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Clarissa hatte nicht wirklich einen Anruf von einer Patrizia erwartet. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich tatsächlich eine Galeristin für ihre Bilder interessieren könnte. Sie war der Meinung, dass Anja als ihre beste Freundin, die sie nun einmal war, wahrscheinlich mehr Potenzial in ihren Bildern sah, als es ein Profi tun würde. Umso überraschter war sie, als drei Tage nach ihrem Gespräch mit Anja das Telefon klingelte und es sich wohl bei der Anruferin tatsächlich um Patrizia handelte. 

»Ich habe gehört, Sie malen so ausgezeichnete Bilder«, sagte die Dame am Telefon. »Ich würde mir Ihre Werke gerne mal anschauen, wenn Sie es mir erlauben!«

Clarissa seufzte.

»Meine Freundin hat Sie auf mich angesetzt, ich weiß.«

»Sie meinen Anja?«

»Genau.«

»Ja, das hat sie. Sie sagte, ich müsste mir unbedingt mal Ihre Bilder ansehen. Leider konnte sie mir aber nicht sagen, was genau Sie malen?«

»Ich male Öl oder Acryl auf Leinwand und zeichne auch gerne mit Kohle. Aber es sind keine wirklichen Kunstwerke, Anja übertreibt da etwas. Es ist ein Hobby, dem ich schon als Kind nachgegangen bin, dann jahrelang nicht mehr. Ich habe erst vor ein paar Monaten wieder angefangen. Nichts Besonderes.«

»Das würde ich mir gerne selbst ansehen«, sagte die Dame. »Wäre es Ihnen recht, wenn ich heute Nachmittag bei Ihnen vorbeikäme?«

»Ach, Sie kommen zu mir?«

Die Frau lachte am Telefon. »Ich habe sowieso noch etwas zu erledigen, das liegt auf dem Weg. Wäre es Ihnen lieber, ich ließe Sie Ihre Bilder quer durch die Stadt schleppen? Was denken Sie, wie begehrt hier die Parkplätze sind und wie teuer es wird, wenn man sein Auto an der falschen Stelle parkt?«

»Und dann können Sie an dieser Location überleben? Mit einer Galerie?«

»Ja«, sagte die Dame. »Es gibt doch Busse und Bahnen. Aber ich möchte Ihnen den Transport einer Bilderauswahl einfach nicht zumuten. Ich muss ja erst einmal einen Blick darauf werfen. Vielleicht haben Sie ja recht und es ist Hobbymalerei, aber möglicherweise hat ja Anja recht und Ihre Bilder sind großartig. Ich würde sie jedenfalls gerne sehen. Anja hat mir Ihre Anschrift bereits gegeben, ich kenne die Gegend. Also, wie sieht es heute Nachmittag aus?«

»Gerne«, sagte Clarissa. »Ich hoffe, Sie sind hinterher nicht enttäuscht.«

»Ach«, antwortete Patrizia. »Da machen Sie sich mal keine Gedanken darüber. In meiner Branche gewöhnt man sich an alles Mögliche. Ich könnte gegen vier Uhr da sein, wäre das in Ordnung?«

»Sicher«, sagte Clarissa.

Sie verabschiedete sich und legte auf. Das eben war das erste Gespräch ihres Lebens mit der Inhaberin einer Kunstgalerie gewesen. Was erwartete diese Frau von ihr? Clarissa lief nach oben ins Gästezimmer, das sie in den letzten Monaten immer mehr zu einem Atelier umgewandelt hatte. Daniel hatte mit seinem Computer ins Schlafzimmer umziehen müssen. Sie sortierte ihre Bilder und stellte einige, die sie für nicht besonders gelungen hielt, ins Schlafzimmer. Dann ging sie schnell noch mal unter die Dusche. Zum Mittagessen hatte es Frikadellen gegeben und sie wollte nicht nach Hackfleischbällchen riechen, wenn eine Galeristin ihr Haus betrat.

»Wieso brezelst du dich denn so auf?« fragte Damian, ihr fünfzehnjähriger Sohn, der nicht schlecht staunte, als er seine Mutter im Bad vor dem riesigen Spiegel dabei erwischte, wie sie sich von allen Seiten begutachtete. Sie hatte sich in einen schwarzen Hosenanzug geworfen, völlig unüblich für Clarissa, die zu Hause am liebsten Jeans und Pullover trug.

»Ich bekomme gleich Besuch«, sagte sie.

»Wer kommt denn?«

»Ach«, sagte Clarissa. »Die Inhaberin einer Kunstgalerie. Sie möchte sich meine Bilder ansehen. Anja hat ihr von mir erzählt und jetzt ist sie neugierig.«

»Kunstgalerien, sind das nicht diese Geschäfte, in denen Künstler ausstellen und ihre Bilder verkaufen können?«

Clarissa nickte.

»Und von was leben die dann? Die Besitzer meine ich!«

»Ganz einfach, sie erhalten eine Provision von den verkauften Bildern.«

»Aber die Künstler bekommen das Meiste, oder?«

»Natürlich. Jedenfalls sollte es so sein.«

»Geil, wir werden reich!«

Clarissa lachte. »So würde ich das nicht sehen, junger Mann. Es ist eine Chance, aber eine ganz kleine. Was glaubst du wohl wie viele Menschen es gibt, die sich für meine Bilder interessieren? Ich denke, sie sind nicht so besonders gut.«

»Papa sagt, sie sind fantastisch.«

»So, sagt Papa das?«

Clarissa starrte in den Spiegel. Er sagte das also nicht nur ihr, sondern auch seinen Kindern. Gleichzeitig schalt sie mit sich selbst. Wie konnte sie ihn nur verdächtigen, er würde ihr Honig ums Maul schmieren wollen und unehrlich ihr gegenüber sein? Vielleicht weil sie den Betrug noch immer nicht ganz überwunden hatte. Vielleicht weil sie ihm noch immer nicht wirklich vertraute. Vielleicht weil sie sich seelisch übernommen hatte, mit ihrem Entschluss, bei ihm zu bleiben, ihm zu verzeihen. Vielleicht, weil es in ihrem Leben keinen Tag gab, an dem sie nicht daran denken musste, was er ihr angetan hatte. Es gab auch keinen einzigen Tag, an dem sie nicht darüber nachdachte, ihn doch noch zu verlassen. Gleichzeitig aber wusste, dass sie es nicht schaffte, weil sie ihn immer noch zu sehr liebte. Vor allem aber tat es ihr weh, dass kein einziger Tag verging, an dem sie nicht spürte, dass sie ihn permanent bestrafte obwohl sie es nicht wollte. Sie konnte einfach nicht anders. Es gab Momente, in denen sie von der Bitterkeit, die sie in sich trug, überrollt wurde.

Ihm gefielen ihre Bilder. Obwohl sie die Traurigkeit widerspiegelten, das Entsetzen, das noch immer in ihr steckte, das Kino in ihrem Kopf, das immer wieder diesen einen, so schmerzhaften Film ablaufen ließ ohne dass sie es steuern konnte. Das sie dazu brachte, ihn immer wieder verbal abzustrafen.

Aber er gab sich so viel Mühe. Versuchte sie aufzubauen. Lobte ihre Malerei. Clarissa wusste, es war die richtige Entscheidung gewesen, wieder mit dem Malen anzufangen. Völlig egal, was jetzt irgendeine Kunsttussi dazu sagen würde. Es war ihr einziger Weg mit dem Schmerz fertig zu werden, der sie auch jetzt noch, ein Jahr später und trotz Daniels ehrlicher Bemühungen, innerlich zu verbrennen drohte. Manchmal, wenn sie etwas getrunken hatte, lachte sie in ihrer Verbitterung über sich selbst. Millionen Männer gingen täglich fremd. Millionen Frauen wussten das. Akzeptierten es stillschweigend. Konnten irgendwann wieder verzeihen. Warum sie nicht? Warum zerriss sie dieser Betrug noch immer innerlich?

Als es an der Tür klingelte, überprüfte Clarissa noch einmal ihr Äußeres im Spiegel und lief nach unten, um die Tür zu öffnen. Vor ihr stand eine sehr auffällige Frau, vielleicht Mitte dreißig, mit feuerroter, langer Lockenmähne bis zur Hüfte, die sie mit einer breiten Spange im Nacken gebändigt hatte. Strahlende, wasserblaue Augen lachten ihr entgegen und Clarissa ergriff die Hand die sich ihr zum Gruß bot.

»Guten Tag«, sagte sie. »Ich bin Clarissa.«

»Patrizia«, sagte die Frau. »Darf ich?«

Clarissa trat beiseite und ließ Patrizia herein. »Die Bilder stehen oben«, sagte sie, und lief ihrem Gast voraus, die Treppe nach oben. Patrizia folgte ihr, beachtete sehr aufmerksam die Bilder die im Flur hingen.

»Sind diese Bilder auch von Ihnen?« fragte sie.

»Ja. Aber sie sind schon alt. Ich habe sie vor mehr als zehn Jahren gemalt.«

Ein wenig verlegen über ihre eigene Eitelkeit, aus der heraus sie diese Bilder in den Flur gehängt hatte, lächelte sie.

»Ich wollte sie schon lange abhängen, aber mein Mann möchte sie dort lassen. Er findet sie irgendwie gut.«

»Aha«, murmelte Patrizia. »Irgendwie sind sie das auch.«

»Soso«, sagte Clarissa leise, fast unhörbar, und öffnete die Tür zu ihrem Reich, ihrem ehemaligen Gästezimmer, in dem sich jetzt die Staffelei mit einer frischen, auf einen Keilrahmen gespannten Leinwand befand. Zahllose Bilder waren an den Wänden angelehnt und Patrizia stürzte sich sogleich darauf, nahm sie vorsichtig nacheinander auf und ließ sie auf sich wirken.

»Das sind ja unglaublich viele Bilder«, sagte Patrizia staunend. »Da bin ich aber froh, dass ich hier her gekommen bin und Sie nicht damit zu mir bestellt habe.«

Clarissa lächelte unsicher. Sie stand mit verschränkten Armen mitten im Raum und fühlte sich irgendwie hilflos.

Patrizia stellte das Bild, das sie in der Hand hatte, auf den Boden und griff nach einem weiteren, um es sich näher anzuschauen. Schließlich nahm sie die leere Leinwand von der Staffelei und stellte das Bild darauf.

Diese Frau hatte endlos lange Beine und Clarissa bestaunte ihre Figur, diese gute Figur, die sie abgab, als sie vor der Staffelei stand, mit leicht schräg gelegtem Kopf, das eine Bein ein wenig nach vorne gestellt, den Po leicht nach rechts angewinkelt, die langen, feuerroten Locken, die ihr über die Schultern fielen, trotz der Haarspange, die sie eigentlich bändigen sollten. Eine wirklich außergewöhnliche Frau. Atemberaubend. Clarissa fühlte sich im gleichen Raum mit dieser mondänen, extravaganten Erscheinung erst recht wie eine kleine, graue Maus.

»Wann sind die Bilder entstanden?«

»Alle in den vergangenen zwölf Monaten«, sagte Clarissa.

»Sie sind wunderbar.«

»Wirklich?«

Patrizia nickte. »Hervorragend. Ganz einzigartig.«

Sie drehte sich zu Clarissa herum. »Ich würde sie gerne ausstellen.«

»Das ist doch nicht Ihr Ernst?«

Patrizia nickte und lächelte. »Doch. Könnten Sie sich überhaupt von diesen Bildern trennen?«

»Für eine Ausstellung? Aber sicher.«

»Ach«, lachte Patrizia. »Ich meinte vor allem, wenn jemand eines kaufen möchte. Es bringt nicht viel, wenn die Künstlerin daneben steht und sich nicht von ihrem Bild trennen möchte.«

»Ich verkaufe es gerne, aber ich bezweifele, dass meine Bilder Käufer finden werden. Sie sind nicht gut genug.«

Patrizia bedachte sie mit einem langen, ernsten Blick, der sich schließlich in ein Lächeln kehrte. »Ihre Bilder sind sehr aussagekräftig. Voller Trauer, aber sehr aussagekräftig. Die Menschen mögen so etwas.«

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Bild zu, das sie auf die Staffelei gestellt hatte. »Manchmal würde ich gerne erfahren, welche Gefühle Künstler dazu veranlassen, ein Werk zu schaffen«, sagte sie nachdenklich und bedachte Clarissa mit einem kurzen, fragenden Blick.

»Meist sehr extreme«, antwortete Clarissa und zeigte sich bereit, den Raum zu verlassen. Plötzlich wurde ihr der Aufenthalt hier mit dieser Frau zwischen all ihren Bildern und Skulpturen etwas unheimlich. Es fühlte sich an, als würde sie unaufgefordert in ihr Innerstes vordringen.

»Darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Kaffee vielleicht? Oder einen Cognac?«

»Hilfe, ich muss noch Auto fahren«, sagte Patrizia lächelnd. »Aber eine Tasse Kaffee nehme ich gerne.«

Clarissa bot ihr einen Platz auf dem Sofa an und flitzte in die Küche um Kaffee und Geschirr zu holen. Patrizia hatte den Aschenbecher auf dem Tisch bemerkt und zog ein Päckchen Zigaretten hervor. Sie steckte eine der Zigaretten auf eine silberne Zigarettenspitze und zündete sie mit einem silbernen Zippo-Feuerzeug an. In dieser eigentlich so belanglosen Geste wirkte sie unglaublich extravagant und gleichzeitig elegant. Die Art und Weise, wie sie auf dem Sofa saß, sich lächelnd und mit wacher Aufmerksamkeit im Wohnzimmer umschaute, empfand Clarissa als einzigartig und aufregend. Aufregender noch als die Tatsache, dass es sich bei dieser Frau um eine Galeristin handelte, die ihr soeben mit Kennerblick Komplimente zu ihren Bildern gemacht hatte und diese ausstellen wollte. Clarissa fühlte sich so hausbacken und so unattraktiv, als trüge sie eine Kittelschürze und einen Dutt.

»Schönes Haus«, sagte Patrizia.

»Danke«, sagte Clarissa.

»Geschmackvoll eingerichtet. Sie haben einen sehr einfachen, aber eleganten Stil, das gefällt mir.«

Clarissa lachte. »Woher wollen Sie das wissen? Vielleicht hat mein Mann ja das Haus eingerichtet?«

»Nein«, sagte Patrizia. »In 99 Prozent aller Fälle sind es die Frauen, die Häuser und Wohnungen einrichten. Das ist kein Vorurteil, wahrscheinlich könnten Männer das auch sehr gut, aber ich denke, in den meisten Fällen übernehmen die Frauen das automatisch. War bei Ihnen sicher auch nicht anders.«

»Nein«, lachte Clarissa. »Mein Mann war auch froh darum, dass ich das übernommen habe. Aber so schön kann die Einrichtung nicht wirken, die Möbel sind uralt und haben zwei Kinder überleben müssen.«

Patrizia lächelte. »Trotzdem sieht man, dass Sie sich Mühe gegeben haben.«

Sie sah sich noch einen Moment um, aber schließlich beugte sie nach vorne und sah Clarissa direkt in die Augen.

»Also«, sagte sie. »Ich kann Ihnen natürlich nicht versprechen, dass ihre Bilder sich verkaufen werden. Aber ich wäre bereit, sie auszustellen. Von Ihnen bräuchte ich eine Auswahl Bilder, vielleicht ein paar Gedanken, die Sie sich schriftlich zu dem einen oder anderen Bild machen. Ein paar Namen wären auch nicht schlecht. Ich brauche von Ihnen ein schönes Foto, möglichst professionell, sodass man es als Pressefoto verwenden kann und eine kurze Vita. Kriegen Sie das in den nächsten vier Wochen hin?«

»Natürlich«, sagte Clarissa.

»Fein. Wenn wir das alles haben, bereiten wir eine Ausstellung vor. Das heißt, wir fertigen Schilder an für die Bilder, wir rahmen sie und hängen sie auf. Ich werde ein paar Presseleute informieren und Einladungen an meine Stammkundschaft rausschicken. Und dann sehen wir weiter.«

»Und Sie glauben tatsächlich, es könnte sich jemand für diese Bilder interessieren?«

Patrizia lächelte, sie wirkte ein wenig spöttisch.

»Wissen Sie Clarissa, ich habe nur eine kleine Galerie, aber ich bin vorerst damit zufrieden. Und Sie glauben nicht, wie viele Künstler mir die Tür einrennen, auch wenn sie klein ist und lange nicht so gut besucht wie die großen Galerien hier in Frankfurt.«

Sie drückte ihre Zigarette aus und steckte die Zigarettenspitze wieder in ein Fach in ihrer Handtasche.

»Und wenn wir mit Ihren Bildern auf Interesse stoßen besteht auch die Möglichkeit, sie mit in meinen Onlineshop aufzunehmen.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass ich Sie mit meinen Hausfrauenmalereien so derart beeindrucken könnte.«

Patrizia lachte.

»Wissen Sie, zu mir kommen Leute mit Bildern die mich fast schon an die ersten Kunstwerke eines Zweijährigen erinnern könnten und das sind gerade die Künstler, die sich für unglaublich genial halten. Mit diesen Menschen kann man auch nicht diskutieren, wenn man ihnen sagt, dass ihr Bild schlecht ist, sind sie total beleidigt und man muss noch mit platt gestochenen Reifen rechnen. Und dann gibt es wieder Menschen wie Sie, und das fasziniert mich so sehr.«

»Was?« fragte Clarissa erstaunt.

»Menschen wie Sie, Menschen die einfach nur malen, weil sie malen möchten. Menschen wie Sie, die einfach Freude an dem haben was sie tun. Die in der Lage sind, ihren Werken Emotionen innewohnen zu lassen. Emotionen, die so vielen Menschen fehlen, die sich für die größten Künstler halten. Menschen wie Sie, die so großartige Bilder malen, einfach nur für sich selbst und diese in einem Raum im Haus verstecken und sie nur guten Freunden zeigen. Und das auch immer mit einem Hauch von Zweifel an der eigenen Kunst.«

Sie lachte erneut. Ein heiteres, unbeschwertes Lachen, das Clarissa ausnehmend sympathisch fand.

»Clarissa, glauben Sie mir, ich habe Kunst studiert und mir diese Galerie aufgebaut. Ich selbst male nicht, ich fotografiere lieber. Aber ich liebe die Kunst von anderen Menschen, solange es Kunst ist. Ihre Bilder sind Kunst, und wissen Sie warum?«

Clarissa schüttelte den Kopf.

»Weil sie etwas ansprechen. Irgendetwas. Wahrscheinlich empfindet auch jeder Mensch das etwas anders, aber sie haben eine Aussage, die man nur in sich selbst finden kann, wenn man die Bilder betrachtet. Ich sehe in diesen Bildern Trauer und Sehnsucht. Aber auch Hoffnung in dem einen oder anderen. Und vielleicht interpretiere ich auch nur zu viel hinein, weil sie mich wirklich angesprochen haben. Ich neige dazu, zu viel zu interpretieren.«

Sie lachte wieder.

»Was auch immer es ist, man merkt, dass diese Bilder unter dem Einfluss mächtiger Emotionen entstanden sind und das ist immer gut.«

Clarissa lächelte ein wenig betrübt. Ihr gefiel der Gedanke gar nicht, dass andere Menschen ihre Trauer und ihre Ängste in ihren Bildern erkennen konnten, aber nun war es zu spät. Sie hatte irgendwie zugesagt, zumindest hatte sie nicht nein gesagt. Natürlich könnte sie es sich noch anders überlegen. Andererseits, wann in ihrem Leben würde sie wieder einmal eine solche Chance erhalten? Wahrscheinlich nie wieder. Schließlich ging sie nicht hausieren mit ihrer Kunst. Patrizia erhob sich, drückte ihr eine Visitenkarte in die Hand und lief Richtung Tür.

»Ich muss jetzt leider gehen«, sagte sie. »Ich habe noch einen Termin. Aber wenn Sie so weit sind, rufen Sie mich an und dann schauen wir mal, wann wir ausstellen können.«

Daniel staunte nicht schlecht, als er am Abend nach Hause kam und sich im Kreis seiner Familie zum Essen niederließ. Es gab die Frikadellen vom Mittag mit Gemüse und Kartoffeln.

»Mama wird jetzt reich«, erklärte Damian großspurig.

»Ach ja?« fragte Daniel lächelnd. »Wie darf ich das verstehen?«

»Du weißt doch, dass Anja neulich abends meinte, meine Bilder wären so gut und sie würde da jemanden kennen?«

»Stimmt. Sie hat von einer Patrizia gesprochen. Und?«

»Diese Patrizia hat mich heute Mittag angerufen und war zwei Stunden später schon hier. Sie hat sich all meine Bilder angeschaut und möchte mich unbedingt ausstellen.«

»Dich?« fragte Charlotte grinsend. Die Dreizehnjährige hatte in der letzten Zeit einen Heidenspaß daran, ihre Eltern aufs Korn zu nehmen und ihnen das Wort im Mund zu verdrehen. Oder sie allzu wörtlich zu nehmen.

»Meine Bilder natürlich.«

Daniel legte sein Besteck beiseite.

»Liebling, das ist großartig! Ich freue mich für dich! Wann geht es los?«

»Ach«, sagte Clarissa. »Ich soll meinen Bildern Namen geben und mir ein paar Sätze zu jedem Bild einfallen lassen. Und eine Vita schreiben. Und außerdem muss ich zum Fotografen um ein gutes Foto zu bekommen. Wenn ich das alles habe, muss ich sie anrufen und wir machen einen Termin aus.«

»Eine richtige Ausstellung? Mit Presse und allem was dazu gehört?«

Clarissa nickte. »Aber«, sagte sie beschwichtigend. »Es ist eine kleine Galerie mit wenigen Stammkunden, die eigentlich noch im Aufbau ist. Ich werde ganz sicher mit dieser Ausstellung nicht in allen Zeitungen auf dem Titelbild sein, wahrscheinlich muss ich eher froh sein, wenn sich überhaupt jemand dazu herablässt, die Ausstellung zu besuchen.«

»Liebling, ich bin stolz auf dich, sehr stolz sogar! Du glaubst gar nicht wie sehr! Und das wird schon, glaub mir. Wenn nur ein paar Leute kommen, das genügt schon für den Anfang.«

Später am Abend, als die Kinder im Bett waren und Ruhe im Haus eingekehrt war, zündete Daniel den Kamin an. Es war Freitagabend und die Nacht war noch jung. Als der Kamin brannte, lief Daniel in den Keller und holte eine Flasche Wein, griff im Vorbeigehen nach dem Korkenzieher im Schrank und nach zwei Gläsern und reichte ihr kurz darauf ein Glas Rotwein. Sie griff danach und stieß mit ihm an.

»Auf dich, mein Liebling«, sagte er. »Herzlichen Glückwunsch. Ich bin so froh, dass du wieder angefangen hast zu malen. Ich habe ohnehin nie verstanden, warum du damit aufgehört hast.«

Clarissa zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Mir fehlte die Lust und die Energie.«

»Und die Trauer«, warf Daniel ein, und er sah ihr ernst in die Augen.

»Vielleicht.«

Ohne es zu wollen, empfand sich Clarissa schon wieder in Abwehrposition. Sie starrte ins Feuer und nippte an ihrem Wein.

»Was würdest du dir wünschen?« fragte Daniel. Clarissa antwortete nicht. Sie zuckte mit den Schultern und konzentrierte sich auf ihr Weinglas und das Kaminfeuer.

»Ich liebe dich genauso leidenschaftlich wie vor achtzehn Jahren. Das schwöre ich dir. Und ich begehre dich genauso wie damals. Vielleicht noch mehr, denn ich hatte dich fast verloren.«

»Warum kannst du es mir dann nicht mehr zeigen?«

Er lehnte sich zurück.

»Weil du dich steif machst, sobald ich dich anfasse.«

Ja, da hatte er recht. Er hatte es oft versucht. Abende, Nächte, in denen die Leidenschaft sie beide übermannt hatte, in denen auch Clarissa nur noch eines wollte: Sich ihm hingeben, in seinen Armen versinken, sich an ihn schmiegen und sich von ihm nehmen lassen, hart und energisch, so wie er es früher getan hatte. Aber immer wieder tauchten dann im unpassenden Moment diese Bilder in ihrem Kopf auf. Die Bilder von Daniel mit der anderen Frau. Die Szene, die sie im Hotel mit eigenen Augen gesehen hatte und die eine so niederträchtige Basis für das unerträgliche Kopfkino waren. In solchen Sie merkte in solchen Momenten selbst, wie sie sich unwillkürlich versteifte und sie hasste sich dafür. Natürlich brauchte er Liebe. Natürlich brauchte er Sex. Natürlich konnte sie ihn nicht immer abwehren. Und sie sehnte sich ebenso sehr danach. Aber sie konnte auch nicht mit ihm schlafen. Es ging einfach nicht.

Daniel gab sich alle Mühe. Er schenkte ihr noch ein Glas Wein ein. Er massierte ihr liebevoll die Schultern und den Nacken. Schließlich trug er seine leicht beschwipste Frau nach oben ins Schlafzimmer, legte sich neben sie, löschte das Licht und versuchte sie einfach nur in den Armen zu halten. Es gelang ihm nicht, sie versteifte sich wie sie es seit einem Jahr immer tat. Behutsam streifte er den schmalen Träger ihres Nachthemds von ihrer Schulter und küsste sie sanft. Da sie nicht reagierte, sich aber auch nicht weinend abwandte wie sie es sonst immer tat, wurde er etwas mutiger und zog ihr langsam, Stück für Stück das Nachthemd aus. Schließlich zündete er die Kerze auf seinem Nachtschrank an. Sie lag da, mit offenen Augen und starrte an die Decke. Er spürte ihre Sehnsucht und wusste, sie wünschte sich nichts mehr auf dieser Welt als einfach richtig mit ihm schlafen zu können, wieder etwas zu empfinden, wenn er sie in den Armen hielt und gleichzeitig wusste er, dass es nicht möglich sein würde. Trotzdem bemühte er sich. Er küsste sanft ihre Brüste, tastete sich herunter zu ihrem Bauch, liebkoste mit seiner Zunge das kleine Speckröllchen, für das sie sich schämte, weil sie es nicht los wurde, aber er liebte es an ihr. Jede Kurve liebte er an ihr. Vorsichtig und zärtlich kroch er weiter nach unten, legte seinen Kopf zwischen ihre Beine und berührte mit seiner Zunge sanft ihren Kitzler. Er sah wie sie die Augen schloss, heftig bemüht, etwas zu empfinden. Sanft spielte er mit seiner Zunge an ihren zarten Lippen, drang in sie ein und schmeckte die Flüssigkeit, die aus ihr herausfloss. Es war nicht ihr Körper, der ihn nicht wollte. Es war ihr Kopf.

»Ich will dich haben«, stieß er erregt hervor. »Ich sehne mich so sehr nach dir ...«

Sie zog ihn sanft zu sich hoch und küsste ihn. Er warf ihre Beine über seine Schultern und drang in sie ein. Sie fühlte sich eng an, das erregte ihn. Seit einem Jahr versuchte er regelmäßig mit seiner Frau zu schlafen, aber es war ihm nie gelungen. So weit wie heute war er schon viele Monate nicht mehr gekommen. Hart stieß er zu und Clarissa fühlte, wie die Erregung in ihr aufstieg. Aber genau in dem Moment, als sie fühlte, dass sie einen Orgasmus bekommen würde, stieg wieder das Bild in ihr auf, das Bild von Daniel mit der anderen Frau. Tränen liefen ihr über das Gesicht und um ihn nicht zu enttäuschen, spielte sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen Orgasmus vor. Daniel deutete ihre Tränen falsch. Als er auch fertig geworden war, legte er sich neben sie und nahm sie fest in die Arme.

»Das war wunderschön, Liebling«, sagte er, noch immer heftig atmend. »Glaub mir, es wird alles wieder gut.«

»Ja«, sagte sie.

»Für dich war es doch genauso schön, ich habe doch gesehen dass du geweint hast. Weißt du noch? Das erste Mal als wir miteinander geschlafen haben, hast du auch geweint, weil du so glücklich warst.«

»Ja«, antwortete sie. Sie schlief in seinen Armen ein und in dieser Nacht erwachte sie zum ersten Mal seit langer Zeit nicht zwischendurch schweißgebadet. Am nächsten Morgen fühlte sie sich seltsam erholt. Sie hatte diesen Orgasmus vorgetäuscht, aber irgendetwas in dieser Nacht hatte ihr trotzdem sehr gut getan.