Mann an, und dann Gabriele. Aber beide lächelten. Irgendwie war die Welt wieder in ihre Angeln zurück gehoben worden.

»Was ist eigentlich aus dieser irren Sekretärin geworden?« fragte Anja, und sämtliche Gäste starrten sie an, als hätte sie gerade ein riesiges Tabu gebrochen. Bisher war es eine lustige Runde gewesen und dieses Thema hatten alle krampfhaft vermieden.

»Was denn?« fragte Anja und musterte erst Daniel, dann Clarissa und nach und alle Gäste. Nach dem deftigen Grillfleisch und den vielen Salaten und anderen Schlemmereien, die Clarissa zubereitet hatte, saßen nun alle etwas matt um den großen Tisch herum.

Der kleine Hund schlief friedlich auf Clarissas Schoß und sie nestelte vorsichtig an der riesigen Schleife herum, um sie zu lösen. Vor sich hatte sie den Impfpass, die Abstammungsurkunde, sowie ein brandneues Halsband mit einer Leine liegen.

Daniel schluckte nach diesem kleinen Tabubruch von Anja, lehnte sich in seinem Gartenstuhl zurück und zündete sich eine Zigarette an.

Anja sah sich im Kreis ihrer Freunde um und um ihren Mund bildete sich ein trotziger Zug.

»Wir müssen darüber sprechen«, sagte sie. »Es ist viel passiert, wir wissen alle was passiert ist, aber keiner weiß wie die Sache ausgegangen ist. Wir sind seit vielen Jahren befreundet und können nicht so tun als wäre niemals etwas gewesen.«

»Wir können ruhig darüber reden«, sagte Daniel, und er blickte nacheinander in die Gesichter seiner Freunde, bemerkte die allerseits erleichterten Gesichter seiner Gäste – und auch das erleichterte Gesicht von Manuela, seiner ehemaligen Vertriebssachbearbeiterin, die er nun, auf Clarissas Vorschlag hin mit einer ordentlichen Gehaltserhöhung in sein Vorzimmer verdammt hatte – und die sich dort sehr wohl fühlte. Er hatte mit dieser Einladung zur Grill- und Einweihungsparty seinen Grundsatz gebrochen, mit Untergebenen privat nichts zu unternehmen, aber bei dieser Party musste sie einfach anwesend sein. Schließlich war sie es gewesen, die ihm und Clarissa nach seiner Genesung sehr behilflich gewesen war, als er wieder an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt war. Sie hatte dieses Haus entdeckt, das zur Vermietung stand und es an Daniel weiter geleitet. Sie hatte es sich nicht nehmen lassen, Clarissa dabei zu helfen, das Chaos im alten Haus zu beseitigen und sie hatte während des Umzugs die ganze Familie verköstigt. Sie hatte sich weiß Gott ihren Platz im Kreis der Freunde verdient. Anja starrte in die Runde.

»Ja Leute, ich finde es wunderbar, dass wir hier so vereint sitzen und eine Party feiern können. Aber ich sage es nochmal, letztes Jahr ist viel passiert und diese Party hier sollte eigentlich symbolisieren, dass alles ausgestanden ist, dass niemand mehr Angst haben muss, dass unsere Freunde wieder in Sicherheit sind. Und nach allem was passiert ist, möchte ich wissen was aus dieser Irren geworden ist und vor allem, ihr zwei? Daniel? Clarissa? Ich will nicht einfach nur lachen und so tun als wäre nichts gewesen, ich will wissen, wie es euch geht! Wie es euch wirklich geht! Wir hier sind eure Freunde und nicht irgendwelche Nachbarn!«

Daniel räusperte sich.

»Natürlich wollt ihr das wissen und wir können ruhig darüber sprechen – wie ich eben schon sagte.«

Er lächelte ein wenig hilflos in die Runde. »Ich befinde mich in Therapie, ich kann damit umgehen.«

Niemand konnte darüber lachen.

Daniel atmete tief ein, aber Clarissa spürte, dass er nicht über diese Frau und das, was ihm passiert war, reden konnte. Nicht hier, nicht mit den Freunden. Wahrscheinlich konnte er überhaupt nur mit seinem Therapeuten reden.

»Was meine ehemalige Sekretärin betrifft – sie gilt als nicht zurechnungsfähig. Sie ist aber in eine geschlossene Psychiatrie eingewiesen worden und dort wird sie auch bleiben. Sie bekommt eine Therapie. Sollte sie in den nächsten Jahren irgendwann rauskommen, wird sie sich an strenge Auflagen zu halten haben. Sie hat auch eine Haftstrafe bekommen, und sobald sie haftfähig ist, also keine Therapie mehr braucht – falls das jemals der Fall sein sollte – muss sie erst mal ihre Haftstrafe absitzen.«

Anja nickte.

»Aber wer garantiert es, dass sie nicht wieder ...«

Sie unterbrach sich selbst. Nein, sie wollte niemanden verängstigen.

»Sobald sie auf freiem Fuß ist und bei uns wieder irgendetwas passiert, ist doch klar, nach wem die Polizei zu suchen hat«, sagte Clarissa. Sie räusperte sich. »Man hat manische Depressionen bei ihr diagnostiziert. Und außerdem hat sie wohl eine Persönlichkeitsstörung.«

»Schizophrenie bestimmt.«

»Ja, offenbar,« sagte Clarissa.

»Klar, gespaltene Persönlichkeit, kann ja gar nicht anders sein mit dieser ganzen Vorgeschichte.

»Schizophrenie hat nichts mit einer gespaltenen Persönlichkeit zu tun,« sagte Daniel. »Ich habe es mir erklären lassen, der Begriff wird falsch verwendet. Schizophrenie sind Störungen in der Wahrnehmung, im Denken und Empfinden und die können sich zu Halluzinationen und Wahnzuständen entwickeln.«

Er seufzte.

»Jedenfalls wird sie noch sehr lange in Behandlung bleiben. Und danach wahrscheinlich ihre Haftstrafe verbüßen müssen.«

»Ich frage mich aber immer noch, woher sie so viel wusste,« sagte Patrizia. »Sie muss ja eine Meisterdetektivin sein. Offenbar wusste sie ja so einiges und taucht mit einer Perücke mit langen, roten Haaren auf …«

»Ja,« antwortete Daniel. »Eine gute Sekretärin weiß alles von ihrem Chef, aber frag mich nicht, wie das geht. Ich weiß es nicht. Sie hat wohl Telefonate mitgehört – unter anderem. Keine Ahnung.«

Für einen Moment herrschte Schweigen in der Runde.

»Und du?« fragte Anja schließlich unverblümt und starrte Patrizia unverwandt an. »Wie war das mit der Waffe?«

Patrizia lachte.

»Mit der Waffe? Naja, ich habe sie nicht mehr. Die bösen Polizisten haben sie einfach behalten.« Sie zog einen Schmollmund und brachte damit die etwas angespannte Runde wenigstens zum Lächeln.

»Ich habe eine saftige Geldstrafe bekommen, weil ich sie überhaupt hatte und weil ich sie bei mir getragen habe. Und sechs Monate auf Bewährung. Wäre wahrscheinlich schlimmer ausgegangen, wenn ich vorher schon mal auffällig geworden wäre.«

Daniel versuchte ein Lächeln.

»Anja hat recht«, sagte er. »Diese kleine Party findet statt, weil wir mal wieder ein Wochenende mit unseren besten Freunden verbringen wollten. Aber mit dieser Party wollten wir auch mit den Geistern unserer Vergangenheit abschließen. Und natürlich können wir alle nicht so tun, als wäre nichts passiert. Aber jetzt haben wir darüber gesprochen und ich möchte diese Geister der Vergangenheit in die Hölle schicken, wenn es euch recht ist. Da gehören sie hin.«

»Toll, wie sie das weggesteckt haben«, hörte Clarissa später am Abend im Vorbeigehen Dagmar zu ihrem Mann Frederic sagen.

Hatten sie es denn »gut weggesteckt«, wie Dagmar es formuliert hatte?

Clarissa kraulte ihren Hund und horchte tief in sich hinein. Ja, das hatten sie. Daniel ging es einigermaßen gut. Das Gefühl der innigen Liebe zwischen ihnen beiden war um ein weiteres, großes Stück gewachsen. Er befand sich in Therapie, um sein Trauma verarbeiten zu können. Ihr ging es gut, seit sie in das neue Haus eingezogen waren. Es war ein sehr modernes Haus und es gab nichts mehr, was sie an das alte Haus, in das sie so voller Vorfreude eingezogen waren, erinnerte. Sogar die Möbel hatten sie verkauft und zum zweiten Mal innerhalb von 12 Monaten ein Haus neu eingerichtet. Dafür hatten sie sich ziemlich verschulden müssen, aber das nahmen sie in Kauf. Die Kinder hatten sich wieder beruhigt und waren froh, dass sie in Köln bleiben konnten, denn sie hatten dort sehr schnell Wurzeln geschlagen. Daniel hatte seine neue Sekretärin, Manuela, eine Frau, der sie selbst vertraute und mit der sie inzwischen einen sehr herzlichen Kontakt pflegte.

Patrizia hatte eine Frau gefunden, die sie ebenso liebte wie sie von ihr geliebt wurde. Und nun saßen sie alle hier mit ihren besten Freunden im Garten, hatten ein ausgedehntes Grillessen hinter sich, tranken Bier und kleine Cocktails, hörten Musik, lachten, einige tanzten sogar, ein wenig torkelnd vielleicht, aber sie versuchten es.

Clarissa schloss die Augen und atmete tief den Duft des sommerlichen Abends ein, bevor sie die Augen wieder öffnete. Ihr Blick fiel auf Patrizia.

Sie saß etwas abseits, auf dem Rasenstück und war vertieft in ein angeregtes Gespräch mit Gabi.

Ein schönes Bild, wie sie da saß, mit elegant übereinander geschlagenen Beinen, rauchend, und das wie immer, aus ihrer Zigarettenspitze.

Diese Stelle im Garten, an der Patrizia saß, musste sie sich genau merken.

An diesen Platz würde sie im kommenden Herbst einen Magnolienbaum pflanzen.

Patrizia liebte Magnolienbäume.