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Der
August ging vorbei und Clarissa hatte die beiden Briefe schon fast
wieder vergessen, denn seit vier Wochen hatte es keine Post mehr in
der Art gegeben. Sie hatte viel zu tun, hatte einige neue Bilder
fertig gestellt und sie Patrizia per Post zugeschickt. Patrizia
hielt sich seit dem letzten Telefonat dezent im Hintergrund und nur
ab und zu schrieb sie ihr eine E-Mail privaten Inhalts und fragte
nach Clarissas Befinden. Clarissa beantwortete diese Mails, anfangs
eher zaghaft, aber mit der Zeit gab sie Patrizia gegenüber doch
wieder mehr über sich preis, erzählte von ihrem Leben in Köln, von
den Kindern und wie sie sich in der neuen Stadt entwickelten. Sie
schrieb Patrizia von Daniels Job, von ihrem Haus, von Sparky, dem
Retriever, der sie ganz schön auf Trab hielt mit seinem unbändigen
Temperament. Er war inzwischen sieben Monate alt und Clarissa
freute sich über jeden Erziehungserfolg, zumal Sparky ihr erster
Hund war. Ihren letzten Hund hatte sie als kleines Mädchen besessen
und der war eigentlich von ihren Eltern erzogen worden und mit ihr
gemeinsam aufgewachsen. Sparky war inzwischen längst stubenrein, er
beherrschte einfache Kommandos wie »sitz« und »platz«. Er kam wenn
man ihn rief und er hatte begriffen, dass er zum pinkeln nicht in
die Blumenbeete oder Büsche gehen durfte, sondern ausschließlich
bei den Spaziergängen seine Geschäfte zu erledigen hatte. Clarissa
war ziemlich stolz auf sich und ihre Erziehungsergebnisse und sie
liebte Sparky sehr. Er lag ihr grundsätzlich zu Füßen, ein
typischer Rüde, der immer in der Nähe seines Frauchens sein wollte.
Aber auch den Kindern gegenüber erwies er sich als einwandfreier
Charakter. Wenn sie mit ihm tobten, war er außer Rand und Band, er
freute sich wenn sie nach Hause kamen. Mit Daniel hingegen hatte er
einige Kämpfe auszufechten gehabt. Er respektierte Daniel, aber es
hatte eine Phase gegeben in der er nicht eingesehen hatte, dass er
aus dem Schlafzimmer zu verschwinden hatte und sich stattdessen
Daniel neben Clarissa ins Bett legte. Einmal hatten sie ihn im
Schlafzimmer vergessen, weil er sich, schlau wie er war, in einer
Ecke neben dem Schrank zum Schlafen hingelegt hatte. Clarissa hatte
sich ganz den Zärtlichkeiten ihres Mannes hingegeben und plötzlich
wurden sie im Liebesspiel unterbrochen, weil Sparky zähnefletschend
vor dem Bett saß und Daniel drohend anschaute. Seither achtete
Clarissa noch mehr als vorher darauf, dass der Hund über Nacht
nicht im Schlafzimmer blieb. Diese und andere Begebenheiten
erzählte sie Stück für Stück Patrizia in ihren Mails und Patrizia
reagierte angemessen belustigt. Sie schien sich darüber zu freuen,
dass Clarissa ihr wieder etwas näher kam, rein freundschaftlich,
und hielt sich mit Liebeserklärungen absolut zurück, obwohl
Clarissa wusste, dass sie noch immer unter der Trennung litt.
Offensichtlich gab es auch keine neue Frau in ihrem Leben. Sie
hatte wohl ein paar Erlebnisse hier und da, wie sie selbst
erzählte, aber sie verschwieg Details und es war ersichtlich, dass
darunter nichts war, was sie länger beschäftigte. Trotzdem fühlte
Clarissa immer einen leichten Stich in der Magengrube, wenn
Patrizia in ihren Mails nebenbei Treffen mit Frauen erwähnte. Sie
schalt sich selbst wegen ihrer Dummheit dafür, denn natürlich war
Patrizia ein ganz normaler Mensch mit ganz normalen Bedürfnissen
und wenn sie, Clarissa, es schon nicht geschafft hatte, sich für
sie zu entscheiden, musste sie Patrizia doch zugestehen, dass diese
sich woanders neu zu orientieren versuchte. Versunken über solchen
Gedanken öffnete sie an einem strahlenden Sommermorgen Ende August
den Briefkasten und fand den dritten, anonymen Brief darin. Ihr
Herz raste. Sie hatte den Gedanken an die ersten zwei Briefe bis zu
diesem Tag tatsächlich erfolgreich verdrängt und versucht sich
einzureden, es hätte damit nun ein Ende, aber hier hielt sie jetzt
den dritten Brief in den Händen und sie wagte es kaum ihn zu
öffnen. Aber sie tat es doch, mit zitternden Fingern. »Ich habe
dich gewarnt. Nimm deine Bälger und deinen stinkenden Hund und hau
ab, sonst wird bald etwas Schreckliches
passieren.«
Clarissa fühlte wie beim letzten Brief, wie ihr
Kreislauf versagte. Sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen,
bekam einen üblen Magenkrampf und rannte erst mal zur Toilette.
Nein, sie war wirklich nicht so zart besaitet, aber diese Briefe
machten ihr Angst und dieser dritte Brief hier verursachte bei ihr
nicht nur Kreislaufbeschwerden, die völlig akut aufgetreten waren,
sondern auch massiven Durchfall. Es dauerte fast eine Stunde, bis
sie sich einigermaßen beruhigt hatte, aber sofort als sie spürte,
dass sie jetzt ruhiger war, griff sie nach einer Strickjacke und
ihrer Handtasche und machte sich auf den Weg ins Polizeirevier.
Unterwegs betete sie, dass Meierhofer im Dienst war, denn sonst
würde sie die ganze Geschichte noch einmal erzählen müssen. Sie sah
ihn schon beim Eintreten, er hatte Dienst an der Rezeption und
erkannte sie sofort wieder.
»Frau
Ostermann«, sagte er. Er wirkte ein wenig besorgt angesichts ihres
Anblicks. Clarissa wusste, sie war kreidebleich und da sie
innerlich total aufgeregt war, war ihr klar, dass sie das auch nach
außen hin ausstrahlte. Sie knallte dem Beamten den Brief auf die
Theke. »Lesen Sie bitte«, sagte sie atemlos. Meierhofer las die
wenigen Zeilen stirnrunzelnd durch.
»Wollen Sie mir jetzt immer noch erzählen, dass ich mich nicht aufregen soll, dass es bald vorbei ist, dass da nicht wirklich was Ernsthaftes passieren wird?« Meierhofer bot ihr einen Platz an und stellte ihr unaufgefordert ein Glas Wasser auf den Tisch. Er rief einen Kollegen, der ihn vertreten sollte, damit er sich um Clarissa kümmern konnte.
»Mich packt langsam wirklich die Angst«, erklärte Clarissa.
Meierhofer nickte. »Kann ich verstehen. Allerdings sind wir jetzt nicht weiter als vor vier Wochen.«
Clarissa schüttelte den Kopf. »Aber das ist doch ganz deutlich eine Drohung!«
»Das waren die beiden ersten Briefe auch bereits.«
»Sie steigern sich in der Bedeutung«, sagte Clarissa.
Meierhofer seufzte. »Frau Ostermann, ja, sie lesen sich bedrohlicher, richtig. Aber ich kann überhaupt nichts tun, keiner von uns kann großartig etwas tun. Es handelt sich um anonyme Briefe, das ist allenfalls Belästigung, und auch wir können nicht so einfach herausfinden, woher diese Briefe stammen!«
»Bitte kopieren Sie mir den Brief und legen Sie ihn zu den anderen beiden. Ich bin sicher, dass sehr bald schon etwas passieren wird und ich möchte, dass die ganze Sache dokumentiert ist!«
Meierhofer seufzte, legte den Brief auf den Kopierer und reichte Clarissa die Kopie, während er das Original in sein Ablagekörbchen legte.
»Wissen Sie was? Wir nehmen jetzt eine Anzeige gegen unbekannt auf«, sagte Herr Meierhofer. »Und sollte noch ein weiterer Brief kommen, werden wir ihn eventuell datyloskopisch untersuchen lassen. Das ist allerdings eine teure Angelegenheit, deswegen können wir solche Untersuchungen nur befürworten, wenn die Sachlage es wirklich erfordert, Sie verstehen?«
Clarissa nickte.
»Sollten Sie noch einen weiteren Brief bekommen, dann öffnen Sie ihn bitte nicht, sondern nehmen ihn am besten mit einer Pinzette aus dem Briefkasten, bringen ihn uns und fassen ihn nicht mehr als nötig an. In Ordnung?«
Wieder nickte sie.
Der
Polizist rief ein Formular am PC auf und tippte drauflos.
Zwischendurch befragte er sie nach einzelnen Daten zu ihrer Person.
Schließlich reichte er ihr die Anzeige zur Unterschrift und
überließ ihr den Durchschlag. Die Anzeige lautete auf Nötigung,
Bedrohung und Beleidigung – gegen Unbekannt. Clarissa sah keinen
Sinn mehr darin, weiterhin auf dem Revier herumzusitzen und
verabschiedete sich von Meierhofer. Unruhig und schnellen Schrittes
lief sie zurück nach Hause, holte ihren Hund aus dem Haus und lief
erst mal mit Sparky an der Leine eine Runde um das Viertel, um sich
einigermaßen zu beruhigen.
Als sie zurückkam, wählte sie – einigermaßen beruhigt – Daniels Durchwahlnummer.
»Es ist schon wieder ein Brief gekommen«, sagte sie, und las ihm den Inhalt am Telefon vor.
Daniel stöhnte. »Clarissa, warst du auf der Polizei?«
»Ja«, sagte sie. »Und man hat mir das gleiche gesagt wie vor vier Wochen. Ich soll mich beruhigen und sie können nichts tun, solange nicht wirklich was passiert. Allerdings haben sie heute endlich mal eine Anzeige aufgenommen. Wenn auch gegen unbekannt. Und wenn noch mal ein Brief kommt, soll ich ihn nicht öffnen, sondern ihn aufs Revier bringen, die wollen ihn dann vielleicht datyloskopisch untersuchen. Bedeutet, sie schauen nach Fingerabdrücken, aber das muss ja nicht heißen, dass man dadurch herausfindet wer es ist.«
»Das darf echt nicht wahr sein«, fluchte Daniel. »Soll ich nach Hause kommen, Schatz?«
»Wozu?«
»Um dich zu beruhigen.«
»Ich hab mich schon beruhigt.«
»Nein, hast du nicht. Liebling, mich regt das genauso auf, aber das Schlimmste daran ist diese Hilflosigkeit. Wenn die Polizei schon sagt, sie können nichts tun, was sollten wir dann unternehmen?«
»Keine Ahnung«, sagte Clarissa, und jetzt fühlte sie Tränen aufsteigen. »Ich weiß nicht was wir tun können und ob es nicht vielleicht wirklich so ist wie der Polizist mir gesagt hat, dass Menschen, die solche Briefe schreiben im Grunde feige sind und mit hoher Wahrscheinlichkeit nichts wirklich passieren wird ...«
»Aber wenn doch«, sagte Daniel. Er stöhnte erneut auf. »Weißt du, seit der erste Brief kam, achte ich genau auf jeden, mit dem ich zu tun habe, aber seit dem zweiten Brief noch mehr. Es fällt mir ehrlich niemand ein, den ich verdächtigen könnte!«
»Mir auch nicht.«
»Und du glaubst wirklich nicht, dass Patrizia dahinter stecken könnte? Vielleicht, weil sie dich zurückerobern will?«
»Daniel, ich weiß im Moment überhaupt nicht mehr wem ich noch trauen kann, außerhalb unserer Familie. Ich weiß es einfach nicht. Aber ich glaube nicht, dass Patrizia zu so etwas fähig wäre.«
Er seufzte. »Naja, ich erinnere dich an unsere Abschiedsfeier und an die Show, die sie abgezogen hat. Sie war nicht mal eingeladen, sie kam einfach, obwohl sie sich hätte denken müssen, dass es einen Grund dafür gibt, dass wir sie nicht eingeladen haben.«
»Das, Daniel, das waren andere Zeiten und – vor allem – andere Situationen. Patrizia würde so was nicht tun. Die Party-Aktion hingegen, das war Patrizia. Sie ist direkt. Sie inszeniert dann einen Auftritt. Feige und anonym ist nicht ihre Art.«
»Warum bist du dir da so sicher? Wie lange kennst du sie denn?«
»Nicht lange Daniel, aber ich kenne sie gut. Patrizia ist ein ganz direkter Mensch. Sie nimmt sich das was sie haben will. Aber sie weiß auch, wann sie verloren hat. Und sie hat keine kriminellen Energien.«
»Wenn Frauen verlassen werden, fühlen sie sich manchmal auch persönlich zurückgesetzt und beleidigt. Vielleicht handelt sie aus Rache heraus so und amüsiert sich köstlich über deine Angst.«
»Blödsinn«, sagte Clarissa. »Da könnte ich genauso gut behaupten, dass die anonyme Briefeschreiberin deine Ex-Geliebte aus Hannover ist.«
»Aber Clarissa, das ist fast schon zwei Jahre her.« Er seufzte.
»Na und? Sie könnte es ebenso gut sein, oder etwa nicht?«
»Glaubst du, die hat das nötig?«
»Weißt du es sicher?«
»Nein«, gab Daniel zu. »Ich weiß es nicht sicher.«
»Wann hast du das letzte Mal von ihr gehört?«
Daniel schwieg einen Moment. Clarissa spürte, dass ihm diese Frage äußerst unangenehm war. »Keine Ahnung«, sagte er. »Irgendwann habe ich noch mal eine Mail von ihr bekommen, ist ein paar Monate her.«
»Ach«, sagte Clarissa schnaufend. »Das hast du mir nicht mal erzählt. War wohl nicht wichtig, was?«
»Nein«, sagte Daniel bestimmt. »War es auch nicht.«
»Und? Was schrieb sie? Und hast du ihr geantwortet?«
Daniel stöhnte erneut auf. »Clarissa, sie hat mir nur blabla geschrieben, nichts Wichtiges. Sie hätte mich niemals vergessen können und ob es nicht möglich wäre, dass wir uns noch mal sehen. Ich habe ihr geantwortet, dass es auf keinen Fall noch einmal zu einem Treffen kommen wird, dass meine Ehe hervorragend läuft und wir auch gerade vor einem Umzug stehen und ich andere Dinge im Kopf habe, als mich mit ihr zu befassen – und dass sie mich in Ruhe lassen soll.«
Clarissa seufzte. »Siehst du, sie lässt dich nicht in Ruhe. Vielleicht ist sie es.«
»Aber Patrizia lässt dich auch nicht in Ruhe. Vielleicht ist es Patrizia.«
» Patrizia sucht eine Freundschaft zu mir, nach dem alles andere gescheitert ist. Sie verhält sich korrekt und macht mir keine Liebeserklärungen mehr. Im Gegensatz zu deinem Verhältnis.«
»Du bist gereizt, Clarissa«, sagte Daniel. »Ich verstehe dich auch, mich beängstigen diese anonymen Briefe genauso wie dich. Aber warum schmierst du mir jetzt wieder mein Verhältnis aufs Brot?«
»Das tu ich doch gar nicht«, sagte Clarissa. »Aber wenn wir schon überlegen, wer es sein könnte, dann muss man doch alles bedenken, oder? Soll ich diese Schlampe etwa übersehen im Kreis der Verdächtigen? Nur weil es zwei Jahre her ist?«
»Clarissa, ich kann es mir nicht vorstellen, okay? Was soll ich dazu noch sagen? Wie der Polizist dir auch gesagt hat, Clarissa, es kann auch ganz anders sein. Vielleicht ist hier überhaupt niemand hinter mir her oder hinter dir, sondern einfach nur total sauer auf dich oder auf mich. Oder neidisch. Du hast ein paar ganz nette Bilderverkäufe innerhalb eines Jahres zu verzeichnen, von null auf hundert sozusagen. Vielleicht hast du einen Kollegen, der von Neid zerfressen ist.«
»Ich habe keine Ahnung, Daniel. Es macht mich einfach fertig.«
»Kann ich verstehen, es geht mir genauso. Liebling, lass uns heute Abend drüber reden, ich muss mich jetzt auch erst mal sammeln.«
Clarissa verabschiedete sich und legte auf.
Den Rest des Tages verbrachte sie in großer
Unruhe. Wie immer, wenn sie nervös und unruhig war, beschäftigte
sie sich in der Küche mit Kochen und Backen. Sparky lag
schwanzwedelnd unter dem Tisch und genoss die kleinen Zuwendungen,
die ab und zu versehentlich herunterfielen. An diesem Tag fiel ihr
so einiges wirklich aus Versehen herunter, einfach weil sie nervös
war und ihre Hände nicht aufhören wollten zu zittern, auch wenn
Sparky es gewohnt war, dass in der Regel immer etwas
»versehentlich« vom Tisch fiel. Irgendwie beruhigte Clarissa die
Anwesenheit des Hundes. Er war nicht abgerichtet, aber sie war
sicher, im Notfall würde er jeden aus der Familie
verteidigen.