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Patrizia war in der Regel eine Frau, die sich an Vereinbarungen hielt, aber nicht in diesem Fall. Clarissa war keine drei Minuten hinter der Haustür verschwunden, da stieg sie leise aus dem Auto, umklammerte die Walther-Pistole die sie in der Handtasche mit sich führte und von der Clarissa natürlich nichts wusste und schlich leise zur Haustür hinein. Sie hatte ein sehr schlechtes Gefühl bei der Sache gehabt, als Clarissa hinter der Tür verschwunden war und als sie das Haus betrat, wusste sie, dass sie richtig gehandelt hatte. Instinktiv spürte sie, dass es wichtig war, sich äußerst leise zu bewegen.
Irgendwie ahnte sie auch, dass sie sich weder mit dem Wohnzimmer, noch mit der Küche aufhalten musste und schlich leise nach oben. Schon auf der Treppe hörte sie ein Schimpfen und Fluchen.
Es war eine Frauenstimme, aber es war nicht die von Clarissa. Sie kam aus dem Zimmer das in der Mitte des Stockwerks lag. Leise öffnete sie die Tür und sah Daniel auf dem Bett liegen. Er schien bewusstlos zu sein. Auf ihm kniete eine Frau und schlug ihm immer und immer wieder ins Gesicht.
»Diese Schlampe, du wirst es sehen, ich werde sie umbringen!« fluchte die Frau, während sie Daniel ins Gesicht schlug. Sie schien aber nicht wirklich fest zuzuschlagen, es wirkte eher so als wollte sie ihn aus seiner Bewusstlosigkeit erwecken. Patrizia entsicherte blitzschnell ihre Waffe und richtete sie auf die Frau, die sich erstaunt umdrehte und ihr direkt ins Gesicht sah.
»Runter da!« rief Patrizia. »Stell dich neben das Bett und heb deine Hände hoch!« Die Frau lachte hysterisch auf, dann sprang sie wie eine Katze vom Bett und auf Patrizia zu, aber Patrizia war geistesgegenwärtig genug und drückte einfach ab.
Laut hallte der Schuss durch den Raum, die Frau prallte zurück und fiel rücklings neben dem Bett zu Boden.
Auf dem Boden liegend sah sie erstaunt auf ihren linken Oberarm, dann zu Patrizia, die breitbeinig dastand, die Waffe mit beiden Händen umklammert und auf sie zielte.
»Du hast mich angeschossen«, sagte sie erstaunt.
»Ja, das habe ich«, sagte Patrizia. »Das habe ich. Und ich schieße gleich noch mal. Wo ist Clarissa?«
Die Frau lachte wieder genauso hysterisch auf wie zuvor.
»Such sie doch, du Fotze!«, sagte sie. »Du musst sie aber nicht rufen, denn sie kann dir nicht mehr antworten. Ich habe sie erschlagen.«
Sie zeigte auf ein Regalbrett, das an der Wand lehnte und an dem Blut klebte. Patrizia fuhr dieser Anblick durch Mark und Bein und sie hatte das Gefühl als würde sich ihr Magen drehen.
»Das war das Erstbeste das ich greifen konnte, als ich mitbekommen habe, dass diese Hure in mein Haus gekommen ist.«
»Dein Haus?« fragte Patrizia. »Soviel ich weiß, ist das hier das Haus von Clarissa und Daniel.«
»Daniel wird sich von ihr scheiden lassen«, sagte die Frau. »Und dann wird er mich heiraten. Das hier ist mein Haus.«
»Ich glaube nicht, dass Daniel überhaupt noch irgend irgendetwas tun kann«, sagte Patrizia. »Sieht aus als würde er nicht mehr leben.«
»Doch, er lebt noch, mein süßer Schatz. Er schläft nur. Er ist sehr müde. Die letzten fünf Tage waren sehr leidenschaftlich. Wir haben praktisch pausenlos gefickt. Und jetzt ist er müde, mein armer Schatz.«
Sie hatte einen irren Gesichtsausdruck und ihre Augen glänzten als stünde sie unter Drogen. Patrizia erschauerte innerlich. Sie war gut trainiert. Sie konnte schießen. Sie besaß keinen Waffenschein und die Walther hatte sie nicht ganz so legal erworben, aber sie konnte verdammt gut mit einer Waffe, speziell mit dieser hier umgehen. Dafür hatte ein guter Freund von ihr gesorgt, der nämlich, der ihr diese Waffe verkauft hatte.
Aber sie wusste nicht wie sie sich verhalten sollte. Mit solchen Irren hatte sie nie zu tun gehabt. Sollte sie noch einmal schießen? Diese Frau aus dem Verkehr ziehen? Wohin sollte sie schießen? Sie wollte sie nicht töten, aber sie musste sie überwältigen, sie außer Gefecht setzen. Sie verspürte keine Angst, aber sie spürte, wie das Adrenalin durch ihre Adern strömte. Verrückte konnten irrsinnige Kräfte entfalten und sie wusste, sie musste vorsichtig sein. Die Irre nicht aus den Augen lassen. Sie scheute sich nicht davor abzudrücken und sie verfehlte auch in hektischen Situationen ihr Ziel nicht. Aber sie hoffte, dass sie kein zweites Mal schießen musste.
Die Frau nahm ihr die Entscheidung ab. Sie stand langsam auf und bewegte sich wieder auf das Bett zu in Richtung Daniel.
»Lass ihn in Ruhe«, sagte Patrizia scharf. »Geh zur Wand rüber!«
»Pah«, sagte die Frau. »Du kannst mir doch in meinem eigenen Haus nicht befehlen, wie ich mich zu verhalten habe!«
Sie ging noch einen Schritt auf Daniel zu und im gleichen Moment schoss Patrizia noch ein zweites Mal. Sie traf den Rücken der Frau, in Höhe des rechten Schulterblattes. Es ertönte ein kurzer Schrei, dann sank die Frau stöhnend in sich zusammen und glitt zu Boden.
Patrizia griff nach einer Krawatte die auf einem Stuhl lag und band ihr zur Sicherheit die Hände zusammen. Dann lief sie schnell zum Bett und lauschte auf Daniels Atmen. Er lebte noch. Aber er sah erbärmlich aus. Wahrscheinlich hätte er nicht mehr lange überlebt. Sie stieß mit dem Fuß an den Oberschenkel der Frau die nun angeschossen und mit gefesselten Händen auf dem Boden lag.
»Lass mich in Ruhe«, heulte sie.
Patrizia überprüfte die Fesseln, denn sie musste nach Clarissa suchen und wollte sich vor unangenehmen Überraschungen schützen. Sie lief in den Raum nebenan und fand Clarissa am Boden liegend. Sie hatte eine blutende Wunde am Kopf und schien auch bewusstlos zu sein, aber sie war am Leben.
Erleichtert atmete Patrizia auf und griff nach ihrem Handy, während sie wieder zurück ins Schlafzimmer lief und nach der Frau sah, die sie angeschossen hatte. Sie wählte den Notruf.
»Notfall«, sagte sie. Sie gab die Adresse durch. »Drei schwer verletzte Menschen hier im Haus, schicken Sie unbedingt Beamte, Notarzt und Krankenwagen! Ist es möglich, Herrn Meierhofer zu schicken? Ich denke, er heißt Meierhofer! Er ist Polizist auf irgendeinem Revier hier in der Nähe, es gab eine Vorgeschichte und soviel ich weiß hat er in diesem Fall ermittelt!«
Patrizia beglückwünschte sich zu ihrem guten Gedächtnis. Clarissa hatte den Namen des Beamten nur ein einziges Mal erwähnt und das eher abfällig, weil er mit seinen Ermittlungen nicht weiter kam. Sie hörte wie am anderen Ende per Funk ein Streifenwagen losgeschickt wurde und ein Notarzt bestellt wurde.
»Gut«, sagte Patrizia. »Die Haustür steht auf. Und sagen Sie den Beamten, sie sollen bloß nicht auf mich schießen, ich stehe hier nämlich mit einer Waffe in der Hand. Aber ich muss die Täterin hier in Schach halten, die das Ganze verursacht hat, verstehen Sie?«
»Hilfe ist unterwegs«, versicherte ihr der Beamte.
Patrizia legte auf. Es dauerte tatsächlich nur ein paar Minuten, bis sie das Martinshorn hörte. Sie wusste nicht ob es vom Rettungswagen stammte oder von der Polizei, aber gleich darauf hörte sie wie mehrere Beamte das Haus stürmten. Einer von ihnen richtete sofort seine Waffe auf sie und Patrizia ließ ihre eigene Waffe zu Boden fallen und kickte sie mit dem Schuh in die Richtung der Beamten, bevor sie ihre Hände hob.
»Ich bin nicht die Täterin«, sagte sie. »Diese Frau da ...«
Der Beamte eilte auf die Frau zu, die offensichtlich schwer verletzt auf dem Boden lag.
Patrizia seufzte erleichtert auf und lehnte sich an den Kleiderschrank. »Gott sei Dank …« murmelte sie.
Der Beamte sah nach Daniel, der noch immer bewusstlos war.
»Sie hat ihn hier tagelang festgehalten«, sagte Patrizia. »Das hier ist sein Haus. Im Zimmer nebenan liegt seine Frau.«
»Und wer sind Sie?« fragte der Beamte.
»Ich heiße Patrizia Schweiger und bin mit der Ehefrau befreundet. Diese Leute hier wurden monatelang bedroht, und meine Freundin kam daraufhin zu mir, ich lebe in Frankfurt. Aber jetzt hat sie tagelang ihren Mann nicht erreicht und sich Sorgen gemacht, also sind wir hergefahren.«
»Warum haben Sie nicht die Polizei verständigt?« fragte der Beamte.
»Weil wir nicht ahnen konnten, dass das hier so dramatisch ist. Wir wussten nicht, dass hier jemand Fremdes im Haus sein würde. Meine Freundin wollte nur nach ihrem Mann sehen, weil sie ihn tagelang nicht erreichen konnte.«
»Ist der Rettungsdienst schon da?« brüllte der Beamte seinem Kollegen zu, der inzwischen nach nebenan gelaufen war um nach Clarissa zu sehen.
»Die kommen gerade!« Der Beamte versuchte, Daniel aus den Handschellen zu befreien.
»Scheiße«, fluchte er. »Ich schätze, den Schlüssel hat sie«, sagte Patrizia und zeigte auf die Frau am Boden.
»Im Bad auf der Ablage«, stöhnte die Frau.
Der Beamte eilte ins Bad und holte den Schlüssel für die Handschellen. Er befreite den ohnmächtigen Daniel von seinen grausamen Fesseln und im gleichen Moment stürmte der Notarzt mit ein paar Sanitätern herein.
»Ach du Scheiße«, sagte der Arzt. »Das sieht nicht gut aus!«
Er untersuchte Daniel notdürftig und legte ihn dann gemeinsam mit zwei Kollegen, die noch mit anpackten, auf die Transportliege. Der vierte Kollege der mit anwesend war, legte Daniel sofort eine Infusion und versorgte ihn mit Sauerstoff.
»Der Mann ist völlig dehydriert, noch ein Tag länger und er wäre gestorben.« »War schon jemand im Nebenzimmer um nach Clarissa zu sehen?« fragte sie. Der Sanitäter nickte. »Zwei meiner Kollegen sind drüben«, sagte er.
Fast gleichzeitig erschien ein Sanitäter im Schlafzimmer. »Der Frau geht es einigermaßen gut«, sagte er. »Sie ist wieder bei Bewusstsein, aber noch etwas benommen.«
»Darf ich zu ihr?« fragte Patrizia.
»Dürfen Sie, aber wir transportieren sie gleich ab«, sagte er. »Sie muss im Krankenhaus gecheckt werden.«
Patrizia lief nach drüben und sah Clarissa auf der Trage liegen. Sie wirkte schwach, über ihren Wangen hatten sich Flecken von getrocknetem Blut gebildet, aber sie lächelte zaghaft.
»Wie geht es Daniel?« fragte sie matt.
Patrizia setzte sich neben sie.
»Er wird es überleben«, sagte sie. »Mach dir keine Sorgen. Er ist dehydriert und hat auch sonst ein paar Schrammen abbekommen, aber er wird es schaffen.« Clarissa liefen Tränen über das Gesicht.
»Danke Patrizia. Was für ein Glück, dass du so ein Trotzkopf bist und mich begleitet hast, sonst wäre Daniel wohl gestorben und ich auch. Wer ist diese Irre überhaupt?«
Patrizia zuckte mit den Schultern.
»Ich hab keine Ahnung, das wird sich noch rausstellen. Ich habe sie angeschossen, sie wird auch ins Krankenhaus gebracht werden, aber ich nehme an, unter Polizeigewahrsam.«
Clarissa nickte.
»Endlich werden wir erfahren wer es ist.«
»Du hast sie nicht gesehen?« »Nein, sie hat mir von hinten auf den Kopf geschlagen, ich konnte nicht erkennen wer es ist.«
»Es wird sich klären.«
»Du hast sie angeschossen?«
Patrizia nickte.
»Du hast eine Waffe?«
»Ja.«
»Mein Gott.«
»Genug jetzt«, sagte der Sanitäter. »Wir werden Frau Ostermann jetzt ins Krankenhaus fahren, wenn Sie möchten, können Sie hinterher fahren und dort warten bis sie ärztlich versorgt ist. Ich nehme an, dass Sie eine Freundin sind?« »Ja«, sagte Patrizia.
Hinter ihrem Rücken ertönte plötzlich ein Räuspern. Sie fuhr herum.
»Guten Tag, ich nehme an, Sie sind Frau Schweiger?«
Patrizia musterte den Beamten, der den Raum betreten hatte und nickte. »Meierhofer mein Name«, sagte er, und gab ihr die Hand.
»Ins Krankenhaus können Sie später fahren, ich fürchte ich muss Sie erst mal befragen. Fühlen Sie sich dazu in der Lage? Sie haben keine Verletzungen, wenn ich das richtig sehe?«
»Nein«, sagte Patrizia. »Natürlich stehe ich
Ihnen zur Verfügung.«