-30-
Wenige Tage später saßen Daniel und Clarissa im Schlafzimmer auf dem Balkon und starrten ins Grüne. Es war ein lauer Spätsommerabend und Daniel hatte eine Flasche Wein geöffnet. Clarissa war sehr blass. Den Tod ihres Hundes und vor allem die Begleitumstände zu verkraften, würde wahrscheinlich eine Ewigkeit dauern. Daniel sorgte sich um sie, denn er wusste nicht mehr, wie er sie trösten konnte. Sie sprach wenig, starrte immerzu in den Garten und Daniel wusste, dass sie sich Vorwürfe machte. Vorwürfe, weil sie seelenruhig ihrer Arbeit nachgegangen war, statt dem Hund das Fleisch abzunehmen, auf dem er gekaut hatte. Er hatte ihr mindestens hundertmal erklärt, dass es nicht ihr Fehler gewesen war, dass er dem Hund das Fleisch wahrscheinlich auch nicht abgenommen hätte, weil Hunde solche Dinge eben einfach taten: sie vergruben Fleischstücke, gruben sie irgendwann wieder aus und im Prinzip konnte keiner sagen, wo der Hund überall im Garten seine Schätze vergraben hatte. Ein Hund der im eigenen Garten auf einem Stück Fleisch herumkaut, das war etwas völlig Normales, etwas worüber sich kein Mensch in solchen Momenten Gedanken machte.
»Wie geht es eigentlich Patrizia?« fragte er plötzlich völlig unvermittelt.
Clarissa sah ihn erstaunt an. »Warum fragst du das?«
»Nur so. Habt ihr noch Kontakt?«
»Natürlich«, sagte Clarissa. »Das weißt du doch. Ich habe erst gestern mit ihr telefoniert.«
»Und?«
»Was und?« »Hast du ihr das von Sparky erzählt?«
»Natürlich.«
»Was sagt sie dazu?«
»Sie ist entsetzt, dass jemand zu so etwas in der Lage ist. Es tut ihr alles sehr leid. Sie hat mich gefragt, ob sie mich mal besuchen soll, aber ich habe ihr gesagt, dass sie das lassen soll, weil du damit nicht fertig wirst.«
Daniel nickte. »Und warum will sie dich besuchen?«
Clarissa zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich weil sie merkt dass es mir schlecht geht und dass ich außer meinem Mann hier niemanden habe. Wahrscheinlich weil sie weiß wie wichtig es ist, eine Freundin zu haben.« Sie errötete. »Eine ganz normale Freundin«, fügte sie hinzu.
»Ich weiß schon was du meinst«, sagte Daniel. Er verfiel wieder ins Schweigen und starrte ins Leere.
»Könnte auch sein,« sagte er plötzlich. Clarissa sah ihn fragend an.
»Ach,« sagte Daniel. »Du brauchst sie ja nicht. Du hast dein Verhältnis beendet. Sie verhält sich offiziell ruhig, ist lieb und nett. Und möchte dich gerne wiedersehen.«
»Ja klar«, antwortete Clarissa. Sie sah ihn herausfordernd an. »Und was willst du damit jetzt andeuten?«
»Na, vielleicht ist sie ja unsere Briefeschreiberin.«
»Das Thema hatten wir schon und ich sagte dir, es ist nicht ihre Art. « Clarissa war ärgerlich. Sollte sie jetzt allen Ernstes schon wieder dieses Thema mit ihm diskutieren?
»Du weißt gar nicht, was ihre Art ist. Vielleicht ist ihre Art nur Masche. Vielleicht ist sie unsere Briefeschreiberin und denkt, wenn sie dir nur genug Angst einjagt, flehst du sie irgendwann an, dass sie herkommt. Um dich zu beruhigen. Um bei dir zu sein. Was weiß ich. Vielleicht wartet sie auf eine Gelegenheit, die Retterin zu spielen. «
»Du spinnst ja, « sagte Clarissa.
»Nein,« antwortete Daniel. »Ich spiele nur alle Möglichkeiten durch. «
Er seufzte und sein Blick entspannte sich. »Tut mir leid. Ich möchte dich nicht verletzen. Im Gegenteil, ich mache mir Sorgen, denn du bist den ganzen Tag alleine mit deinen Ängsten und jetzt auch mit der Trauer um Sparky. In Frankfurt hättest du deine Freundinnen. Ablenkung. Was ist mit Anja?«
»Was soll mit Anja sein? Mit Anja telefoniere ich sehr oft, aber sie ist nun mal weit weg.«
Clarissa seufzte. »Daniel was soll ich sagen, natürlich vermisse ich meine Freunde. Ich hab mich nie einsam gefühlt, auch hier in Köln nicht. Aber jetzt, nachdem das mit Sparky passiert ist – und die Briefe vorher... ich weiß nicht.«
Er sah sie fragend an. Clarissa zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch nachdenklich in die warme Abendluft.
»Ich habe eben niemandem mit dem ich reden kann«, sagte sie. »Nur am Telefon. In den letzten Wochen wird mir immer mehr klar, wie sehr ich eine Freundin bräuchte, eine gute Freundin, so wie ich es gewohnt bin. Sicher, wir sind alle mobil, Köln ist nur zwei Autostunden von Frankfurt entfernt, aber alle haben Jobs und ein eigenes Leben. Es ist eben nicht mehr so einfach, seine Freunde zu sehen, wenn man so weit entfernt ist. Und es fällt mir nicht leicht, neue Kontakte zu knüpfen, wo sollte ich anfangen? Ich arbeite nicht, ich hab nur meine Familie und meinen Haushalt. Die Nachbarn hier sind komisch und ich bin auch hier in Köln der Meinung, dass man mit Nachbarn freundlich sein sollte, sich aber nicht näher anfreunden sollte. Die Kinder sind groß, die Elternabende sind auch nicht mehr das, was ich mal von früher her kannte, man lernt einfach niemanden kennen.«
»Du fühlst dich einsam.«
»Ja, ein wenig schon. Ich vermisse meine Freunde. Unsere Freunde.«
Er nickte.
»Ich verstehe dich«, sagte er.
Gegen zehn klingelte es an der Haustür. Daniel sah Clarissa verwundert an.
»Jetzt noch?« fragte er erstaunt und sah auf die Uhr.«
Clarissa zuckte mit den Schultern. »Wir haben pubertierende, halbwüchsige Kinder. Würde mich nicht wundern, wenn es Freunde von ihnen sind, die da klingeln.«
»Das geht nicht«, sagte Daniel streng. »Ich
möchte nicht, dass unser Haus zum Bahnhof verkommt, wo jeder kommen
und gehen kann wie es ihm beliebt. Irgendwann muss mal Ruhe sein,
oder? Wir haben alle einen anstrengenden Tagesablauf und ab einer
gewissen Uhrzeit klingelt man nicht mehr bei Leuten,
oder?«
»Dann
geh runter und sag es ihnen«, sagte Clarissa. Daniel erhob sich und
ging nach unten. Er wirkte angespannt. Clarissa sah ihm nach und
fragte sich, ob er wohl glücklich war mit diesem Leben, denn mit
Sicherheit vermisste auch er seine Freunde. Hier in Köln hatte er
seinen Beruf, der ihn sehr anstrengte und ausfüllte und seine
Familie. Aber sie beide waren immer sehr darauf bedacht gewesen,
ihre Freundschaften zu pflegen und sie beide hatten die gemeinsamen
Abende unter Freunden genossen. Auch er musste sich in Köln ein
wenig einsam vorkommen. In der Firma konnte er keine
freundschaftlichen Kontakte knüpfen. Als Chef freundete man sich
nicht mit Angestellten an, das war ein unausgesprochenes, aber
gültiges Gesetz. Aus dem unteren Flur hörte sie leises
Stimmengemurmel. Das verwunderte sie, denn sie kannte Daniel. Wenn
es einer von Damians Freunden gewesen wäre, der da geklingelt hatte
zu so später Stunde, würde er nicht so ruhig bleiben. Sie griff
nach ihrer Strickjacke, zog sie über und tapste barfuß die Treppe
nach unten. Daniel stand mit kreidebleichem Gesicht im Flur und mit
ihm zwei Herren um die vierzig in schwarzen Anzügen und mit ernsten
Gesichtern.
»Ist was passiert?« fragte sie erschrocken.
Daniel schüttelte den Kopf. »Liebling, geh wieder nach oben.«
»Ist das Ihre Frau?« fragte einer der Männer.
Daniel nickte. »Liebes, geh wieder hoch«, sagte er.
»Finden Sie nicht dass Ihre Frau davon erfahren sollte?« fragte der Mann.
Clarissa stieg die Stufen ganz nach unten.
»Was ist hier los?« fragte sie und sah zwischen den Männern und Daniel hin und her. Einer der Männer reichte ihr die Hand. »Pietät Schwarzkopf«, sagte er. »Mein Name ist Klaus Schwarzkopf. Ich bin der Inhaber.«
»Ein Bestattungsunternehmen?« fragte Clarissa erschrocken. »Was ist denn passiert?«
»Kommen Sie bitte mit ins Wohnzimmer«, sagte Daniel und lief voraus. Er deutete auf das Sofa. »Bitte nehmen Sie Platz.«
»Was ist hier los?« fragte Clarissa. Sie war weiß wie die Wand und ließ sich kraftlos in den Sessel fallen.
»Offensichtlich hat sich jemand mit Ihnen und mit uns einen Scherz erlaubt«, sagte Herr Schwarzkopf.
»Einen Scherz?«
Herr Schwarzkopf nickte. »Sie sind Clarissa Ostermann?«
»Ja.«
»Jemand hat uns verständigt. Wir sollten ihren Leichnam abholen.«
Clarissa entfuhr ein leiser Aufschrei des Entsetzens.
»Sie sollten meine Leiche abholen?«
Schwarzkopf nickte.
Clarissa erhob sich und lief ans Fenster. Fröstelnd zog sie die Strickjacke enger um sich. Daniel saß auf dem Sofa und starrte auf den Boden. »Wer hat das in Auftrag gegeben?« fragte Clarissa schließlich. »Ich meine, Sie kommen doch nicht einfach so in ein Haus um eine Leiche abzuholen, da muss Sie doch jemand angerufen haben!«
»Nicht nur angerufen«, sagte Herr Schwarzkopf.
»Die Dame war sogar bei uns. Aber es war von Anfang an eine
merkwürdige Sache, wir hätten wissen müssen, dass etwas nicht
stimmen kann.«
Clarissa setzte sich wieder in ihren Sessel.
»Sie
erzählen mir das alles jetzt bitte von Anfang an«, sagte sie. »Ich
werde seit Monaten mit anonymen Briefen belästigt, mein Hund wurde
vergiftet und jetzt stehen Sie hier und wollen meine Leiche
abholen! Wenn ich nicht bald herausfinde, wer dahintersteckt, werde
ich wahnsinnig!«
Herr Schwarzkopf nickte.
»Die Dame rief zunächst an und wollte mir Ihren vermeintlichen Todesfall melden. Sie sagte, sie sei Ihre Schwägerin und ihr Bruder sei vor Trauer nicht in der Lage, diese Angelegenheiten zu übernehmen, also hätte er sie beauftragt.« Der Mann lehnte sich mit ernstem Gesicht zurück. »Mein Junior war am Telefon und meinte, wir könnten nicht einfach so in ein Haus gehen um eine Leiche abzuholen, was wir brauchen ist ein persönlicher Auftrag, jedenfalls wenn es um Privatleute geht. Auf Anruf kommen wir nur in Krankenhäuser oder Pflegeheime.« Er räusperte sich. »Da kennen wir einfach die Schwestern und Pfleger und wissen, dass es ernst ist, wenn sie uns anrufen.«
Clarissa nickte.
»Daraufhin erschien die Dame bei uns im
Geschäft. Schwarz gekleidet und sie sah auch sehr verweint aus.
Niemand hat sich was dabei gedacht. Sie hat angegeben, sie sei die
Schwester Ihres Mannes, Frau Ostermann. Er hätte sie beauftragt,
sich um alles zu kümmern. Ihre Todesursache hat sie mit plötzlichem
Herzinfarkt angegeben.«
»Aha«,
sagte Clarissa. »Na wer weiß, vielleicht erleide ich tatsächlich
noch einen Herzinfarkt wenn das so weitergeht!«
»Wir wollten natürlich einen Totenschein sehen und einen Personalausweis. Die Dame fing an zu weinen und sagte, sie sei völlig konfus angesichts der Trauer über diesen plötzlichen Todesfall und schwor uns, sie würde beides morgen Nachmittag vorbeibringen. Hauptsächlich sollten wir nun erst einmal den Leichnam abholen, damit Herr Ostermann mit den Kindern nicht mit einer Toten im Haus übernachten muss.«
Herr Schwarzkopf schüttelte den Kopf, verständnislos angesichts der ganzen Situation. »Frau Ostermann, es tut mir sehr leid, mir ist ein solcher Fall noch nie untergekommen. Ich habe die Pietät von meinem Vater übernommen, bin mit diesem Geschäft groß geworden, noch nie habe ich so etwas erlebt. Der Wunsch nach Abholung des Leichnams erschien mir natürlich und vor allem glaubte ich der Frau natürlich auch, als sie sagte, sie hätte die Bescheinigung vergessen – und ihren Ausweis. Sie war sehr glaubwürdig. Sie hat uns sogar den Auftrag unterschrieben, aber der Name ist wahrscheinlich falsch. Und wegen der Blumenarrangements und allen anderen Dingen wollte sie morgen noch mal vorbeikommen – mit ihrem angeblichen Bruder. Und dann auch natürlich die Bescheinigung und ihren Ausweis nachreichen.«
Clarissa zündete sich eine Zigarette an. Ihre Finger zitterten.
»Wie sah sie aus?« fragte sie beinahe beiläufig.
Herr Schwarzkopf musterte seinen Kollegen und als dieser nickte, wandte er sich wieder Clarissa zu. »Sie war sehr schlank. Und sie hatte lange, auffällig rote Haare.«
»Wie lang?« fragte Clarissa.
»Bis zur Hüfte schätze ich«, sagte Herr Schwarzkopf.
»Locken?« fragte Clarissa.
»Ja. Lange, rote, lockige Haare. Sagt Ihnen das was?«
Clarissa nickte. »Ja.«
Herr Schwarzkopf erhob sich. »Sie sollten Anzeige erstatten«, sagte er. »Wir werden natürlich gerne aussagen, denn wir fühlen uns auch geschädigt. Auch wenn diese Angelegenheit hier nun mehr als peinlich ist. Es tut mir sehr leid Frau Ostermann.«
»Wann war die Frau bei Ihnen?«
»Heute am späten Nachmittag«, sagte Herr Schwarzkopf. »Sie bat uns, so schnell wie möglich zu handeln. Aber Leichentransporte in privaten Häusern – das machen wir immer erst nach Einbruch der Dunkelheit. Wegen der Nachbarn.«
»Gut«, sagte Clarissa. Sie wirkte kühl. Aber sie war bleich wie die Wand, vor der sie saß. Daniel begleitete die beiden Herren an die Tür und wählte im Anschluss sofort die Telefonnummer der Polizeidienststelle.
»Herrn Meierhofer bitte«, sagte er.
»Herr Meierhofer ist heute nicht mehr Dienst«, sagte der Polizist am anderen Ende. »Kann ich ihm was ausrichten?«
»Wann ist er wieder im Dienst?«
»Morgen Vormittag.«
»Danke. Ich werde morgen früh bei ihm erscheinen. Vielleicht legen Sie ihm einen Zettel hin und sagen, dass ich angerufen habe. Daniel Ostermann. Schreiben Sie einfach, es wäre wieder etwas passiert, Herr Meierhofer ist mit der Sache vertraut.«
»Gerne«, sagte der Polizist. »Wenn es dringend ist, könnte ich Ihnen auch weiterhelfen.«
»Es ist nicht dringend«, sagte Daniel. »Danke schön.«
Er legte auf. Clarissa brach in Tränen aus und schluchzte hysterisch. Sie lief verzweifelt weinend an den Kindern vorbei, die mit leichenblassen Gesichtern im Flur standen und leider noch mitbekommen hatten, dass vor der Tür ein Leichenwagen stand und zwei schwarz gekleidete Herren ihre Eltern aufgesucht hatten. Clarissa konnte sich kaum noch beherrschen, sie fiel hysterisch weinend auf ihr Bett. Daniel beruhigte die Kinder und schickte sie ins Bett.
»Was ist hier eigentlich los?« hörte Clarissa ihren Sohn von unten brüllen. »Du hattest ne Freundin, Mama hatte auch irgendwas laufen, wir ziehen nach Köln, hier kommen anonyme Briefe rein, unser Hund wird vergiftet und jetzt kommt ein Leichenwagen um Mama abzuholen?«
»Woher weißt du das alles?« sagte Daniel laut.
»Weil ich nicht bescheuert bin!« brüllte Damian. »Ihr seid meine Eltern, ihr unterhaltet euch und wir kriegen mehr mit als ihr glaubt! Vielleicht redet ihr mal mit uns und erklärt uns mal was eigentlich los ist! Oder glaubt ihr, wir machen uns keine Sorgen?«
Clarissa kam wieder zu sich, als sie die lauten Worte ihres Sohnes hörte. Sie wischte entschlossen ihre Tränen ab und lief die Treppe nach unten.
»Ins Wohnzimmer«, sagte sie, und stieß ihren Sohn sanft hinein. Gleichzeitig griff sie nach Charlottes Hand, die eher verängstigt als wütend im Flur herumstand. »Familienkonferenz«, sagte sie energisch. Sie schnäuzte sich, wischte die Tränen aus dem Gesicht und griff dankbar nach dem Glas Cognac, das Daniel ihr reichte. Er hatte sich selbst auch einen Cognac eingeschenkt und setzte sich neben sie.
»Ich wollte nicht dass ihr das alles mitbekommt«, sagte Clarissa.
»Schon klar«, sagte Damian. Seine Augen funkelten wütend. »Schon klar dass ihr das nicht wolltet. Wir sind ja nur Kinder, nicht?« Er trat wütend mit dem Fuß gegen die Tischplatte und verschränkte trotzig die Arme über der Brust. »Leider haben wir es doch mitbekommen, das meiste jedenfalls!«
»Nein«, sagte Clarissa, und sie ignorierte damit seinen Tritt an den Tisch. »Ihr seid keine Kinder mehr, ihr seid fast erwachsen. Wir hätten mit euch reden sollen, aber wir hatten vor, euch eure kleine, heile Welt zu erhalten.«
»Unsere Welt ist nicht heil«, sagte Charlotte. »Wir haben gewusst, dass was nicht stimmt und dann haben wir euch belauscht. Sicher, das darf man nicht, aber wir haben es gemacht. Daher wissen wir, dass Papa eine Freundin hatte. Wir wollten wissen, warum du so traurig warst!«
»Wir wollten eine Erklärung«, sagte Damian, der offensichtlich nicht nur die Gesichtszüge seines Vaters geerbt hatte, sondern auch seine Art zu diskutieren. Jetzt, wo er älter wurde, zeigte sich die Ähnlichkeit immer deutlicher.
»Wir wollten eine Erklärung dafür, dass du dich nur noch zurückgezogen hast um zu malen, wir wollten wissen warum du so oft weinst, warum ihr so wenig miteinander redet! Wir wollten wissen, warum ihr nicht mehr knutscht und rumschmust so wie früher! Wir wollten wissen, warum Papa immer so schüchtern ausgesehen hat wenn er dich mal in den Arm genommen hat!«
»Ja, ich hatte ein Verhältnis mit einer anderen Frau«, sagte Daniel. »Aber es ist lange vorbei, es ist zwei Jahre her.«
»Wie konntest du so was nur machen!« rief Charlotte. Sie wirkte wütend, trotzig. »Charlotte«, sagte Daniel. »Deine Mama und ich sind nun achtzehn Jahre zusammen. Fast neunzehn Jahre sind es nun schon. Es gibt Dinge innerhalb einer Beziehung, die spielen sich ein, man wird älter, man wird fauler, und irgendwann fragt man sich ob man nun schon so uralt ist wie man sich fühlt oder ob man es noch bringt. Verstehst du was ich meine?«
»Na klar verstehe ich das«, sagte Charlotte. »Wenn ich an Mamas Stelle gewesen wäre, ich hätte mich scheiden lassen.«
»Statt dessen hatte ich auch ein Verhältnis, später zwar, aber mir ist der gleiche Fehler passiert wie eurem Vater«, sagte Clarissa, und sie sah ihrer Tochter in die Augen. »Und eigentlich wollten wir nicht dass ihr das alles erfahrt. Wir haben durch diese Sachen beide viel Schmerz verkraften müssen, aber wir haben dadurch auch gesehen, wie sehr wir uns noch lieben und dass wir zusammen bleiben möchten. Scheidung war kein Thema bei uns. Also wollten wir euch all das ersparen. Papa und ich mussten einfach lernen, wieder ganz normal miteinander umzugehen und das ist uns auch gelungen.«
»Wir haben nur nicht verstanden, mit wem ihr beide eure Verhältnisse hattet«, sagte Damian.
»Ich mit einer Sekretärin meines Geschäftspartners«, sagte Daniel ehrlich.
»Und ich mit Patrizia«, sagte
Clarissa.
»Mit
einer Frau?« rief Damian erschrocken aus. »Mama, du bist lesbisch?«
»Nein«, sagte Clarissa. »Ich bin nicht lesbisch. Aber für eine
Weile hat Patrizia mich sehr glücklich gemacht. Und wahrscheinlich
hat sie mir das Selbstvertrauen zurückgegeben, das ich verloren
hatte durch die Sache mit Papas Verhältnis. Und in den Jahren
davor.«
Damian schüttelte fassungslos den Kopf. »Das mit den Briefen wolltet ihr auch geheim halten«, sagte Charlotte. »Nur, warum?«
»Weil wir euch nicht beunruhigen wollten. Uns beiden haben diese Briefe Angst gemacht. Aber die Polizei meinte, die wären nicht so ernst zu nehmen wie es uns erschien.«
»Und jetzt ist Sparky tot«, sagte Damian mit finsterer Miene.
Clarissa nickte.
»Und ihr meint nicht, dass das was mit den Briefen zu tun hat?«
»Doch«, sagte Daniel. »Das denken wir, aber die
Polizei meint, das könnten auch voneinander unabhängige Leute sein,
die uns einfach nur schaden möchten.« »Soso«, sagte Damian. »Die
Polizei denkt!« Er wirkte plötzlich unglaublich erwachsen. »Und das
jetzt eben? Der Leichenwagen? Diese zwei Typen in schwarz die
unsere angeblich tote Mutter abholen wollten? Was geschieht jetzt?«
»Wir haben eine Beschreibung von der Frau erhalten, die diese
Pietät beauftragt hat«, sagte Daniel. »Anhand dieser Beschreibung
wird man sicher herausfinden können, wer das war. Ich bin sicher,
dass dieser Spuk bald ein Ende hat.«
»Und
bis dahin seid ihr sehr vorsichtig«, sagte Clarissa. »Man weiß
nicht was noch alles passiert. Lasst niemanden ins Haus den ihr
nicht hundertprozentig kennt. Steigt in kein Auto ein. Sprecht
nicht mit fremden Menschen. Wir müssen erst wissen wer dahinter
steckt bevor wir uns wieder sicher fühlen können.« »Glaubst du wir
sind in Gefahr?« fragte Charlotte mit Tränen in den Augen.
»Charlotte«, sagte Clarissa. »Ich weiß nicht was ich glauben soll.
Ich weiß nur dass jemand, der anonyme Briefe schreibt, einen
wehrlosen Hund tötet und mir ein Beerdigungsinstitut auf den Hals
hetzt, wahrscheinlich noch mehr Ideen hat, wie man uns schaden
könnte.«
»Wir dachten wirklich, wir hätten das alles vor euch verbergen können«, sagte Daniel. »Es tut mir leid, dass ihr das alles trotzdem mitbekommen habt. Ihr habt euch bestimmt tausend Fragen gestellt und das hat euch sicher gequält. Das tut mir am allermeisten leid an der Sache.«
»Und mir erst«, sagte Clarissa.
»Das war also eine Frau, die das Institut beauftragt hat?« fragte Damian. Er ging nicht auf die Entschuldigungen seiner Eltern ein.
Clarissa nickte.
»Deine Geliebte vielleicht, Papa.«
Daniel schüttelte energisch den Kopf. »Nein. Es ist zwei Jahre her. Ich hab mit ihr lange nichts mehr zu tun. Es war eine Frau mit langen, roten, lockigen Haaren.«
»Patrizia«, sagte Damian.
Clarissa nickte. Sie begann zu weinen
und lief nach oben ins Schlafzimmer. »Warum hast du nie was gesagt,
Sohn?« fragte Daniel mit ernstem Gesicht.
»Weil wir beide gehofft haben, dass ihr euch
wieder einkriegt«, antwortete Charlotte anstelle ihres Bruders.
Ȇberall lassen sich die Leute scheiden, wir hatten Angst dass ihr
euch auch scheiden lasst. Und dann sah es irgendwann so aus, als
wäre wieder alles in Ordnung und da wollten wir euch nicht mehr
drauf ansprechen.«