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Trotz der Einsicht, dass sie nichts besser machte als Daniel, schaffte sie es nicht, sich von Patrizia zu lösen. Der Herbst verging. Es wurde Winter. Schließlich ging es auf Weihnachten zu und Clarissa musste sich irgendwann eingestehen, dass sie nun schon seit drei Monaten ein Verhältnis mit Patrizia hatte.
Drei Monate Lügen.
Drei Monate voller Sex, nachmittags mehrmals in
der Woche mit Patrizia und abends mit Daniel.
Drei Monate, in denen sie nicht nur von einem schlechten Gewissen geplagt wurde, sondern sich auch sehr verändert hatte, innerlich wie äußerlich. Clarissa kleidete sich plötzlich nicht mehr grau in grau mit schwarz dazwischen, wie sie es früher getan hatte, sie wagte es durchaus inzwischen, auch mal etwas Farbe zu tragen. Sie schminkte sich viel sorgfältiger und es gab Tage, da konnte sie nicht auf Pumps verzichten, schon gar nicht auf die hochhackigen Schwarzen, mit den Riemchen um die Fesseln, auf die Patrizia so stand. Die Pumps, für die Daniel sie abends, wenn er nach Hause kam am liebsten sofort im Schlafzimmer auf das Bett genagelt hätte, und zwar mit den Schuhen, denn ihn machten sie genauso rasend. Sie traf sich dreimal in der Woche mit Patrizia, meist zu Besuchen in ihrer Penthousewohnung, immer am Nachmittag. Dass Patrizia zu ihr nach Hause kam, ließ sie zwar auch zu, aber nur wenn Patrizia quengelte und nur mit dem Versprechen, sich nichts anmerken zu lassen. Sex mit Patrizia fand in Clarissas Haus nicht statt. Clarissa fühlte sich Daniel gegenüber ohnehin als würde sie Hochverrat begehen. In seinem Haus, im gemeinsamen Ehebett noch Sex mit Patrizia zu haben, kam für Clarissa keinesfalls in Frage. Aber sie ließ sich ab und zu von Patrizia besuchen, trank einen Kaffee mit ihr und sie unterhielten sich einfach wie die zwei Freundinnen, die sie schließlich inzwischen auch waren. Es stimmte schon, was Patrizia mal gesagt hatte, Frauen hatten wohl tatsächlich in der Regel die gleichen Interessen. Sie hatten sich auch außerhalb ihrer sexuellen Beziehung eine Menge zu sagen.
Auch
mit Anja traf sie sich regelmäßig. Sie zog mit ihr über die
Einkaufsmeile der Frankfurter Innenstadt, trank mit ihr Kaffee,
ging mit ihr ab und zu in die Sauna. Das war ganz klar etwas Neues.
Früher hatte Clarissa sich hinter ihrer Arbeit im Haushalt
versteckt, hinter ihren eigenen Ansprüchen, alles perfekt machen zu
wollen, aber inzwischen konnte sie es recht gut mit sich selbst
vereinbaren, auch mal was liegenzulassen und es später zu
erledigen. Anja war sehr froh über Clarissas Veränderungen, aber
sie schob diese natürlich ihren kleinen Erfolgen als Malerin zu.
Von Erfolg konnte man vielleicht nicht wirklich sprechen, aber
Patrizia stellte nach wie vor Clarissas Bilder aus und hatte sie in
ihren Webkatalog mit aufgenommen. Hier und da wurde etwas verkauft
und Clarissa erhielt ab und zu eine Überweisung von Patrizia, alles
ganz ordentlich mit Abrechnung und allem Drum und Dran, wie es sich
gehörte. Denn letztlich war Patrizia immer noch Geschäftsfrau und
wusste worauf es ankam: Niemals Privates und Geschäftliches
miteinander vermischen. Immerhin bestand eine Nachfrage nach
Clarissas Bildern. In einer größeren Galerie hätte sie sicher mehr
umgesetzt, aber darauf kam es nicht an. Tatsächlich hatte Clarissa
sich in den vergangenen drei Monaten mehr Sorgen um Patrizia
gemacht als um ihren eigenen Erfolg. Die Galerie lief, aber so viel
warf sie nicht ab. Sie konnte sich nicht vorstellen, von was
Patrizia lebte, von was sie diesen Lebensstil finanzierte:
Penthouse-Eigentumswohnung und Sportwagen, ebenso ihr exquisiter
Geschmack in Kleidungsfragen. Aber Patrizia klärte sie eines
Nachmittags auf. Nach einem langen, ausgedehnten Liebesspiel erfuhr
Clarissa alles Wichtige aus Patrizias Leben.
»Ich bin Tochter«, sagte sie, und lachte. »Tochter eines schwer reichen Mannes, für den eine Penthousewohnung ein Taschengeld ist.«
»Und der hat dir das alles bezahlt?«
Patrizia nickte.
»Ja. Die Wohnung. Mein Studium. Meine Drogen während meines Studiums, denn damals hab ich wirklich wilde Zeiten genossen. Meine Liebhaber. Meine Liebhaberinnen. Mein Auto. Meine Einrichtung. Meine Galerie. Und er überweist mir noch immer monatlich einen Haufen Geld, nur damit ich nicht auf die Idee komme, ihn zu besuchen oder ihm gar Vorwürfe zu machen.«
»Magst du drüber reden?« fragte Clarissa, und augenblicklich hatte sie den mitleidigen Gesichtsausdruck, den sie sofort bekam, wenn sie erfuhr, dass ein Mensch nicht die Liebe und Wärme in einer Familie erfahren hatte, die eigentlich jedem Menschen zustand.
Patrizia zuckte mit den Schultern und steckte eine Zigarette in ihre Spitze, zündete sie an und rauchte in tiefen Zügen. Sie lag bequem in die vielen Kissen gelehnt, hatte ein Bein angewinkelt, das andere darüber geschlagen und rauchte aus der Zigarettenspitze. Eine sehr aufregende Pose. Diese Figur. Dieses laszive Rauchen. Oder waren es die außergewöhnlichen Haare?
»So viel gibt es da gar nicht zu erzählen«, sagte sie. »Mein Vater ist schwer reich, er besitzt Immobilien in ganz Deutschland, lebt von den Mieteinnahmen und baut weitere Immobilien. Er hatte einfach nie Zeit, weder für mich, noch für meine Mutter.«
Sie lachte, aber es klang bitter. »Aber für irgendwelche Schlampen, die er auf Partys kennengelernt hat, die er natürlich ohne meine Mutter besucht hat, hatte er jede Zeit der Welt. Und auch da hat er Kohle investiert in einer Höhe, da müssen wir gar nicht über die Bezahlung einer Penthousewohnung reden.«
Sie seufzte.
»Meine Mutter hat das eines Tages nicht mehr ertragen. Sie hat jahrelang alle möglichen Tabletten genommen um sich zu beruhigen, schließlich andere Tabletten, um den Depressionen zu entfliehen. Getrunken hat sie auch. Und eines Tages hat sie sich umgebracht. Sie hat sich einfach die Pulsadern aufgeschnitten.«
»Das ist schrecklich«, sagte Clarissa mitfühlend.
»Ja. Unsere Haushälterin hat sie gefunden. Ich war zu dieser Zeit im Internat. Ich war eigentlich während meiner ganzen Schulzeit im Internat. Mein Vater hatte keine Zeit sich zu Hause aufzuhalten und meine Mutter hatte keinen Nerv sich um mich zu kümmern. Sie hatte genug mit sich selbst zu tun. Und mit ihrem Kummer, als Frau eines schwerreichen Mannes, der sie von vorne bis hinten belügt und betrügt. Nun ja, irgendwann hatte ich mein Abitur, habe studiert, habe ein bisschen in der Kunstszene gejobbt. Ich habe Modell gestanden, mich fotografieren lassen und tatsächlich sogar in größeren Galerien Ausstellungen mit organisiert. Eines Tages habe ich diese Galerie aufgemacht. Gelebt habe ich hauptsächlich von Papas Geld und ich hab es krachen lassen, das kannst du mir glauben. Ich hab kein schlechtes Gewissen, er hat ja auch keines.«
»Wann habt ihr euch das letzte Mal gesehen?«
Patrizia zuckte wieder mit den Schultern.
»Ich habe keine Ahnung, es ist Jahre her.«
»Ihr habt euch mehrere Jahre nicht mehr gesehen?«
»Klar«, sagte Patrizia. »Was ist dabei?«
Sie stieß einen abfälligen Laut aus.
»Clarissa, mein Vater ist ein alter Sack, jedenfalls in meinen Augen. Auch als er vierzig war, war er für mich ein alter Sack. Er ist genau der Typ Mann den ich zum kotzen finde, verstehst du? Zu Geld gekommen, gut, er ist clever, hat viel gearbeitet und hat das Geld vermehrt, aber das liegt auch daran, dass er skrupellos ist. Für mich hat er sich nicht interessiert und für meine Mutter auch nicht. Ein Jahr nach dem Tod meiner Mutter hat er eine Frau geheiratet, die war gerade mal einundzwanzig. Mein Vater war damals schon um die fünfzig. Irgendeine kleine Schlampe die zu faul ist um zu arbeiten und der es genügt, die Püppi eines Typen mit Geld zu sein. Die haben sich gegenseitig verdient. Und mich will er doch gar nicht sehen. Er überweist mir jeden Monat ein paar tausend Euro. Wenn ich ein neues Auto brauche, muss ich nicht mal an mein Erspartes gehen, da schicke ich ihm einfach eine Mail, dass ich ein neues Auto brauche und schon habe ich fünfundzwanzigtausend Euro auf dem Konto. Mit der Wohnung hier war das genauso, ich habe sie gesehen, ich wollte sie haben. Also schickte ich ihm eine Mail und er hat mir sofort 350 000 Euro überwiesen.«
»Ist nicht dein Ernst«, sagte Clarissa. »Meine Güte.«
»Ja, viele meinen, man könnte mich deswegen beneiden, aber ich hätte vielleicht lieber eine Familie gehabt und weniger Geld.«
»Armes, reiches Mädchen«, sagte Clarissa.
Patrizia nickte. »Richtig. Armes, reiches Mädchen. Aber weißt du was? Ich glaube, ich bin trotzdem ein ganz netter Mensch geworden.«
»Das bist du«, sagte Clarissa und fiel ihr um den Hals. »Das bist du, ganz sicher.«
Patrizia sprang auf.
»Ich hab dir noch nie meine Fotos gezeigt«, sagte sie.
»Welche Fotos?«
»Ich habe dir doch eben erzählt, ich habe zeitweise gemodelt. Es war so ein Szene-Fotograf, die Fotos sind klasse geworden.«
Sie lief zu ihrer Kommode im Wohnzimmer und holte einen großen Umschlag heraus, den sie Clarissa reichte. Clarissa staunte nicht schlecht, als sie diese Fotos sah. Sie wirkten sehr futuristisch und hatten einen kleinen Touch von SM oder wie auch immer man das nennen mochte. Auf einem der Fotos sah man Patrizia mit gespreizten Beinen, die Hände in den Hüften, und bekleidet war sie kaum. Es war eher eine Art Metallkorsett, das sie umgab, und darunter trug sie eine Netzstrumpfhose. Die schwarzen, hochhackigen Pumps durften natürlich nicht fehlen. Es handelte sich um ein Foto in schwarz-weiß und Clarissa hätte es am liebsten an sich genommen und es sich über das Bett gehängt, aber das hätte sie Daniel natürlich nicht erklären können. Auf einem anderen Foto saß sie in einer Art Stahlkäfig, typischerweise aus ihrer Zigarettenspitze rauchend, in der Hocke, mit gespreizten Beinen und einem lasziven Blick im Gesicht, den irgendwie nur sie drauf hatte. Ihre Haare umschmeichelten nicht nur das Metallkorsett, sondern auch die Gitterstäbe, an denen sie sich mit einer Hand festhielt und den Betrachter mit ihrem Blick in den Käfig zu locken schien.
»Gefallen sie dir?« fragte Patrizia.
Clarissa nickte.
»Die sind phantastisch! Du siehst toll aus! Du siehst immer toll aus, aber hier auf den Fotos wirklich zum Anbeißen! Und sie sind so professionell!«
»Natürlich, ich sagte dir doch, es war ein Szenefotograf.«
»Was ist aus den Bildern geworden?«
»Ach«, sagte Patrizia. »Eines davon war mal in irgendeiner Frauenzeitung und ein anderes hat er in einem Bildband für erotische Fotografie untergebracht.«
»Meine Güte, du hättest weiter modeln sollen! Die Figur und das Aussehen dafür hast du jedenfalls. Vor allem die Ausstrahlung!«
»Mag sein«, sagte Patrizia. »Aber es ist nicht mein Ding. Es hat eine Weile wirklich Spaß gemacht und ich bin für die Fotos sehr gut bezahlt worden. Aber das ist nicht meine Welt.«
»Du hättest wirklich was erreichen können damit, Patrizia.«
Patrizia lachte.
»Ich erreiche doch auch so was. Ich habe meine eigene Galerie. Sie könnte besser laufen, aber das kommt schon noch. Ich habe keine Lust, mit meinem Aussehen Geld zu verdienen, ich möchte mich mit Kunst befassen.«
»Aber solche Fotos sind auch Kunst!«
»Ja Liebes, aber nicht meine Kunst. Ich bin hier nur das Kunstwerk.«
Sie seufzte.
»Ach Clarissa, so zu tun als wüsste ich nicht, dass ich gut aussehe, wäre doch glatt geheuchelt. Ich weiß es schon. Aber ich möchte darauf nicht reduziert werden.« »Verstehe ich.«
Patrizia lachte und zog Clarissas Kopf auf ihren Schoß.
»Du brauchst dir jedenfalls keine Sorgen um mich zu machen«, sagte sie, und streichelte durch Clarissas Haar. »Mir geht es prächtig, finanziell sowieso und wenn du bei mir bist, bin ich wunschlos glücklich!«
Seit diesem Tag hatte Clarissa aufgehört sich Gedanken um Patrizias berufliche Zukunft zu machen, auch wenn die Galerie nicht besonders gut lief. Theoretisch könnte Patrizia auch ganz einfach gar nichts tun und trotzdem in Saus und Braus leben. Clarissa fand es sehr beeindruckend dass sie sich, obwohl sie es nicht nötig hatte, trotzdem so sehr in den Aufbau ihrer Galerie hineinkniete, dass sie diszipliniert täglich früh aufstand und ihr Tagesprogramm durchzog. Es gab bei Patricia keine schwachen Tage unter der Woche, Tage an denen sie einfach im Bett geblieben wäre. Man merkte, dass sie es liebte, sich mit Kunst befassen zu können, und das ganz ohne Gelddruck. Es war egal, ob sie etwas verkaufte oder nicht, sie musste nicht Not leiden, sie musste keine faulen Kompromisse schließen und letztlich war das wahrscheinlich der einzige Weg um dauerhaft in dieser Branche existieren zu können. In ihrer Beziehung zueinander traten jedoch Veränderungen ein, die sich dauerhaft wahrscheinlich gar nicht vermeiden ließen. Nachdem Patrizia sich beklagt hatte, weil Clarissa gelegentlich mit Anja in die Sauna fuhr hatte sie beschlossen, mit Patrizia auch mehr Freizeitaktivitäten zu planen. Und so kam der Tag an dem sie mit ihr gemeinsam in die Sauna fuhr. Anja hatte eigentlich mitfahren wollen, aber nachdem sie gehört hatte, dass Patrizia mitkommen würde, doch noch abgesagt. Clarissa hatte es nicht verstanden.
»Diesen Kontakt zu Patrizia habe ich doch durch dich, Anja, wieso verhältst du dich so?«
»Sei mir nicht böse, Clarissa, aber ich möchte mit Patrizia privat nicht so viel zu tun haben. Ich habe sie zufällig kennen gelernt, sie ist mit meinem Chef befreundet. Er kauft wohl hier und da mal Bilder bei ihr. Auf einer Firmenfeier war sie mal eingeladen, daher kenne ich sie. Aber ich habe von ihr den Eindruck dass sie ein verwöhntes Gör ist und ich fühle mich in ihrer Gegenwart nicht wohl.«
»Schade«, hatte Clarissa gesagt. »Sie ist nämlich wirklich sehr nett.«
»Ich weiß. Du verbringst ja auch viel Zeit mit
ihr. Nein, keine Angst, ich bin da nicht eifersüchtig, du weißt,
dass ich keine Zicke bin. Ich kann gut damit umgehen, wenn meine
beste Freundin auch noch eine andere Freundin hat. Es ist nur
einfach so, dass ich mit dieser Frau persönlich nicht klarkomme und
deswegen genieß du deine Zeit mit ihr wenn ihr euch mögt, aber ich
mag mich da nicht beteiligen. Wir sehen uns ein
andermal.«