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Lars lief durch die Stadt, ohne bestimmtes Ziel. Er überquerte den Haarmannplatz, roch den Duft aus dem Teepavillon. In der Fußgängerzone, jede Menge Geschäfte. Menschen betraten Läden, kamen wieder heraus. Vor dem Café Lücke saßen lauter alte Damen, zum Glück waren heute keine Schüler da. Lars ging die Straße weiter hinunter, bog zum Marktplatz ab. Gelächter drang aus einem Fenster. Ein Kind lief in die ausgebreiteten Arme seiner Mutter. Eine Taube hockte auf dem Ackerbürger. Der Brunnen plätscherte. Ein Löwenzahn wuchs aus dem Sandstein. Kinder aßen Eis. Ein Mann verteilte Speisekarten auf Tischen. Die letzten Marktstände wurden abgebaut. Alles wie immer. Alles ganz normal.
Lars wunderte sich, dass die Menschen alle so taten, als wäre nichts geschehen. Jeder ging seinen Geschäften nach, kümmerte sich um sich selbst und nicht um andere.
Am liebsten würde er hingehen, an die Scheibe klopfen und rufen: „Kommt raus da. Gini ist verschwunden. Wir müssen sie suchen.“
Er könnte von Tisch zu Tisch gehen und sie alle fragen: „Habt ihr Gini gesehen?“
Auf dem Kirchplatz dachte er kurz darüber nach, ob er in die Luther-Kirche gehen und für Gini beten sollte. Vielleicht konnte er auch eine Kerze für sie anzünden. Falls es da Kerzen gab. Er war sich nicht sicher.
Besser, er ging weiter. Bald erreichte er das Weserufer. Bilder von Wasserleichen tauchten in seinen Gedanken auf. Im richtigen Leben hatte er noch nie eine gesehen. Nur im Film. Im „Tatort“ und bei Inspector Columbo in einem Swimming Pool.
War die Weser eine gute Wahl, wenn man eine Leiche loswerden wollte?
Er ging weseraufwärts weiter, kam an der Jugendherberge vorbei. Irgendwann ließ er sich ins Gras fallen und weinte. Er weinte, bis er dazu zu müde war. Seine Augen brannten. Ihm tat der Bauch weh, und kühl war ihm auch.
Es half nichts. Er durfte nicht aufgeben, musste weitersuchen. Irgendwo musste sie schließlich sein.