17
„Frau Fleck, bitte setzen Sie sich zu uns.“ Kofi und ich saßen im Wintergarten der Familie Fleck. Frau Jutta Fleck, zerdrückte Frisur, Jogginganzug, hatte darauf bestanden, einen Kaffee und Kekse zu servieren. Nun setzte sie sich auf die Stuhlkante eines Korbsessels. Sie drehte den Ehering um ihren Finger. „Es geht um meinen Sohn Timo, haben Sie gesagt.“
„Haben Sie schon gehört, was heute in Holzminden geschehen ist?“
Wir hatten sie augenscheinlich aus dem Bett geklingelt. Sie wirkte noch immer etwas verschlafen, hatte sich aber inzwischen vollständig angezogen, wohl während der Kaffee durchlief. Wir hatten uns ein wenig umgeschaut.
Ein gepflegter Garten mit Teich.
„Wetten, dass da Kois drin schwimmen.“
„Ich wette nicht mit dir.“ Ich stand vor der Bücherwand. „Schon mal was von Adorno gelesen? Ich wusste gar nicht, dass der so viel geschrieben hat.“
„Mit dem Grill, der hier steht, könntest du ’ne ganze Kompanie versorgen.“
Als ich Schritte auf dem Parkett hörte, gab ich Kofi ein Zeichen. Wir hatten uns wieder gesetzt, bevor sie bei uns angekommen war.
„Sie haben den ganzen Vormittag geschlafen?“
„Ich bin gegen drei Uhr mit der Lufthansa aus London in Hannover angekommen. Ich habe mich erst so gegen halb sechs hingelegt.“
„War ihr Sohn da schon aufgestanden?“
„Das weiß ich nicht. Er war nicht zu Hause.“
„Wie meinen Sie das?“
Sie wischte sich über die Augen. „Hören Sie, Timo ist 18, er hat eine Freundin und eine ganze Reihe Freunde. Wenn mein Mann und ich nicht zu Hause sind, übernachtet er oft woanders.“
„Wir haben eine Zugehfrau, offiziell angemeldet natürlich, die sauber macht und dafür sorgt, dass immer genug zu essen im Kühlschrank steht und Timo morgens frische Brötchen bekommt. Klara kann Ihnen genau sagen, wann er das letzte Mal im Haus war. Im Allgemeinen meldet er sich bei ihr ab, damit sie sich nicht unnötig bemüht.“
„Sie selbst hatten wie lange keinen Kontakt zu ihm?“ Ich fand, sie machte sich das alles ein bisschen einfach. Kein Wunder, dass der Junge auf komische Gedanken kam, wenn sich keiner um ihn kümmerte.
Frau Fleck sah genervt aus.
„Sie verstehen das falsch. Wir haben gestern Abend gescyped.“
„Gewas?“
Kofi mischte sich ein. „Übers Internet unterhalten, mit Bild.“ Er wandte sich an Frau Fleck. „Wir wollen nicht um den heißen Brei herum reden. Heute Morgen hat jemand ein Blutbad auf dem Schulhof des Campe-Gymnasiums angerichtet.“
„Und nun verdächtigen Sie meinen Sohn, weil ich in London Plüschtiere einkaufe, statt mit Timo in den Zoo zu gehen?“ Sie unterbrach sich. „Mein Gott, ein Blutbad, was bedeutet das? Wurde jemand … getötet?“
Kofi antwortete leise: „Zwei tot, sechs verletzt.“
„Und Timo? Ist ihm was passiert?“
„Nein, nein, Julia und er hatten die Schule kurz vorher verlassen.“
„Gut! Und die anderen? Auch Campe-Schüler?“
Kofis Augen fragten mich, ob er die Namen verraten durfte. Ich hatte nichts dagegen. Sobald sie Fernseher oder Radio anstellte, würde sie sie sowieso erfahren.
„Philip Gutschke und Michelle Hüttner. Kannten Sie die beiden?“
„Ja, seit vielen Jahren. Oh, mein Gott, wie furchtbar, die armen Eltern. Ich muss … mein Beileid aussprechen.“ Sie sah auf. „Das soll Timo getan haben? Warum sollte er so etwas machen? Das ist völlig unlogisch.“ Ihre Stimme drohte zu kippen.
„Er hatte Stress mit einem Lehrer.“
„Nicht er hatte Probleme mit Herrn Heckmann, sondern Julia. Hat der Heckmann ihn beschuldigt?“
„Wie kommen Sie darauf?“
Zum ersten Mal merkte ich ihr eine gewisse Unsicherheit an. Wusste sie von dem Autodiebstahl? Sie war erstaunlich gut informiert.
„Timo lässt sich nicht den Mund verbieten.“ Leiser fügte sie hinzu: „Er hat Probleme mit Autorität.“
Nette Umschreibung.
„Ist Ihr Sohn Mitglied in einem Sportschützenverein?“
„Nein, ist er nicht, war er auch nie. Eine Zeitlang hatte er ein Faible fürs Mittelalter, da hat er sich ein LARP-Schwert und einen Morgenstern aus Latex gekauft. Ansonsten hat er nichts mit Waffen am Hut. Er hat auch verweigert.“ Sie lachte hohl. „Als einer der Letzten.“
„Was ist ein LARP-Schwert?“
Kofi mischte sich ein. „LARP-Schwerter bestehen aus Kunststoff mit einem Fiberglaskern, sehen von Weitem aus wie echt, sind aber ziemlich weich. Kann man prima mit kämpfen. Zum Spaß.“
Ich war mir sicher, dass er auch eins besaß. Später sollte ich es mir einmal anschauen. Schließlich fand ich selbst das Mittelalter äußerst faszinierend. Ich konzentrierte mich wieder auf Timos Mutter. „Frau Fleck, wo ist Timo jetzt? Wir müssen dringend mit ihm sprechen.“
„Ja, das müssen Sie wohl.“ Sie holte ein Handy, wählte eine Nummer und hielt das Gerät dann hoch, damit wir die Ansage „the number you have dialled is currently not available“ mithören konnten. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass sie bereits vor dem Anrufversuch gewusst hatte, dass sie Timo nicht erreichen würde. Hatte sie beim Kaffeekochen heimlich versucht, ihn anzurufen?
Sie klappte das Telefon zu. „Ich gehe davon aus, dass Sie seine Handynummer bereits haben?“
„Haben wir, danke. Geben Sie mir auch seine Skype-Adresse. Verwendet er noch andere Messenger?“ Kofi hielt wie immer Notizbuch und Kuli bereit.
„ICQ, soweit ich weiß. Ich schreibe Ihnen die Nummern auf.“ Sie lief ins Wohnzimmer, kam kurz darauf mit einem Zettel zurück, den sie Kofi in die Hand drückte. Dann bugsierte sie uns aus dem Haus. „Ich, beziehungsweise wir melden uns bei Ihnen, sobald wir etwas von ihm hören.“
Wir stiegen in unseren Wagen. „Sie wird Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihren Sohn zu finden“, sagte Kofi. „Glaubst du, er war’s?“
„Die Einbrüche? Er hatte die Gelegenheit. Diese Klara wird ihn sicher nicht überwacht haben. Der konnte Tag und Nacht tun und lassen was er wollte, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre. Das Attentat? Das gleiche. Er hatte Gelegenheit, Motiv und die Mittel, wenn er der Einbrecher ist.“
„Wie hatte Frau Stellmacher das formuliert: Er will nur wissen, ob er’s kann. Danach interessiert es ihn nicht mehr. Einbrechen ohne Spuren zu hinterlassen, ist schon eine Herausforderung.“ Kofi startete den Motor, weil das Garagentor der Flecks aufschwang.
„Wir haben es aber nicht mit einem einzelnen Einbruch zu tun“, wandte ich ein.
„Das Adrenalin, der Kick, vielleicht war jede Wohnung eine neue Herausforderung. Zuerst der Förster, ziemlich abgelegen, kaum Gefahr, dass ihn jemand sieht, und zuletzt mitten in der Stadt bei den Webers, in einer engen Siedlung, wo jeder auf den anderen achtet.“
Frau Fleck raste aus der Ausfahrt. Kofi folgte ihr. Wir schwiegen. Jeder hing seinen Gedanken nach. Ich fragte mich, wie schon so oft, wie aus süßen, harmlosen, hilflosen Babies kaltblütige Mörder wurden?
Frau Fleck hielt auf dem Bürgersteig vor einem Gebäude an der Allersheimer Straße an, doch Kofi fuhr weiter.
„Warum hältst du nicht?“
„Das ist die Kanzlei ihres Mannes. Da werden wir Timo bestimmt nicht finden.“
„Wenn er schlau ist, schon. Wo willst du jetzt hin?“
„Mal gucken, ob bei den Sproys jemand ist.“
„Okay, aber danach sollten wir nach dem Jungen mit der Kamera suchen. Obwohl ich denke, dass der viel zu weit weg war, um ein klares Bild zu bekommen.“
„Trotzdem sollten wir nichts unversucht lassen. Vielleicht erkennen wir ein Detail, das uns nachher hilft, ihn zu überführen.“
„Ihn? Eine Frau kommt nicht in Frage, oder?“
Kofi spitzte die Lippen. „Warum eigentlich nicht? Weder bei den Einbrüchen noch bei dem Überfall war besonders Muskelkraft nötig. Eigentlich spricht nichts gegen eine Frau.“
Zehn Minuten später standen wir vor einem kleinen, roten Reihenhaus. Mir war nie vorher aufgefallen, dass in dieser Straße so gar keine Bäume standen. Irgendwie trist.
Kofi klingelte bei Rolf Sproy. Ein Namensschild aus Pappe, wahrscheinlich aus einem Verpackungskarton geschnitten. Ich versuchte, durch die Scheiben neben der Tür zu spähen, es spiegelte zu stark.
Die Tür öffnete sich nicht. Stattdessen sagte eine weibliche Stimme. „Wir kaufen nichts an der Tür.“
„Kriminalpolizei. Wir müssen mit Ihnen sprechen.“
Nichts geschah.
Ich klingelte noch einmal. Da wurde die Tür aufgerissen. „Wo brennt’s denn?“
Der Mann trug Jeans und ein kariertes Hemd. Ein Adler an der Goldkette um den Hals und auf der Gürtelschnalle. Nur die Romika-Puschen passten nicht ins Bild.
„Wir würden gern Ihre Tochter Julia sprechen. Ist sie zu Hause?“
„Was hat das Gör angestellt?“
Kofi antwortete: „Wir brauchen sie als Zeugin.“
„Ist nicht da.“ Er tippte auf seine Armbanduhr, ein Silverdollar. „Jetzt ist noch Schule. Am Mittwoch kommt sie um zwei.“ Während er sprach, betrachtete er Kofi von oben bis unten.
„Kennen Sie Onkel Tom’s Hütte? Kein ruhmreiches Kapitel in der Geschichte der Vereinigten Staaten.“ Er schüttelte traurig den Kopf. „Kommen Sie rein, wenn’s denn sein muss.“
Im Flur hing ein Traumfänger direkt neben zwei Gewehren. Kofi zeigte mit dem Finger auf das untere. „Der Bärentöter, stimmt’s?“
Der Mann, der vor uns hergegangen war, drehte sich um. Sein bisher missmutiges Gesicht hellte sich auf.
„Den Henrystutzen habe ich im Schlafzimmer. Werfen Sie mal ein Auge drauf, aber nicht erschrecken.“
Er zog eine Tür links von uns auf. Ein riesiger, zotteliger Bär mit einem Tablett auf den Pfoten stand da. Darauf lag ein Gewehr mit silbernen Nieten auf dem Kolben. Daneben stand ein weiteres, wohl dieser Henrystutzen.
Das Bett war frisch gemacht. Auf den Nachtschränken standen jeweils ein Wecker, eine Lampe und ein Glas. Die Gläser verkehrt herum auf Untersetzern. Eine Wand bedeckte der Kleiderschrank. Über dem Bett hing ein großes gerahmtes Plakat von Buffalo Bill.
Herr Sproy hatte meinen Blick bemerkt. „Das ist ein Original“, sagte er stolz.
Kofi hatte den Henrystutzen in der Hand und zielte auf den Federschmuck neben dem Fenster.
Mich fröstelte. Hier war nur Raum für die Devotionalien dieses Mannes. Alles sah kalt und unbewohnt aus. Wo war die Frau geblieben?
Als wir ins Wohnzimmer traten, tauchte sie wieder auf. Mit einem Tablett. Aufgeräumt sagte Herr Sproy: „Eigentlich müsste ich Ihnen ja ein Friedenspfeifchen anbieten, aber sie möchte nicht, dass hier geraucht wird, wegen der Gardinen.“ Er verdrehte die Augen.
Sofa und Sessel waren mit gewebten Decken mit Indianermustern bedeckt. An den Wänden, in der Schrankwand, überall Cowboys und Indianer.
Er klappte das Barfach in der Schrankwand auf. „Ein Feuerwasser?“
Wir lehnten ab, er schenkte sich einen Whisky ein.
Ich hatte gar nicht gewusst, dass es solche verspiegelten Barfächer noch gab. Dann betrachtete ich die Schränke genauer. Achtziger Jahre. Gleich nach der Hochzeit gekauft, nicht bei Ikea, sondern in einem richtigen Möbelhaus, für die Ewigkeit.
„Wobei soll meine Tochter Zeugin gewesen sein?“
„Mir wäre es lieber, wenn Ihre Frau sich auch zu uns setzen würde.“
„Muss das sein? Sie hat zu tun.“
„Es muss sein.“
Er seufzte, ich merkte jedoch, dass seine Geduld nachließ.
„Moni, setz dich her“, brüllte er.
Seine Frau huschte herein und setzte sich auf die Lehne seines Sessels.
Kofi räusperte sich. „Heute Morgen hat es einen Überfall auf das Campe-Gymnasium gegeben.“ Er reagierte gar nicht, sie hielt sich den Mund zu, die Augen vor Schreck geweitet. „Ihrer Tochter ist nichts passiert. Sie hatte die Schule etwa eine Stunde vorher verlassen.“
„Sie hat was?“
Herr Sproy sprang so abrupt auf, dass seine Frau von der Lehne rutschte. Sie rappelte sich auf. „Beruhige dich, Rolf.“
„Die kann was erleben, wenn sie nach Hause kommt. Schwänzen gibt’s bei uns nicht.“
Kofis Körper spannte sich an. Ich kam ihm zuvor. „In diesem Fall kann man von Glück reden, dass sie während des Anschlags nicht auf dem Hof war. Es hat Todesopfer und Verletzte gegeben.“
Er brummte etwas wie: „Hoffentlich hat es die Richtigen erwischt.“ Seine Frau hingegen fragte: „Freunde von Julia?“
„Ja, leider.“
Er mischte sich ein.
„Was soll Julia gesehen haben, wenn sie gar nicht mehr in der Schule war?“
„Könnte sie dem Täter begegnet sein, als sie die Schule verlassen hat?“ Frau Sproy war sichtlich geschockt. „Wo ist Julia jetzt?“
„Bist du blöd, oder was? Wenn Sie das wüssten, wären sie nicht hier.“
„Sie kennen Julias Freund?“
Die Frau nickte, ein Lächeln schlich sich in ihre Mundwinkel.
„Ist der Kerl tot?“
Er rieb sich die Hände. „Man müsste sich glatt bei dem Täter bedanken.“
„Rolf!“
„Ist doch wahr.“
„Nein, Timo Fleck hat es nicht getroffen. Er hat mit oder kurz nach Ihrer Tochter die Schule verlassen.“
In Rolf Sproys Gesicht arbeitete es. Konnte es sein, dass man sehen konnte, wenn er angestrengt nachdachte?
„Er ist der Täter. Was für ein Früchtchen. Ich hab’s schon immer gesagt, ein Arschvoll zur rechten Zeit hat noch niemandem geschadet.“
Kofi konnte kaum noch an sich halten.
„Das würde der Junge nicht tun“, murmelte Frau Sproy.
„Halt’s Maul. Soweit kommt es noch, dass du mir hier vor allen Leuten widersprichst und den Bastard auch noch in Schutz nimmst.“
Sie verließ, leise weinend, die Stube. Kofi erhob sich und folgte ihr. Rolf Sproy wollte ihn aufhalten, besann sich anders, als er meinen Blick auffing.
„Herr Sproy. Wir müssen dringend mit Ihrer Tochter sprechen. Es wäre hilfreich, wenn Sie uns anrufen oder mit ihr zu uns kommen, sobald sie auftaucht. Und Herr Sproy, Ihre Tochter hat ein Recht auf körperliche Unversehrtheit.“
„Wie meinen Sie das?“
„Wir verstehen uns schon.“
Dann hatte ich eine Idee. „Zeigen Sie mir doch bitte mal ihr Zimmer.“
Er schwang sich aus dem Sessel hoch. „Wir müssen nach oben.“
Hinter ihm stieg ich die schmale Treppe hinauf. Die Tür zum Bad stand offen. Auf dem Flur ein riesiger Adler aus Polyresin, ein Wagenrad an der Wand. Ein Whiskeyfass diente als Tisch.
„Julia wohnt da drin“, sagte er und zeigte auf eine Tür.
Ich öffnete sie und sah hinein. Ein ungemachtes Bett mit schwarzer Bettwäsche, ein Schreibtisch mit PC, ein Kleiderschrank und Regalbretter, auf denen mindestens fünfzig Karl-May-Bände standen. „Ihre Tochter teilt Ihre Leidenschaft für den Wilden Westen?“
„Nee, ich wusste nicht, wohin mit den Büchern.“ Er schob mich weiter in den Raum hinein und zeigte auf ein Indianerzelt, das in einer Ecke stand. „Früher wollte sie immer darin spielen, das geht natürlich nicht. Gucken Sie sich mal die Perlenstickerei an.“
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. „Sie lagern Ihre Sachen im Zimmer Ihrer Tochter?“
„Klar, sie hat doch genug Platz zum Schlafen, und einen Schreibtisch für die Schulsachen hat sie auch.“ Er zog eine Schublade auf. Darin lagen Perlen, Draht, Klebstoff.
„Sie hat das beste Licht für solche Arbeiten.“
Ich schluckte. „Hat Ihre Tochter gar keine Privatsphäre?“
„Wozu? Bleibt doch alles in der Familie.“
Ich verabschiedete mich so schnell ich konnte. Hierher würde Julia wohl nur im äußersten Notfall zurückkehren, und Hinweise auf was auch immer gab es hier garantiert nicht.
Wir waren beide froh, als wir wieder im Auto saßen.
„Ich habe ihr die Telefonnummer von Konstanze gegeben. Die hat eine besondere Ausbildung für weibliche Gewaltopfer.“
„Glaubst du ernsthaft, die zeigt ihren Mann an?“
„Sie behauptet, dass er sie nicht schlägt, und Julia auch nicht. Sie sagt, er wäre nett und freundlich, solange er nichts getrunken hat.“
„Genau, und Schildkröten legen ihren Panzer zum Duschen ab.“
Verblüfft grinste Kofi mich an. „Hast du in ihrem Zimmer was gefunden?“
„Noch mehr Indianerkram. Der Typ sieht nur sich. Trotzdem soll Marc sich mal die Rechner von Timo und Julia ansehen.“
„Gut wäre auch, wenn jemand die Häuser überwacht.“
„Dafür haben wir kaum genug Leute. Ich sag Herbert, er soll seine Runden etwas enger drehen und häufiger hier, bei Heckmann und bei den Flecks vorbeifahren. Vielleicht haben wir Glück. Wenn wir die beiden nicht bald finden, müssen wir sie zur Fahndung ausschreiben.“ Kofi zögerte. „Das ist der Schritt von der Verzweiflungstat zum Terrorismus, oder? Unsere Leute haben Fotos von den beiden. Wir haben bei den Nachbardienststellen um Unterstützung gebeten. Sie sind in der Vermisstendatei. Das reicht. Wenn wir in der Zeitung oder sogar im Fernsehen nach den beiden suchen, entwickelt sich eine Hexenjagd.“
„Es gibt Vorschriften.“
Kofi sah mich empört an. „Nicht mal der Mausig hält den für einen Terroristen. Außerdem gibt es gar keine Beweise.“
Ich blieb stur. „Es gibt aber auch keine Gegenbeweise.“
Ich lehnte mich im Beifahrersitz zurück, während Kofi uns zur Dienststelle brachte. Ich würde mich nie an all das gewöhnen, an prügelnde Ehemänner, an Überfälle und Diebstähle und schon gar nicht an tote Kinder.
Er fuhr die Liebigstraße bis zum Ende und bog in die Allersheimer ein. Symrisehallen wucherten hier hinter jeder zweiten Ecke. Als wir auf der Höhe des Friedhofs waren, fragte Kofi: „Was meinst du, warum Amokläufe immer an Gymnasien passieren?“
„Ist das so?“
„Kommt mir so vor.
„2002 in Erfurt, Gutenberg-Gymnasium, und 2009 das Carolinum in Ansbach, oder?“
„Aber Winnenden war eine Realschule, glaube ich.“
„Okay, dann vielleicht doch nicht. Ich dachte, wegen Abiturstress und so.“
Bevor wir links zur Dienststelle in die Sohnreystraße abbiegen konnten, mussten wir wegen des Gegenverkehrs eine ganze Weile warten. Kofi fuhr auf das Parkdeck und nicht in die Parkgarage. Nacheinander betraten wir das Gebäude durch den Hintereingang.