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Zwei Tage später wurde Clarissa entlassen. Patrizia hatte sich ein Hotelzimmer genommen, denn in dieser Situation wollte sie ihrer Freundin natürlich beistehen. Sie konnte nicht einfach nach Frankfurt zurückfahren und zur Tagesordnung übergehen.

Daniel war inzwischen längere Phasen wach und wieder fähig zu sprechen, die Polizei hatte ihn sogar schon vernommen. Er schämte sich trotzdem in Grund und Boden als Clarissa zum ersten Mal und zwei Tage nach seiner Befreiung an seinem Bett saß.

»Ich konnte mich nicht wehren«, flüsterte er und fast weinte er, so gut kannte sie ihn. Sicher, er presste wie immer die Kiefer zusammen, aber genau das war ein Zeichen dafür dass er mit den Tränen kämpfte.

»Sie hat mich mit irgendwelchen Tropfen außer Gefecht gesetzt.«

Er schluckte und starrte aus dem Fenster.

»Ich konnte nichts tun. Als ich wach wurde, war ich an allen Vieren an unser Bett gefesselt.«

Clarissa griff nach seiner Hand und hielt sie fest zwischen ihren Händen.

»Ach Daniel, jetzt haben wir schon so viel miteinander durchgestanden, das werden wir auch irgendwie überstehen, meinst du nicht?«

»Ich weiß nicht«, sagte er bedrückt. »Ich weiß nicht. Ich kann das so schnell nicht vergessen.«

Er streichelte ihr kraftlos über die Wange.

»Wenn du da nicht mit Patrizia hereingeplatzt wärest ...«

Clarissa nickte.

»Eigentlich war Patrizia diejenige die dich gerettet hat«, sagte sie. »Und mich.«

»Ich weiß. Es waren schon zwei Beamte von der Kripo hier um mich zu vernehmen. Patrizia wird jetzt eine Menge Ärger bekommen, weil sie eine Waffe besitzt, die sie nicht haben dürfte.«

Er wandte sich wieder zur Seite.

»Ich hätte niemals gedacht, dass ich mich ausgerechnet bei ihr einmal für mein Leben bedanken muss. Und für deins.«

Clarissa erhob sich vom Stuhl und setzte sich aufs Bett. Eindringlich sah sie Daniel in die Augen.

»Daniel, ich konnte nicht anders handeln, nicht aus meiner Perspektive heraus, ich musste bei Patrizia unterkommen. Bitte versuch mich zu verstehen.«

Er nickte.

»Ja, ich versteh dich doch. Es hat mich aufgeregt und der Gedanke hat mich fertig gemacht dass du ausgerechnet bei ihr bist. Aber jetzt kann ich irgendwie verstehen warum du zu ihr gegangen bist. Sie scheint doch ziemlich beherzt zu sein.«

Erneut wandte er sich ab und starrte aus dem Fenster.

»Sie hat darauf bestanden, mich zu begleiten, als ich nach Köln zurückfahren wollte um nach dir zu sehen. Ich habe mir fürchterliche Sorgen gemacht, weil ich dich nicht erreichen konnte.«

»Niemand von uns hätte auf Andrea getippt, was?« fragte Daniel tonlos.

Clarissa schüttelte den Kopf.

»Ich fand sie ... na ja. Eiskalt. Sie ist mir berechnend erschienen. Aber dass sie verrückt ist – nein, das hätte ich nicht gedacht.«

»Die Beamten meinten, sie hätte alles gestanden. Die Briefe. Den Mord an unserem Hund. Die Sache mit dem Beerdigungsinstitut, was man ja bestenfalls noch als groben Unfug bezeichnen könnte, wenn der Sache nicht so vieles vorausgegangen und gefolgt wäre. Die Sache mit der Annonce. Sie hat alle meine Telefonate in der Firma mitgehört, sie hat Erkundigungen eingezogen, wo auch immer, ich habe keine Ahnung. Sie wusste wohl auch genug über dich und deswegen diese rote Perücke mit den lockigen, langen Haaren. Geschickt. Aber woher sie das alles wusste, es ist mir wirklich ein Rätsel.«

»Sie war wohl besessen von dir.«

Er zuckte mit den Schultern.

»Ich schwöre dir, ich habe ihr niemals einen Anlass zu irgendwelchen Hoffnungen gegeben. Sie hat auch nie durchblicken lassen, dass sie an mir interessiert ist! Sie war jeden Tag gleich, hat einfach mit ihrem frostigen Gesicht und ihrer bekannt nicht liebenswürdigen Weise im Vorzimmer gesessen und ihren Job gemacht, das war alles. Und ich habe ihr auch niemals signalisiert, dass mich an ihr mehr als ihre Funktion als Sekretärin interessieren könnte.«

»Das wäre bei dieser Frau auch schwer vorstellbar.«

»Ich verstehe diese Gedankengänge nicht. Und vor allem Clarissa, du hättest sie erleben müssen, wie sie sich in ihren Wahnsinn hineingesteigert hat, es wurde stetig schlimmer. Anfangs erschien sie noch ganz normal und sprach auch ganz normal, aber mit jeder Minute die verging, schien sie mehr und mehr vom Irrsinn befallen zu sein.«

»Was machen wir jetzt?« fragte Clarissa unvermittelt.

»Wie meinst du das?«

»Ich frage dich was wir jetzt tun wollen. Ich werde heute entlassen. Die Beamten haben den Tatort inspiziert und außerdem haben sie sowieso ein umfassendes Geständnis. Ich kann heute wieder ins Haus zurück. Aber was soll ich in diesem Haus? Ich kann mich dort nie wieder wohl fühlen! Ich kann nie wieder in diesem Schlafzimmer schlafen! Und ich glaube auch nicht, dass du es kannst. Es ist im Moment auch unbewohnbar. Die Kripo hat Hunderte von Fotos gemacht, die sind soweit durch mit ihrer Spurensicherung. Das Haus ist eine Müllhalde. Vieles ist kaputt, in der Küche modern ehemalige Fleischvorräte und jede Menge Müll vor sich hin. Ich werde tagelang Arbeit damit haben, das alles wieder in Ordnung zu bringen und die Dinge zu retten, die noch brauchbar sind. Aber ich kann dort nie wieder schlafen. Ich kann dort nicht mehr leben! Was tun wir, Daniel?«

Er zuckte mit den Schultern. Clarissa merkte, dass er erneut schläfrig wurde. Er bekam noch immer starke Medikamente, das wusste sie.

»Keine Ahnung. Nein, du hast recht, ich will da auch nicht mehr hin. Aber alles was wir haben ist in dem Haus und ich habe hier meine Arbeit. Was denkst du was wir tun sollten?«

»Zuerst werde ich wohl oder übel zurückgehen müssen. Patrizia ist noch da, sie wird wohl noch bei mir bleiben. Sie wollte heute Vormittag nach Frankfurt fahren um Charlotte und Damian abzuholen.«

»Die sind noch in Frankfurt? Alleine?«

Clarissa nickte. »Sie sind in Patrizias Wohnung. Sie sind sehr erwachsen geworden, Daniel. Patrizia hat täglich mehrfach mit ihnen telefoniert.«

»Wissen sie was passiert ist?«

Clarissa schüttelte den Kopf.

»Nein, nicht alle Details. Aber wir müssen es ihnen erzählen, jedenfalls das, was du erzählen möchtest. Wenn dir danach ist, vorher nicht. Sie ist jedenfalls heute früh nach Frankfurt gefahren um die Kinder zu holen und wollte sich bei mir per Handy melden wenn sie wieder da ist.«

»Geht in ein Hotel«, sagte Daniel. »Tut euch das nicht an in dem Haus.«

Clarissa schluckte ihre Tränen hinunter. Fast wäre sie tatsächlich in hysterisches Weinen ausgebrochen. Sie war so erleichtert, dass sie noch rechtzeitig gekommen war. So erleichtert darüber, dass sie auf das schlechte Gefühl in ihrem Bauch gehört hatte. So erleichtert, dass Patrizia diese Waffe bei sich hatte und nicht gezögert hatte, sie einzusetzen. Alles hatte ein gutes Ende gefunden. Trotzdem stand sie vor den Trümmern ihrer ehemals vermeintlichen Zukunft. In diesem Haus würden sie niemals mehr leben können, keiner von ihnen. Sie seufzte. »Daniel, ich weiß nicht. Ich werde ganz sicher ins Haus fahren, jemand muss sich ja um die Sauerei kümmern, die diese Frau dort veranstaltet hat, das ist wahrscheinlich Arbeit für mehrere Tage. Aber wie schon gesagt, schlafen möchte ich dort nicht, auch wenn der Spuk jetzt vorbei ist und diese Irre inzwischen wohl in Gewahrsam. Ich werde in ein Hotel gehen, übergangsweise. Am liebsten wäre mir, wir könnten wieder nach Frankfurt ziehen.«

»Unser Haus ist vermietet und ich habe hier in Köln meine Arbeit.«

»Den Mietern kann man kündigen und du könntest pendeln, das tun andere Männer auch.«

Daniel starrte wieder aus dem Fenster.

»Köln hat uns kein Glück gebracht, Daniel. Ich will nach Hause.«

»Wir könnten uns auch in Köln nach einem anderen Haus umsehen. Es ist nicht die Stadt, Liebling, es ist auch nicht das Haus. Es war einzig und allein Andrea. In diesem Haus kann ich auch nicht mehr leben. Ich könnte dieses Schlafzimmer nie wieder betreten. Wir sollten uns ein neues Haus suchen und so schnell wie möglich umziehen.«

»Ja, das könnten wir.«

»Lass uns in Ruhe darüber nachdenken, wenn es mir besser geht. Clarissa, sei mir nicht böse, mir fallen die Augen zu. Sie geben mir irgendwelche Schlafmittel und andere Medikamente, ich kann kaum die Augen offen halten.«

Clarissa verabschiedete sich mit einem langen, sanften Kuss von ihrem Mann und lief nach unten, in das Foyer des Krankenhauses um dort auf Patrizia zu warten.