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Am Sonntag darauf erwachte Clarissa aus einem leichten, traumlosen Schlaf, hüpfte nervös unter die Dusche und ging, nur mit Bademantel bekleidet, in die Küche um das Frühstück zu machen. Es war acht Uhr. Ihre Ausstellung würde um zehn Uhr beginnen. Mit fahrigen Händen bereitete sie Rühreier für die ganze Familie zu, briet ein paar Scheiben Speck, legte ein paar Brötchen zum Aufbacken in den Backofen und deckte den Tisch, während die Kaffeemaschine die letzten Seufzer von sich gab. Dann weckte sie ihre Familie. Daniel war bereits wach und kroch sofort aus dem Bett. Damian und Charlotte brauchten mehrere Aufforderungen und als Clarissa schließlich um halb zehn, bekleidet mit einem neuen Kostüm das sie sich extra für diesen Anlass gekauft hatte, fertig zurechtgemacht im Flur stand und Daniel nur noch sein Jackett überwarf, stellte sich heraus, dass die Kinder keine große Lust verspürten, sich die Ausstellung ihrer Mutter anzuschauen.

»Das ist sehr respektlos von euch«, sagte Daniel vorwurfsvoll.

»Für eure Mutter ist das ein wirklich großer Tag!«

»Ach Mum, bist du wirklich böse?« fragte Damian. »Ich kenne doch deine Bilder und ich habe einfach keine Lust! Heute ist Sonntag, es wird den ganzen Tag gute Filme im Fernsehen geben und ich mag nicht zwischen lauter Kunstfuzzies rumstehen, das sind bestimmt komische Leute!«

»Schon gut«, sagte Clarissa.

Sie war leicht gereizt. Nicht nur wegen ihrer Nervosität, die sie schon während der ganzen letzten Tage begleitet hatte, sondern auch, weil sie enttäuscht vom Verhalten ihrer Kinder war. Sicher, sie wusste auch dass die beiden nicht viel mit ihren Bildern anfangen konnten. Aber sie hatte unglaublich viele Fußballspiele besucht, weil ihr Sohn mitgespielt hatte, obwohl sie Fußball hasste. Mehrere Theateraufführungen der Schule, in denen Charlotte mitgewirkt hatte. Sie ging auf jeden Elternabend, auf jede lächerliche Veranstaltung der Schule und ihren Kindern war es zu viel, sie auf ihre erste Ausstellung zu begleiten? Nun gut, vielleicht war der Vergleich ein wenig ungerecht. Wahrscheinlich war es normal, sie nabelten sich langsam ab. Wäre ein solches Ereignis zehn Jahre später eingetreten, nach dem die beiden längst die Pubertät hinter sich hatten, wären sie vielleicht stolz auf sie gewesen und hätten sie schon alleine deswegen begleitet. Vielleicht konnte man das in diesem Alter, in dem sie sich jetzt befanden, nicht erwarten. Trotzdem bemerkte Clarissa, nicht zum ersten Mal in letzter Zeit, dass sie mehr an sich denken musste, statt immer kompromisslos alles für den Rest der Familie zu tun. Vielleicht sollte sie sich einfach auch mal ausklinken, bei passender Gelegenheit.

»Clarissa, ich finde nicht, dass wir die beiden jetzt schonen sollten«, sagte Daniel. »Ich bestehe darauf, dass sie uns begleiten. Es ist deine erste Ausstellung!«

»Ich bestehe nicht drauf«, sagte Clarissa. »Es wird sicher mal wieder eine Theateraufführung geben oder ein Fußballspiel, da wird mein Platz auch leer bleiben.«

Sie lief nach draußen und kümmerte sich nicht mehr darum ob die Kinder nun mit wollten oder nicht. Daniel blieb unschlüssig stehen.

»Das ist sehr verletzend für eure Mutter«, sagte er zu Charlotte.

»Ach«, sagte Charlotte gelassen. »Mum versteht das.«

»Seid ihr tatsächlich dieser Meinung?« fragte Daniel. »Dass eure Mutter alles versteht und alles verzeiht?«

Damian nickte. »Alles vielleicht nicht, aber solche Sachen schon«, sagte er und lief schulterzuckend nach oben in sein Zimmer.

Daniel verließ nachdenklich das Haus und folgte seiner Frau zum Auto. Patrizia hatte darauf bestanden, dass Clarissa pünktlich zum Beginn der Ausstellung anwesend sein sollte und sie schafften es gerade noch um fünf Minuten vor zehn Uhr die Galerie zu betreten. Clarissa stellte ihr Daniel als ihren Mann vor und Daniel reichte Patrizia mit seinem schönsten Lächeln im Gesicht die Hand. Sie konnte nicht anders, sie musterte Patrizia ganz genau. Es hatte nichts mit Daniel zu tun. Patrizia war eine tolle Frau und sie hatte sie gehabt. Oder sich von ihr nehmen lassen, wie auch immer man das sehen mochte. An diesem Tag trug sie einen schwarzen Hosenanzug, der mit Sicherheit von einem teuren Designer stammte, denn er saß einwandfrei, wirkte schlicht, aber sehr edel und stand ihr ausgezeichnet. Wie immer hatte sie ihre wilden Locken im Nacken zu einem lockeren Zopf gebunden, aber ein paar Strähnen hingen lasziv an der rechten Seite ihrer Stirn herunter und sie sah umwerfend aus. Während Daniel sich mit einem Sektglas in der Hand durch den riesigen Raum bewegte und sich die Bilder seiner Frau in diesem völlig anderen Umfeld anschaute, die Kommentare darunter gründlich durchlas, stieß Patrizia mit Clarissa an.

»Auf dich«, sagte sie, und konnte es sich nicht verkneifen, unter dem hohen Bistrotisch, an dem sie beide standen, nach ihrer Hand zu greifen und sie leicht zu streicheln. Clarissa lächelte und zog, mit einem kurzen Seitenblick auf ihren Mann, ihre Hand zurück.

»Er wirkt sympathisch«, sagte Patrizia. »Gar nicht wie einer der seine Frau bescheißt.«

Clarissa lächelte.

»Na und, ich wirke doch auch nicht wie eine die ihren Mann bescheißt, oder?«

Patrizia grinste und tätschelte ihre Hand.

»Nein. Aber ich bin froh dass du es getan hast. Wann sehen wir uns wieder? Alleine meine ich?«

Ein sehnsuchtsvoller Blick traf Clarissa und augenblicklich straffte sich ihre Körperhaltung. Ja, diese Frau gab ihr etwas. Nicht nur die Möglichkeit, ihre Bilder auszustellen, es war so viel mehr und es ging um Dinge die noch viel wichtiger waren als ihre Bilder. Sie gab ihr das Gefühl, sehnsüchtig begehrt zu werden. Es stärkte ihr Selbstbewusstsein auf eine Art dass sie jetzt schon, wenige Tage nach ihrem ersten Liebeserlebnis mit Patrizia bemerkte, wie positiv sich das Ganze auf sie auswirkte. Jahrelang hatte sie sich ohne es selbst wirklich zu merken, immer schwächer gefühlt, immer grauer und zu der Zeit als sie Daniel auf die Schliche gekommen war, was er hinter ihrem Rücken trieb, hatte sie schon seit längerer Zeit das Gefühl gehabt, eine kleine graue Maus zu sein. Aber Patrizia hatte ihr gezeigt dass sie das nicht war, ganz im Gegenteil. Ja, sie tat ihr unglaublich gut. Ihre Blicke waren unglaublich sehnsüchtig und sie fühlte, Patrizia hätte alles stehen und liegen lassen für ein paar ruhige, unbeobachtete Minuten mit ihr.

»Wann immer du möchtest«, sagte Clarissa lächelnd.

»Morgen«, sagte Patrizia. Sie seufzte und bedachte Clarissa mit einem sehnsüchtigen Blick. »Bitte morgen, ja?«

»In Ordnung.«

In diesem Moment kam Daniel wieder auf sie zu.

»Kompliment, Liebling«, sagte er, und küsste Clarissa auf die Wange. »Deine Bilder sind großartig.«

»Ich hoffe, das ist Ihnen früher auch schon aufgefallen«, sagte Patrizia. »Übrigens hätte ich nichts dagegen wenn wir uns duzen, mit Clarissa duze ich mich ja auch.«

Daniel nickte. »Fein.« Er räusperte sich. »Und natürlich ist mir aufgefallen, dass die Bilder großartig sind, aber sie wirkten ja zu Hause eigentlich kaum. Clarissa hielt sie oben in ihrem Zimmer praktisch unter Verschluss, hat sie gemalt und an die Wand gelehnt und irgendwann das Nächste dazu gestellt. Hier wirkt das ganz anders, jetzt sind sie gerahmt, sie haben eine tolle Anordnung gefunden und ich bin ziemlich beeindruckt.«

»Das ist schön«, sagte Patrizia. »Sie sind nämlich wirklich ausgezeichnet.«

In diesem Moment betraten zwei Frauen die Galerie, beide etwa Anfang dreißig, eine von ihnen mit Aktentasche und eine andere mit einer sehr teuer wirkenden Kamera um den Hals.

»Oh, die Presse«, sagte Patrizia und lief strahlend auf die beiden Frauen zu, um sie zu begrüßen.

»Presse?« wiederholte Clarissa und sie wirkte im ersten Moment ein wenig erschrocken. Patrizia hingegen wirkte locker und entspannt, plauderte mit den Frauen, stellte sie Clarissa vor und während die eine ein Foto nach dem anderen knipste, zuerst einige von Clarissa, dann einige von Patrizia und schließlich ein paar von den Bildern, kramte die andere aus ihrer Aktentasche einen Block und begann Clarissa ein paar Fragen zu ihren Bildern zu stellen.

»Siehst du«, sagte Patrizia eine halbe Stunde später. »Jetzt hast du sogar schon ein Interview gegeben. Ich rechne mit noch etwas mehr Presse. Morgen solltest du dir jedenfalls die Rundschau kaufen und vor allem in der nächsten Zeit ein wenig nach den kostenlosen Ausgaben schauen, die jede Woche in den Briefkästen landen oder die man in den Geschäften mitnehmen kann.«

Clarissa nickte.

»Rundschau und kostenlose Zeitungen?« fragte Daniel. »Ist das nicht ein bisschen wenig?«

Patrizia grinste. »Daniel, deine Frau malt zwar großartige Bilder, aber noch ist sie unbekannt. Da muss man froh sein, wenn überhaupt Presse kommt.«

»Aber sie ist doch eine regionale Künstlerin, da sollte sich doch die gesamte regionale Presse dafür interessieren!«

»Ach«, sagte Patrizia. »Es klingt vielleicht desillusionierend, aber man kann froh sein, wenn von zehn Journalisten, die man zu einem Event einlädt, wenigstens einer kommt. Was die schreiben erfahren sie meist durch Nachrichtenagenturen und was regionale Events betrifft – nun ja, da will keiner was über jemanden schreiben, der sich noch keinen Namen gemacht hat. Wenn man sich erst mal einen Namen gemacht hat, rennen sie einem die Bude ein. Ich schwöre dir, ich hab noch nie so viel Schleimerei erlebt wie von Presseleuten, wenn sie unbedingt ein Interview mit jemandem haben möchten, der bereits bekannt ist. Es ist illusorisch zu glauben, sie interessieren sich für dich wenn du keinen großen Namen hast.«

»Aha«, sagte Daniel. »Na, dann wollen wir mal hoffen, dass sich heute noch ein paar Gäste hierher verirren.«

»Ich habe mein Bestes getan«, sagte Patrizia und warf selbstbewusst ihren Kopf in den Nacken. »Ich habe die örtliche Presse informiert und zahlreiche persönliche Einladungen rausgeschickt. Das Event ist auch auf meiner Homepage eingetragen und natürlich in den Veranstaltungskalendern von Frankfurt. Zu Ausstellungen kommen die Leute immer nur vereinzelt und meist ohnehin erst am Nachmittag.«

Clarissa langweilte sich trotz Patrizias guter Laune und Zuversicht grässlich. Es war ihr peinlich, auf ihrer eigenen Ausstellung zu stehen, ganz alleine mit ihrer Galeristin und ihrem Ehemann, und in diesem Moment war sie recht froh, dass die Kinder nicht hatten mitgehen wollen. Wahrscheinlich hätten sie sie tagelang damit aufgezogen, dass sie Bilder gemalt hatte, die keiner sehen wollte. Die Kinder verhielten sich oft so bissig und gedankenlos, und wahrscheinlich war das normal in ihrem Alter. Trotzdem war es oft verletzend.

Nacheinander trödelten auch ihre wenigen, aber langjährigen Freunde in der Galerie ein, sahen sich um, gratulierten ihr zur Ausstellung und gingen aber auch recht schnell wieder. Clarissa hatte nichts anderes erwartet, ihre Freunde fanden ihre Bilder alle miteinander sehr gut und einige von ihnen hatten auch das eine oder andere Bild zu Hause, das Clarissa gemalt hatte. Aber sie gingen sonst nicht auf Ausstellungen und hierher waren sie nur ihr zuliebe kommen. Nur Anja blieb etwas länger und ignorierte ihren zappeligen Freund Eric tapfer, der offensichtlich nichts lieber wollte, als diese Ausstellung wieder verlassen zu dürfen. Clarissa fühlte sich ein wenig unangenehm berührt. Sicher, sie war ihren Freunden dankbar für deren Erscheinen, aber sie hatte eigentlich eher darauf spekuliert, dass sich Menschen auf dieser Ausstellung sehen ließen, die sie nicht kannte, Menschen die auf Grund von Patrizias Werbung erschienen. Menschen, die aus Interesse kamen und nicht weil sie mit ihr befreundet waren. Aber Patrizia behielt mit ihren Prognosen recht, tatsächlich trafen ab dem frühen Nachmittag vereinzelte Gäste ein, die von Patrizia alle mit einem Glas Sekt persönlich begrüßt wurden und sich sehr intensiv mit den ausgestellten Bildern befassten. Clarissa reagierte zunächst ein wenig scheu, wenn jemand auf sie zutrat und ihr ein paar Fragen stellte, aber sehr schnell merkte sie, dass es fast immer die gleichen Fragen waren und vor allen Dingen hörte sie mit der Zeit so viele Komplimente, dass sie manchmal das Gefühl hatte, nach Daniels Hand greifen zu müssen, damit er sich nicht schlecht fühlte an ihrer Seite, weil ihn eigentlich niemand beachtete. Aber sie ergriff seine Hand nicht, denn irgendwann im Laufe des Nachmittags wurde ihr auch klar, dass sie diese Position mochte. Sie war für die Menschen interessant. Ein schönes Gefühl. Sie spürte, dass sie gerade dabei war, sich selbst wieder wichtig zu werden.

Immer hatte sie hinter Daniel gestanden, ihn zu allen möglichen Anlässen begleitet und immer war sie die nette, liebe Ehefrau gewesen. Das, und nichts Anderes. Jetzt war sie einmal selbst die interessante Person. Und es fühlte sich verdammt gut an für sich selbst festzustellen, dass man etwas geschaffen hatte. Dass man auch noch etwas anderes war als die Ehefrau von Daniel Ostermann, auch wenn sie bis vor einiger Zeit in dieser Rolle glücklich und zufrieden gewesen war. Aber Daniel zeigte sich von seiner besten Seite, er lächelte, blieb ruhig und freundlich und nach einer Weile stellte sie erleichtert fest, dass er sich keineswegs vernachlässigt fühlte, sondern ganz im Gegenteil, sehr stolz auf sie war und es durchaus genoss zu sehen, dass seine Frau im Mittelpunkt stand. Es waren zwar nicht viele Gäste zu der Ausstellung gekommen, aber es handelte sich durchweg um niveauvolle Menschen, die starkes Interesse an den Bildern zeigten und von denen Patrizia behauptete, es handele sich um ein handverlesenes Publikum das sich aus ihren Stammkunden zusammensetzte. Stammkunden, die mit Sicherheit mit Freunden und Bekannten über diese Ausstellung sprechen würden. Gegen achtzehn Uhr beendete Patrizia die Veranstaltung und beglückwünschte Clarissa zu dem erfolgreichen Verkauf von immerhin vier Bildern.

»Das ist unglaublich viel für eine unbekannte Malerin«, sagte sie.

»Zu welchem Preis wurden die Bilder denn verkauft?« fragte Clarissa arglos.

»Für fünfhundert Euro pro Stück meine Liebe«, sagte Patrizia.

»Ist nicht wahr!« staunte Clarissa.

»Doch.« Patrizia lachte. »Wirkliche Kunst hat einen Preis und dieser war eigentlich noch viel zu gering. Die Ausstellung läuft noch eine Woche, danach werden die Bilder abgeholt, bezahlt und ich kann dir einen Scheck geben.«

Sie grinste und lief dann quer durch den Raum um unter diverse Bilder einen roten Punkt zu kleben, was soviel wie »verkauft« bedeutete.

»Und was bringt das Ganze jetzt für dich wenn ich mal fragen darf?«

Daniels Stimme klang tief und geschäftsmäßig, und er sah Patrizia fest in die Augen. Klar, er war ja auch Geschäftsmann. Patrizias Mundwinkel verzogen sich zu einem leicht spöttischen Lächeln.

»Ein paar nette Prozente vom Verkaufspreis«, sagte Clarissa. »Ich habe übrigens den unterzeichneten Vertrag dabei.«

»Prima«, antwortete Patrizia.

Daniel lächelte und lief noch einmal die Runde in der Galerie um noch einmal einen Blick auf die Bilder seiner Frau zu werfen.

»Bitte besuch mich morgen«, flüsterte Patrizia Clarissa ins Ohr. »Ich halte es kaum noch aus, ich sehne mich so sehr nach dir.«

»Ich komme am Nachmittag, ist das in Ordnung?«

Patrizia nickte.

»Du hast meine Handynummer, ruf mich vorher kurz an.«