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Den nächsten Tag verbrachte Clarissa zunächst mit einem Großeinkauf in dem glücklicherweise nahe gelegenen Supermarkt und amüsierte sich im Stillen über den völlig anderen Dialekt den man hier sprach. Irgendwie hatte sie den Kölner Dialekt immer sehr gemocht, er klang temperamentvoll und lustig vor allem, aber auch sehr energisch. Nachdem sie all ihre Einkäufe weggeräumt hatte, schaffte sie ein wenig Ordnung im Haus und beschäftigte sich dann mit der Zubereitung des Mittagessens. Und wie sie es geahnt hatte, die Kinder kamen beide sehr fröhlich von ihrem ersten Vormittag in der neuen Schule zurück. Charlotte hatte gleich eine neue beste Freundin im Schlepptau, die nur eine Straße weiter wohnte und von Charlotte großzügig zum Mittagessen eingeladen worden war. »Frikadellen«, sagte das Mädchen, das sich als Kathrin vorgestellt hatte, aber erst nachdem Clarissa sie nach ihrem Namen gefragt hatte. Es klang ein wenig abfällig und Clarissa zog, wie sie es immer tat wenn ihr jemand suspekt war oder eine Aussage ihr nicht gefiel, die rechte Augenbraue nach oben.
»Magst du keine Frikadellen?« fragte sie.
»Doch doch«, versicherte das Mädchen. »Ist nicht gerade mein Lieblingsessen, aber man kann es essen.«
»Was für ein Glück«, sagte Clarissa amüsiert.
Damian stürmte eine halbe Stunde später die Küche.
»Viel Zeit habe ich nicht«, verkündete er.
Genau das hatte Clarissa erwartet.
»Ich treffe mich mit Kevin, der ist in meiner Klasse, ziemlich cooler Typ. Der will mir zeigen, wo man hier in Köln am besten rumhängen kann.«
»Na dann iss mal schnell noch was«, sagte Clarissa. »Mit hungrigem Magen irgendwo rumhängen, das stelle ich mir verdammt anstrengend vor.«
Damian musterte sie gründlich, setzte sich dann aber an den Tisch und stopfte sein Essen in sich hinein.
»Und wo warst du heute schon?« fragte er seine Mutter. »Hast du auch schon Leute kennen gelernt?«
Clarissa schüttelte den Kopf. »Du, ich bin erwachsen, ich gehe nicht arbeiten und muss in keine Schule mehr, da dauert so was etwas länger.«
»Boah, das würde mich nerven«, sagte Damian. »Da wirst du ja eine Weile ziemlich alleine sein.«
»Das macht mir nichts aus«, sagte Clarissa. »Ich hab mit dem Haus genug zu tun, ich muss es jetzt auch erst mal fertig einrichten, außerdem muss ich kochen und eure Wäsche machen – glaub mir, Langeweile kommt bei mir ganz sicher nicht auf. Und dann gibt es auch noch ein Telefon, wenn ich wollte könnte ich mit meinen Freunden telefonieren.«
»Telefonieren, ja«, brummte Damian.
»Mütter sind so was gewöhnt«, sagte Clarissa lachend. »Mach dir keine Sorgen um mich.«
Das hatte Damian offensichtlich überhaupt nicht vor, denn eine halbe Stunde später verschwand er durch die Haustür.
Auch Daniel betrat das Haus am Abend fröhlich und mit einem breiten Lächeln im Gesicht. »Alles super gelaufen«, sagte er, und küsste Clarissa zur Begrüßung. Hungrig verspeiste er fünf Minuten später bereits die Frikadellen und das Gemüse vom Mittagessen. »Mensch Clarissa, das ist eine so schöne Firma«, schwärmte er. »Und stell dir mal vor, sie mag ja klein sein, aber nebenan ist eine Gaststätte und es gibt eine Vereinbarung mit den Inhabern – sämtliche Mitarbeiter können mittags dort essen, für drei Euro pro Mahlzeit – nicht schlecht, oder?«
Clarissa nickte. »Und deine Kollegen? Wie sind die Mitarbeiter so?«
Daniel grinste und schüttelte den Kopf. »Ach Clarissa, ich bin da Geschäftsführer. Wie sollen sie sich verhalten? Ich bin kein neuer Mitarbeiter, den sie erst mal checken müssen, ich bin der neue Chef mit dem sie gefälligst klarzukommen haben. Sie haben sich natürlich mächtig Mühe gegeben, es gab Blumenarrangements und ein kleines Buffet. Und natürlich Sekt um mich willkommen zu heißen. Für einen einfachen Kollegen hätten die wahrscheinlich nicht so einen Aufwand gemacht, aber ich bin eben der neue Chef. Da zeigt sich erst mal jeder von seiner besten Seite, ist doch klar.«
Sie lachte. »Naja, so die Marke Sklaventreiber bist du ja nicht und das wirst du auch nicht werden. Ich denke, es hätte deine neuen Mitarbeiter schlimmer treffen können.«
Er nickte. »Das denke ich auch. Und übrigens hatte ich heute gleich das erste Problem zu lösen, mächtig spannende Sache.«
»Aha?« Daniel nickte. »Die streiten sich wohl seit Wochen herum, ob in der Firma in den Büros geraucht werden darf oder nicht. Und sie meinten, sie hätten diesbezüglich auf meine Entscheidungen gewartet.« Er lachte.
»Aber es gab doch vorher auch einen Chef, hat der das nicht geregelt?«
Daniel lehnte sich zurück. »Clarissa, der letzte Chef hat sich zur Ruhe gesetzt, er war schon älter. Sein Sohn war es auch eigentlich, der diese Firma aufgebaut hat. Aber der leitet die Berliner Zentrale. Und der alte Chef – na ja, wenn ich das richtig verstanden habe, dann war der wohl selbst starker Raucher und seine Entscheidung diesbezüglich klang wohl nach ›haut euch doch die Köpfe ein‹. Also keine Entscheidung.«
»Und was hast du heute deswegen entschieden?« fragte Clarissa amüsiert.
»Ich habe gesagt, dass ich nichts dagegen habe, wenn in der Firma geraucht wird, aber sie sollen sich doch einfach so zusammensetzen, wie es passt. Raucher sollten sich mit anderen Rauchern ein Büro teilen und Nichtraucher mit anderen Nichtrauchern. Sie sitzen sowieso immer zu zweit und irgendwie wird das schon gehen. Aber dazu müssten ja manche Leute dann mit ihrem Krimskrams innerbetrieblich umziehen, und das nervt die jetzt sehr.« Er schüttelte den Kopf. »Die haben Probleme...« sagte er. »Und an den Stellen in der Firma, wo man eventuell mit Kunden oder Vertretern von Firmen zu tun hat, darf nicht geraucht werden – habe ich entschieden. Da waren ein paar ganz unglücklich, aber man kann es heutzutage nicht mehr bringen, Geschäftspartner in verqualmte Büros zu schicken. Das erweckt immer einen schmuddeligen Eindruck.«
»Warum erteilst du in den Büros nicht generelles Rauchverbot und schickst deine Mitarbeiter vor die Tür? Oder habt ihr keine Teeküche?«
Daniel nickte. »Klar ginge das und eine Teeküche gibt es dort auch. Aber sie sollen ja arbeiten und nicht ständig in der Teeküche stehen. Und dort stören sich die Nichtraucher ja auch am Qualm.« Er lachte. »Ach Clarissa, der Streit zwischen Rauchern und Nichtrauchern ist ehrlich entnervend, kannst du mir ruhig glauben. Die Raucher sind ja in der Regel bereit, Kompromisse zu schließen, sie sind ja froh wenn sie irgendwo rauchen dürfen. Es sind leider die Nichtraucher, die völlig unfähig zu Kompromissen sind, aber das ist wohl immer und überall das gleiche. Und wie war dein Tag?«
Sie lachte. »Nichts Besonderes passiert. Ich war heute früh einkaufen, wir haben hier um die Ecke drei verschiedene Supermärkte, das ist echt gut.«
»Schon mal irgendwelche Nachbarn getroffen?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich habe heute überlegt, ob wir eine kleine Runde machen sollten in der Nachbarschaft.«
»Ja«, nickte er. »Sollten wir.«
»Heute noch?«
»Wäre ein guter Tag. Montagabend. Es ist noch nicht so besonders spät. In den Nachbarhäusern brennt auch Licht. Wenigstens rechts und links von uns sollten wir mal hallo sagen und uns vorstellen.«
Zwanzig Minuten später klingelten sie beide an der Haustür des Nachbarhauses zu ihrer Rechten. Es dauerte etwas länger, bis die Tür geöffnet wurde.
»Guten Abend, Frau Granz«, sagte Clarissa freundlich und reichte der älteren Dame die Hand. »Wir sind die Familie Ostermann und wollten uns Ihnen gerne vorstellen. Wir sind am Samstag nebenan in das Haus eingezogen.«
»Och, kummt eren«, sagte die Nachbarin freundlich und ging ihnen voraus in das Wohnzimmer. Dort trafen Clarissa und Daniel auf Herrn Granz, der am Kamin saß und Zeitung las. Sie stellten sich einander vor und Herr Granz bot ihnen einen Sitzplatz an. Clarissa schaute sich um.
Säuberlich gebügelte Häkeldeckchen auf dem Tisch und in den Regalfächern der riesigen Schrankwand. Eine dunkelgrüne Couchgarnitur, die aus den tiefsten Achtziger Jahren zu stammen schien, aber noch tadellos aussah. Und Frau Granz servierte bereits fünf Minuten später Tee. Sie fühlten sich beide etwas unbehaglich, auch wenn diese neuen Nachbarn sehr nett wirkten, aber sie beide waren nicht so die Menschen, die besonders viel mit ihren Nachbarn zu tun haben wollten.
»Woher komt Ehr?« fragte Frau Granz. »Ehr sid nit us Kölle, oder?«
»Nein«, antwortete Daniel. Er schmunzelte ob des Dialekts. »Wir sind von Frankfurt hier her gezogen.«
»Us berofliche Gründ?« fragte Frau Granz neugierig.
Daniel nickte. »Wat maht Ehr dann?« fragte Herr Granz interessiert.
»Ich bin Geschäftsführer einer Softwarefirma.«
»Jo, dat scheint noch zu laufe«, sagte Herr Granz. »Als uns Firma pleite jemaht hät, han ich lang noh Arbeid jesökt, ävver nix jefunge. Jo, ich bin och wat älder wie Ehr.« Er lächelte. »Wann do mit Mitte fuffzig arbeitslos wees, kanns do glich de Rent beaandrage, do häs eh keine Chance mih.«
»Ja, das ist schwer«, stimmte Daniel ihm zu. Er lächelte seine Frau an, die wiederum ihn anlächelte. Daniel verstand das Lächeln. Clarissa verstand kein Wort. Sie ahnte nur, um was es hier eigentlich ging. Es entstand eine kleine Pause, die Clarissa als ein wenig peinlich empfand, aber Frau Granz griff ein.
»Un wat maht Ehr?« richtete sie ihre Frage an Clarissa.
»Haushalt«, sagte sie. »Ich manage sozusagen meine Familie, damit habe ich genug zu tun.« Sie lächelte.
Frau Granz lachte lauthals. »Jo«, sagte sie. »Huusfrauenarbeid is eja esu verpönt dat mer sich enzwesche freut, wenn mer noch ne Famillich trifft, wo sich de Mooder noch um all dat kümmert. Ich wor ming Leve lang zo Hus, jedenfalls zick uns Sonn gebore woodt, ich han et nit bereut. Ich han et jenosse, für ming Familich do zo sin, Zick zum Kooche ze han un minge Haushalt immer in Schoss halde zo künne.«
Clarissa erahnte Zustimmung zu ihrer Familienarbeit. So ganz genau hatte sie Frau Granz nicht verstanden.
»Manche Frauen sagen, man kann Familie und Beruf miteinander vereinbaren«, sagte Clarissa. »Aber ich genieße es auch, für meine Familie da sein zu können.«
»Och«, sagte Frau Granz. »Jeder Jeck noh sing Facon. Ming Schwiegerdoochter arbeid och, sugar Vollzick. Et schaff dat och all irjendwie, ist wohl en Frog der Organisation. Für mich is dat nix. Dat Mädche is och off mööd, un ich finge, dat de Famillich zo koot kütt. Ävver no jo, et es wie et es.«
Clarissa und Daniel saßen noch eine halbe Stunde beim Ehepaar Granz, bevor sie sich verabschiedeten. Sie hatten mit Frau Granz die wissenswerten Informationen über sich selbst und die angrenzende Nachbarschaft ausgetauscht und erfahren, dass die Leute, die vorher das Haus bewohnt hatten, überhaupt nicht freundlich gewesen waren.
»Wie gut dass wir freundlich sind«, sagte Daniel bissig, als er die eigene Haustür aufgeschlossen hatte, hinter der Clarissa glucksend verschwand.
»Naja«, sagte sie. »Wir wohnen erst ein paar Tage hier. Mal sehen ob sie noch denken, dass wir freundlich sind, wenn wir ein paar Monate hier sind.«
»Ach«, stöhnte Daniel, und lehnte sich mit dem Rücken von innen gegen die Haustür. »Ich bin so froh, dass die Nachbarn auf der anderen Seite nicht zu Hause waren. Ich glaube, noch so eine Nummer hätte ich heute nicht durchgestanden. Der Tag war ziemlich anstrengend. Und der Kölner Dialekt, der ist ja irgendwie süß, aber man muss sich doch sehr konzentrieren um die Leute zu verstehen. Ich bin jetzt total kaputt und will einfach nur noch in mein Bett!«
Charlotte und Damian waren bereits zu Hause, wie Clarissa nicht nur anhand des Schweinestalls in der Küche feststellte, den sie hinterlassen hatten, sondern auch an der lauten Musik im Obergeschoss.
»Ach so«, sagte Daniel, während er sich im Schlafzimmer auszog und ins Bad schlüpfte, um eine kurze Dusche zu nehmen. »Am kommenden Wochenende hast du hoffentlich nichts vor?«
»Was sollte ich denn vor haben?« fragte Clarissa belustigt.
»Könnte ja sein. Vielleicht erwartest du Besuch aus Frankfurt um unser schönes Haus vorzuführen.«
»Nein«, sagte Clarissa. »Mit der Angeberei werde ich mich erst befassen, wenn hier alles fertig eingerichtet ist und das wird noch eine Weile dauern.«
»Fein«, sagte Daniel. »Am nächsten Samstag findet nämlich eine Betriebsfeier statt. Die Mitarbeiter haben das organisiert um den neuen Chef willkommen zu heißen.«
Er lachte. »Reine Schleimerei.« Dann sprang er
unter die Dusche. »Aber auf der Einladung steht natürlich, dass man
mich gerne mit meiner Gattin begrüßen würde.« »Fein«, antwortete
Clarissa. »Dann gehen wir da natürlich hin und lassen dich ein
bisschen feiern, das hast du verdient.«