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»Stimmt mit dir was nicht?« fragte Daniel beim Abendessen.
»Warum?« fragte Clarissa.
»Du bist so still.«
»Ich habe Kopfschmerzen.«
»Okay. Sonst nichts?«
Clarissa schüttelte den Kopf und würgte ein paar Stückchen von ihrem Schnitzel herunter. Sie hatte keinen Appetit und schob ihren Teller von sich.
»Kinder«, sagte sie, und sah zunächst Charlotte an und dann Damian. »Wir müssen uns mal über etwas unterhalten.«
»Aha«, sagte Damian, und er sah wütend seine Schwester an. »Ich habe nichts gesagt!« brüllte Charlotte gleich los.
»Was hast du uns nicht gesagt?« fragte Daniel nach.
»Er raucht!«
Damian senkte seinen Kopf und konzentrierte sich auf das Essen, das auf seinem Teller lag.
»Damian, du rauchst?« fragte Daniel und musterte ihn mit strengem Blick.
»Nur manchmal.«
»Nur manchmal ist auch schädlich.«
»Ihr raucht doch auch manchmal.«
»Ja, leider. Aber wir sind erwachsen. Wenn man so was in deinem Alter anfängt, hängt man schnell an der Zigarette und plötzlich raucht man ständig!«
»Ich hab ja schon wieder aufgehört«, sagte er.
Daniel musterte ihn.
»Wirklich.«
Clarissa nickte. Das musste sie überwachen, das war klar, aber eine Diskussion darüber würde nun nicht weiterführen. Dafür hatte sie an diesem Tag auch nicht mehr die nötigen Nerven. Viel mehr mussten ihre Kinder nun endlich von ihren Plänen erfahren. An diesem Tag war dafür ein guter Tag, er war ohnehin ruiniert und wenn die Kinder jetzt laut werden und ausflippen würden, machte es auch keinen Unterschied mehr.
»Also ihr beiden, euer Vater wird am ersten März eine neue Stelle antreten.«
»Ach?« sagte Damian. »Wo denn?«
»Bei einer Softwarefirma. Ich werde dort Geschäftsführer sein«, sagte Daniel.
»Und warum?« Charlotte saß mit aufgerissenen Augen am Tisch. Natürlich entsetzte sie die Nachricht.
»Weil es meiner bisherigen Firma nicht so gut geht und ich springe lieber vom Boot als mit unterzugehen. Verständlich, oder? Ihr schaut ja auch Nachrichten, ihr wisst ja, wenn man erst mal arbeitslos ist heutzutage, kommt man schlecht wieder auf die Füße.«
Damian nickte, Charlotte starrte ihn gespannt an.
»Also, mit dem neuen Job werden wir uns keine Sorgen machen müssen. Ich werde mehr verdienen und wir werden in einem größeren Haus leben als dieses hier. Wir werden einen riesigen Garten zur Verfügung haben.«
»Wir ziehen um?« fragte Charlotte entgeistert. »Aber wohin?«
»Tja, die Firma ist in Köln.«
»Wir ziehen nach Köln?« fragte Damian, und riss entsetzt die Augen auf.
Clarissa nickte.
»Ja. Es bleibt uns nichts anderes übrig.«
»Na super!« brüllte Damian. »Einfach so, ja? Und wir dürfen gar nicht mitentscheiden?«
»Ich fürchte, ihr habt da keine Wahl«, sagte Daniel. »Oder hast du ein Konzept was wir tun können, von welchem Geld wir leben können, wenn ich erst arbeitslos geworden bin?«
»Du findest doch bestimmt hier was in der Gegend«, sagte Damian.
»Damian«, sagte Daniel, und er versuchte, ganz ruhig zu bleiben. »Wenn man in der heutigen Zeit erst mal arbeitslos ist, dann hat man ganz schnell riesige Probleme. Ich bin jetzt fünfundvierzig Jahre alt. Das ist natürlich kein Alter, aber wenn man erst mal über vierzig ist, ist es problematisch was Neues zu finden. Und wenn man erst mal arbeitslos ist, dann dauert es eine Weile bis man was Neues findet. Ich müsste mich mit Sicherheit sogar damit abfinden, dass ich mich beruflich verschlechtern müsste, nur um überhaupt einen Job zu kriegen. Mit der Stelle in Köln kann ich der Arbeitslosigkeit aus dem Weg gehen und mich beruflich verbessern. Ist das nicht die bessere Alternative?«
»Aber wir müssen alle unsere Freunde hinter uns lassen!« jammerte Charlotte.
»Ja«, sagte Clarissa. »Das stimmt. Aber das Leben erfordert manchmal solche Entscheidungen. Oder habt ihr Lust, in eine kleine Mietwohnung zu ziehen, weil wir das Haus nicht mehr halten können, weil euer Vater vielleicht keinen Job mehr bekommt? Ihr wollt doch nicht hier bleiben um jeden Preis, oder?«
Charlotte heulte.
»Kind«, sagte Clarissa. »Manchmal muss man solche Entscheidungen treffen, wenn die Existenz dranhängt, daran musst du immer denken. Das ist nun mal so. Manchmal muss man Opfer bringen. Ich habe nichts dagegen, wenn deine Freundinnen dich in den Ferien besuchen kommen.«
»Ach, das ist doch nur Gerede«, sagte Charlotte mit finsterem Gesicht. »Die haben mich doch total schnell vergessen, sobald wir hier weg sind.«
»Dann sind es auch keine Freundinnen und dann sind sie es auch nicht wert dass du traurig bist.«
»Es wird noch ein wenig mehr Verzicht geben müssen«, sagte Daniel. »Der Sommerurlaub dieses Jahr muss auch ausfallen. Ich muss mich erst mal in diese Firma einarbeiten und habe dann auch erst mal ein halbes Jahr Urlaubssperre. Und als Geschäftsführer kann ich mir im ersten Jahr dort Urlaub höchstens zwischen den Jahren erlauben, wenn ich schon fast ein Jahr da bin.«
Damian starrte finster vor sich hin.
»Es wird uns dort gut gehen«, versicherte Daniel noch einmal seinen Kindern. »Ihr werdet größere Zimmer haben als eure Zimmer hier. Wir werden das Haus komplett neu einrichten. Der Garten ist toll. Wir könnten uns einen Hund anschaffen, wolltet ihr nicht immer einen Hund?«
In diesem Moment schien Charlottes Kummer erledigt und sie wagte ein kleines Lächeln.
»Aber einen richtigen Hund, nicht so einen kleinen Kläffer.«
»Natürlich«, sagte Daniel. »Vorausgesetzt eure Mutter ist einverstanden.«
»Klar«, sagte Clarissa. »Ich wollte auch schon immer einen Hund. Aber mit diesem kleinen Garten hier, wo die Nachbarin hinter dem Zaun steht um einen zu beobachten und man sowieso von rechts wie von links von diesen kleinen Kläffern angebellt wird ... nein danke. Dort wäre das natürlich was anderes.«
»Einen Retriever!« sagte Charlotte.
»Wir werden sehen. Erst mal müssen wir unser Haus hier räumen, umziehen, uns dort einrichten. Und dann kommt der Hund. Bis dahin haben wir noch lange genug Zeit um drüber nachzudenken, welchen Hund wir haben möchten.«
»Und was passiert mit unserem Haus?« fragte Damian.
»Wir werden es vermieten«, erklärte Daniel. »Wir wollen es behalten, aber wenn es leer steht, verlieren wir Geld, also werden wir es vermieten.«
Damian nickte. »Na ja, das ist wohl beschlossene Sache, da werde ich wohl nichts dran ändern können.« Er zog ein Gesicht bis auf den Boden und ganz offensichtlich war er schwer auf Protest aus, nicht nur in dieser Angelegenheit, sondern bereits seit Monaten zu jeder sich bietenden Gelegenheit.
»Doch«, sagte Clarissa gereizt. »Wenn du künftig das Geld verdienst, was dein Vater seit Jahren heranschleppt und es uns allen zur Verfügung stellst so wie er es tut, dann darfst du anders entscheiden. Dann können wir hier bleiben.«
Daniel warf ihr einen besorgten Blick zu. Wenn Clarissa derart gereizt reagierte, konnte es nicht nur an ihren Kopfschmerzen liegen. Die Kinder ergriffen die Gelegenheit, um sich in ihre Zimmer zu verziehen. Clarissa stand auf und räumte das Geschirr ab. Daniel erhob sich ebenfalls und half ihr dabei.
»War heute irgendwas?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Wieso?«
»Weil – Kopfschmerzen. Am Nachmittag im Bett gelegen, das sieht dir gar nicht ähnlich, auch nicht mit Kopfschmerzen. Und eben warst du ziemlich gereizt.«
Clarissa seufzte. »Das ist wohl nicht mein Tag. Das ist alles. Mach dir keine Sorgen, morgen ist wieder alles okay.«
»Du möchtest nicht mit mir über irgendetwas sprechen?«
Sie fuhr herum, wirkte ein wenig erschrocken.
»Über was sollte ich mit dir sprechen wollen?«
»Keine Ahnung. Heute Morgen war noch alles in Ordnung. Heute Nachmittag warst du bei Patrizia in der Galerie. Oder bei ihr zu Hause. Wo eigentlich? Und seit du wieder hier bist, geht es dir offenbar nicht gut!«
»Es ist alles in Ordnung, Daniel. Wirklich.«
Daniel setzte sich wieder an den Esstisch, zündete sich eine Zigarette an und starrte sie so lange an, bis sie sich zu ihm setzte.
»Daniel, ich weiß nicht, was soll ich dir sagen? Ich war bei ihr zu Hause. Und sie hat ein wenig zickig reagiert, weil wir wegziehen, ich habe es ihr heute gesagt.«
»Das verstehe ich nicht«, antwortete er. »Ich weiß, dass ihr mittlerweile dick befreundet seid, aber gerade dann müsste sie es doch verstehen? Außerdem finde ich es nicht normal, Freundschaften lösen sich nicht auf, nur weil man irgendwohin zieht, wohin der andere vielleicht zwei Stunden fahren müsste. Und falls es aus geschäftlichen Gründen ist, das ist doch sowieso kein Problem. Du hörst ja nicht auf zu malen und deine Bilder kannst du ihr von Köln aus genauso zur Verfügung stellen.«
Clarissa schluckte. Er machte sich Sorgen. Er war auch misstrauisch. Es stand ein neuer Anfang an. Konnte sie mit Daniel einen neuen Anfang machen, wenn sie ihn auf einer Lüge, auf einem solchen Betrug aufbaute? Wäre es nicht besser, ihm ihren Betrug zu gestehen? Was würde geschehen? Konnte er ihr verzeihen? Würde er ihr verzeihen? Wäre ihre Ehe am Ende vielleicht genau da, wo sie vor etwas mehr als einem Jahr schon einmal gewesen war?
Sie hatte Angst dass es so kommen könnte.
Aber sie hatte auch vor Patrizia Angst. Ein innerer Instinkt sagte ihr, dass Patrizia es darauf nicht beruhen lassen würde. Sie hatte keine Ahnung, warum ihr Bauchgefühl ihr sagte, dass noch unangenehme Dinge bevorstanden, aber es hatte sie selten getäuscht. Sie hatte schon den ganzen Nachmittag über eine unbestimmte Angst in ihrem Inneren gefühlt, seit sie Patrizias Wohnung verlassen hatte. Aus diesem Grund nahm sie all ihren Mut zusammen, bevor sie vielleicht in der schönen Vorstellung versinken konnte, dass es besser war, wenn er es nicht erfahren würde. Eine innere Stimme sagte ihr, dass er es erfahren würde, auf die eine oder andere Art und wenn es tatsächlich so sein sollte, dann sollte er es lieber von ihr persönlich erfahren.
»Daniel«, sagte sie. Und atmete tief ein. »Du hast recht. Es gibt ein Problem. Wir müssen reden.«
Daniel erhob sich und schloss die Wohnzimmertür. Er hatte es geahnt. Clarissa hatte noch nie ihre Gefühle vor ihm verstecken können, er hatte gewusst, dass sie etwas bedrückte. Was immer es sein mochte, die Kinder mussten es nicht hören.
»Du kannst mit mir über alles reden, das weißt du doch. Sag es mir einfach. Sag mir einfach was dich bedrückt.«
»Daniel, ich weiß nicht wie ich anfangen soll. Du engagierst dich seit ... na ja seit...ach...!«
»Seit ich dich betrogen habe.«
»Ja«, sagte sie. »Seit damals engagierst du dich so sehr. Du gibst dir so viel Mühe. Du liest mir jeden Wunsch von den Augen ab. Wir haben unsere Ehekrise überwunden. Die Ehe mit dir ist wieder so wunderbar wie in unseren ersten Jahren, viel schöner noch, weil wir jetzt eine Vertrautheit haben, die wir früher nicht hatten. Und nun willst du einen neuen Anfang in Köln machen. Du musst die Wahrheit erfahren, aber das könnte das Ende unserer Ehe sein.«
Er musterte sie mit besorgtem Blick. »So ernst?«
Clarissa nickte traurig und sie schaffte es nicht, ihn anzusehen. Stattdessen lief sie zum Schrank, öffnete ihn und holte eine Flasche Cognac und zwei Gläser heraus, schenkte sie voll und stellte ihm eines der Gläser hin.
Nachdenklich kippte sie ihren Cognac in einem Zug herunter.
»Verdammt noch mal ... ich kann das nicht.«
»Versuch es einfach.«
»Daniel.«
Sie schenkte sich einen zweiten Cognac ein und leerte auch dieses Glas in einem Zug. »Ich habe dich betrogen.«
Mit einem lauten Knall landete das leere Glas auf dem Tisch. Daniel wurde bleich.
»Was hast du?«
»Ich habe dich betrogen. Und du wirst mich jetzt hassen.«
Daniel sprang auf, durchquerte mit großen Schritten mehrfach das Wohnzimmer und setzte sich schließlich wieder.
»Mit wem? Aber du warst doch ... du ... ich verstehe nicht!«
Sie hatte vermutet, dass er völlig außer sich sein würde, dass er angesichts ihrer Worte die Kontrolle verlor, aber nachdem er sich wieder gesetzt hatte, saß er nun einfach nur da und starrte sie verwirrt an.
»Ich habe dich mit Patrizia betrogen«, fügte sie hinzu.
Daniel lehnte sich in seinem Stuhl zurück, starrte das Glas an und leerte es auch auf einen Zug, so wie sie es getan hatte.
»Aha«, sagte er nur. »Und jetzt?«
»Und jetzt? Jetzt ist Schluss. Ich habe heute Mittag die Sache beendet. Und wenn du dich jetzt scheiden lassen möchtest, dann habe ich Verständnis.«
Er antwortete nicht.
»Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dich zu verlieren. Aber ich kann keinen neuen Anfang auf einer Lüge aufbauen.«
Daniel holte tief Luft.
»Clarissa. Das ist ungeheuerlich!«
»Ich weiß«, sagte sie kleinlaut.
Daniel erhob sich erneut und lief durch das Zimmer, mit großen Schritten, energisch, die Hände in den Hosentaschen wahrscheinlich zu Fäusten geballt, lief er auf und ab, bis er sich nach einiger Zeit wieder setzte.
»Was hast du dir dabei gedacht?«
»Ich habe ... Daniel, ich habe erst mal gar nichts gedacht. Sie ... nein, das ist blöd. Ich hätte nein sagen müssen. Aber es ging mir so schlecht und sie tat mir so gut!«
Erneut stand Daniel auf um durch das Zimmer zu
laufen. Schließlich stand er vor der Terrassentür, starrte hinaus
in die Dunkelheit.
»Es
ging dir schlecht, seit du herausgefunden hast, dass ich dich
betrogen habe«, sagte er. »Seit du von meinem Verhältnis erfahren
hast. Ich weiß das. Ich habe mich dafür gehasst. Ich habe mich so
sehr dafür gehasst, dass ich nicht nein sagen konnte, dass ich mich
so geschmeichelt gefühlt habe, dass ich wie ein dummgeiler Gockel
mich immer wieder mit dieser Frau getroffen habe, die mir
eigentlich gar nichts bedeutete, bis auf die Tatsache, dass ich
mich wieder fühlen konnte wie ein Mann, von dem die Frauen noch was
wollen. Ich habe mir solche Vorwürfe gemacht.«
»Das weiß ich.«
Er setzte sich wieder zu ihr an den Tisch. Clarissa konnte ihm kaum in die Augen sehen. »Und seitdem ging es dir schlecht, so schlecht, dass ich mich manchmal gefragt habe ob es nicht besser wäre, auszuziehen, die Scheidung einzureichen.«
»Darüber hast du nachgedacht?«
Er nickte.
»Natürlich. Wenn ich das getan hätte, hättest du irgendwann den Schmerz überwunden. Dich vielleicht mit einem anderen Mann auf ein neues Glück eingelassen. Durch meine Anwesenheit wurdest du ja täglich an den Betrug erinnert, den ich dir angetan habe. Und es gab Zeiten, Clarissa, da hatte ich keine Hoffnung mehr, dass es jemals besser werden würde, dass sich jemals etwas zwischen uns ändern würde. Ich wollte nicht den Rest meines Lebens mit einer Frau verbringen, die still leidet weil ich sie sehr verletzt habe und die mich täglich verbal dafür bestraft. Ich hatte Phasen, da dachte ich tatsächlich, es wäre besser, meine Koffer zu packen und dir die Möglichkeit zu geben, mit jemand anderem glücklich zu werden. Irgendwann. Wenn du das Schlimmste überwunden hättest. Du warst so verletzt dass ich dachte, es wird nie wieder gut werden und unsere Ehe war eine einzige Quälerei für uns beide. Für dich, weil du so voller Schmerz warst und für mich, weil ich wusste dass ich daran schuld bin.«
Sie nickte. »Ja, so war das wohl. Aber den Gedanken, dich zu verlieren, habe ich auch nicht ertragen.«
»Ein Jahr später ist unsere Beziehung wieder wunderbar. Der Sex klappt wieder. Und ist besser denn je. Ich habe oft überlegt, woran es liegt. Ehrlich. Woran es gelegen hat, dass du plötzlich wieder bereit warst, mit mir zu schlafen.« Er atmete tief ein. »Und jetzt erfahre ich, du hast ein Verhältnis mit dieser Patrizia. Mit einer Frau. Du meine Güte!«
»Es tut mir leid.«
»Du wirst lachen, aus eigener Erfahrung heraus, kann ich dir sagen, das glaube ich dir sogar.«
»Wirst du mich jetzt verlassen?«
Clarissa fühlte sich verunsichert, von ihrer eigenen Courage überrannt. Vielleicht hätte sie es ihm doch lieber nicht sagen sollen? Aber das entsprach nicht ihrem Wesen. Clarissa war immer ehrlich gewesen. Sie hasste Betrug, sie hasste Lügen. Und nun hatte sie selbst gelogen und betrogen, aber sie konnte nicht zulassen, dass diese Affäre, diese Heimlichkeiten für immer auf irgendeine Art zwischen ihr und Daniel stand. Er starrte sie an. Minutenlang. Minuten, die Clarissa wie Stunden erschienen und in denen sie sich zutiefst fürchtete.
Wie kommst du auf die Idee«, sagte er. »Wie kommst du auf die Idee dass ich dich für etwas verlassen könnte, was ich selbst getan habe? Etwas, was du mir großzügig verziehen hast, auch wenn es ewig gedauert hat. Wie kommst du auf diese Idee?«
Sie schluckte.
»Ich habe keine Ahnung. Vielleicht konnte ich mehr ertragen als du es kannst.« Daniel zündete sich eine weitere Zigarette an. So viel rauchte er normalerweise niemals, er gönnte sich nur nach dem Essen immer eine, manchmal eine zwischendurch wenn es gemütlich wurde. Mehrere Zigaretten hintereinander rauchte er normalerweise niemals.
»Wann ging das los?« fragte er.
»Kurz vor der Ausstellung.«
Er schnappte nach Luft. »Das heißt, du hast sie bis dahin gerade zweimal gesehen oder dreimal höchstens? Und du hast mich, deinen Mann, mit auf die Ausstellung geschleppt und mich dort mit deiner Geliebten konfrontiert? Clarissa!«
Er war entsetzt. Und mit Sicherheit nicht nur über ihren Betrug, der ihn offensichtlich schwer traf. Nein, er war auch entsetzt, weil ein solches Verhalten überhaupt nicht ihrer sonstigen Art entsprach.
»Entschuldige. Es tut mir so leid.«
»Clarissa, ich muss darüber erst mal
nachdenken. Ich mag jetzt nicht weiter mit dir reden. Ich muss
nachdenken. Ich werde heute Nacht hier auf dem Sofa schlafen. Ich
möchte alleine sein, jetzt sofort, kannst du bitte nach oben
gehen?«
Sie
nickte, nahm die Cognacflasche mit und ging nach oben in ihr Bett.
Ein, zwei Cognacs noch, und sie wäre alkoholisiert genug um
einschlafen zu können, trotz dem ganzen Desaster. Sie wusste, was
er jetzt durchmachte, da unten auf seinem Sofa. Sie wusste, wie er
sich fühlte. Aber sie spürte, ihre Entscheidung war richtig
gewesen. Für einen neuen Anfang war es wichtig, dass alles geklärt
war, dass es keine Geheimnisse vor dem anderen gab. Niemand konnte
sein Leben auf einer Lüge aufbauen. Obwohl sie befürchtete, dass es
mit ihrem Geständnis zur nächsten Ehekrise kommen würde, die ihre
Ehe diesmal vielleicht nicht überleben würde, fühlte Clarissa sich
befreit. Sie hatte Angst, das war keine Frage, aber sie fühlte sich
leichter. Monatelang hatte sie ein schlechtes Gewissen gehabt,
monatelang ihr Geheimnis sorgsam gehütet. Sie hatte Patrizia mit
ihrem Verhalten sehr wehgetan, das wusste sie, und dafür schämte
sie sich auch. Für sie selbst war es eine wunderbare Zeit gewesen
und sie liebte Patrizia auch irgendwie, aber nicht so wie man einen
Menschen lieben sollte, mit dem man eine Beziehung führt. Dieser
Platz in ihrem Herzen war von Daniel besetzt und das schon seit
vielen Jahren. Aber sie wusste auch, dass sie von Patrizia geliebt
wurde, und zwar so wie es sein sollte. Sie wusste, dass Patrizia
sich nach einer wirklichen Beziehung mit ihr gesehnt hatte. Eine
Beziehung, in der sie morgens gemeinsam aufwachen und abends
gemeinsam einschlafen würden. Eine Beziehung, in der Feste wie
Weihnachten gemeinsam gefeiert werden konnten. Eine Beziehung, in
der sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen konnten, sie Hand in Hand
durch die Straßen laufen und der ganzen Welt zeigen konnten, wie
sehr sie sich liebten. Ja, danach hatte Patrizia sich immer gesehnt
und Clarissa hatte das gewusst. Patrizia war aber geduldig
geblieben. Sie hatte sie nicht gedrängt. Natürlich, an diesem
Nachmittag hatte sie ja zugegeben, was sie sich erhofft hatte. Mit
Sicherheit war es Patrizias größter Wunsch gewesen dass Clarissa
eines Tages eine Entscheidung treffen würde – und zwar für sie.
Aber das konnte sie nicht. Patrizia war eine wunderbare Frau und
eine Geliebte, wie man sie sich nur wünschen konnte, aber
wahrscheinlich wäre diese Sache ohnehin irgendwann einfach zu Ende
gewesen. Patrizia war lesbisch und Clarissa war es eben nicht. Sie
mochte hauptsächlich Männer und hatte das Abenteuer mit Patrizia
genossen. Aber früher oder später wäre es vorbei gewesen. Clarissa
seufzte und drehte sich auf die Seite. Sie hatte zu viel getrunken.
Mal wieder. Sie merkte es selbst, dass ihr Alkoholkonsum nicht in
Ordnung war. Sie trank nie wirklich viel, aber bedenklich
regelmäßig. Auch das war etwas, das ihr Sorgen machte. Es musste
aufhören. Alles musste aufhören. Auch die Trinkerei. Clarissa fiel
in einen tiefen, traumlosen Schlaf.