41

Lars hatte gleich nach dem Frühstück bei Valentin angerufen. Er war nicht drangegangen. Auch auf dem Festnetztelefon meldete sich niemand.

Kurz danach tauchte Gini auf. Sie sah völlig fertig aus, stürzte ins Haus und brach weinend auf seinem Bett zusammen.

Fassungslos stand er neben ihr.

Langsam, so als wolle er nicht wirklich hören, was sie so traurig machte, setzte er sich neben sie. Er streichelte ihren Rücken, brabbelte tröstende Worte, die keinen wirklichen Sinn ergaben. Er spürte, dass ihr ganzer Körper zuckte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit verstand er ein Wort. Valentin.

„Was ist mit Valentin?“

„Tot.“

„Nein.“

Er packte sie an den Schultern, drehte sie zu sich um. „Nicht Valentin. Warum? Wie?“ Seine Stimme versagte.

„Überfallen, zusammengeschlagen, gestern Nacht.“ Gini hatte sich aufgesetzt. Sie rieb sich die Augen, schniefte. Ohne darüber nachzudenken, reichte Lars ihr ein Taschentuch.

„Überfallen? Von wem?“

„Weiß ich nicht.“

„So geht das nicht. Erzähl von vorn.“

Gini nickte, brauchte aber noch einige Minuten, bis sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie einigermaßen verständlich berichten konnte.

„Wir wollten sicher gehen, dass Timo keine Dummheiten macht. Deshalb hatten wir vereinbart, doch gegen Mitternacht zu Heckmanns Haus zu gehen.“

„Warum?“ Lars fühlte einen Stich. „Wieso habt ihr mich nicht mitgenommen?“

„Valentin wollte dich nicht beunruhigen. Und wegen Nora. Er hat gedacht, wenn du kommst, will sie auch mit. Er wollte sie nicht in Gefahr bringen.“

„Gefahr? Welche Gefahr denn?“

„Timo, die Polizei, Heckmann, der Kerl, der auf uns geschossen hat.“ Gini sprach immer lauter. „Was weiß ich denn. Jedenfalls hatte er recht.“ Sie wurde wieder leiser. „Ich konnte nicht rechtzeitig weg. Meine Mutter saß mit ihrer Freundin im Wohnzimmer, bis Viertel vor eins. Als sie endlich ins Bett ging, habe ich Valentin angerufen. Es konnte sein, dass er schon zurück war. War er aber nicht. Er ist nicht ans Handy gegangen.“

„Also bist du raus?“

„Ich habe mich aus dem Haus geschlichen und bin zu Heckmanns Grundstück. Da war alles ruhig. Erst wollte ich umdrehen, aber dann hatte ich so ein Gefühl. Deshalb bin ich weiter zu Valentins Wohnung gegangen. Es war alles ganz still. Nur ein Auto brummte gelegentlich irgendwo in der Stadt. Plötzlich hörte ich ein Stöhnen. Erst wollte ich weglaufen. Doch es klang nicht bedrohlich.“ Sie weinte wieder. „Da sah ich ihn. Ein dunkler Haufen in einem Vorgarten. Er röchelte, schien keine Luft zu bekommen. Ich konnte nicht viel sehen, aber sein Gesicht war ganz blutig.“

„Hat er was gesagt? War er bei Bewusstsein?“

„Am Anfang ja, später nicht mehr, glaube ich. O, Gott, es war so entsetzlich. Fast zwanzig Minuten hat es gedauert, bis der Rettungswagen endlich kam.“

„Was haben sie gesagt?“

„Dass sie nichts sagen können, und bei Valentin zu Hause geht niemand ans Telefon.“

Beide schwiegen.

Schließlich räusperte Lars sich. „Er muss nicht tot sein.“

Gini sah ihn an. „Du hast ihn nicht gesehen. So viel Blut. Ich habe gar nicht gewusst, dass wir so viel Blut in uns drin haben. Und das Gesicht!“

„Wie bist du nach Hause gekommen?“

„Ich habe meinen Vater angerufen. Der hat mich abgeholt.“

„Hast du viel Ärger bekommen?“

„Geht so. Ich habe gesagt, dass Valentin mich angerufen und um Hilfe gebeten hat. Er hat nur gesagt, dass er nicht erwartet hätte, dass ich ihn so enttäusche und mich nachts rausschleiche, dann hat er mich in den Arm genommen und nach Hause gebracht.“

„Kein Stubenarrest?“

„Wozu?“ Gini war verwundert. „Meine Eltern waren froh, dass ich Valentin gefunden habe. Wenn er bis morgens da gelegen hätte, wäre es sicher zu spät gewesen. Außerdem fanden sie es gut, dass ich sie gleich angerufen habe, nachdem ich ihn gefunden hatte.“

„Wieso das denn?“

„Hat was mit Vertrauen zu tun.“

Lars verstand nicht so genau, was sie damit meinte. Hätte er seine Mutter angerufen in dieser Situation? Wahrscheinlich nicht. Wen hätte er angerufen? Seinen Vater? Ganz bestimmt nicht.

„Ich fahre jetzt ins Krankenhaus. Seine Eltern sind bestimmt auch da. Kommst du mit?“

Gini zitterte. „Darf ich hierbleiben?“

„Klar.“

Sie legte sich auf sein Bett. Er deckte sie zu. Sie zog die Beine an, rollte sich zusammen wie ein Baby. „Danke, ich warte auf dich.“

Vor dem Krankenhaus parkte der Mazda von Valentins Eltern. ‚Ein gutes Zeichen‘, dachte Lars. ‚Er lebt noch, sonst wären sie nicht mehr hier.‘

Kaum hatte er das Gebäude betreten, kamen ihm Herr und Frau Shekovietz entgegen. Sie sahen beide übernächtigt aus. Frau Shekovietz hielt sich ein geblümtes Stofftaschentuch vors Gesicht. Trotzdem hatte Lars nicht das Gefühl, dass sie weggingen, weil alles vorbei war.

Herr Shekovietz bemerkte ihn als Erster. „Lars, mein Junge. Kommst du zu deinem Freund? Das ist gut. Er ist aufgewacht aus diesem Koma. Furchtbar sieht er aus, furchtbar. Aber er lebt.“

„Sie sagen, er wird wieder ganz und komplett gesund“, sagte Frau Shekovietz. „Wir fahren nach Hause, um Sachen zu holen. Schlafanzug und Seife.“ Sie schniefte laut. „Zahnbürste wird er nicht brauchen so bald, hat drei Zähne verloren, der arme Junge.“

„Und Nase gebrochen, aber nicht Schädel. Das ist gut, sagt der Arzt. Sehr gut.“

„Und Jochbein. Lars, was ist Jochbein?“

Lars war überrumpelt. „Unter dem Auge, glaube ich.“ Oder neben dem Auge? „Kann ich mit ihm sprechen?“

Herr Shekovietz wiegte den Kopf. „Sprechen ist schlecht, sehr schlecht. Ist alles geschwollen.“

„Hat er Schmerzen?“

„Nein, nein, er bekommt Tropf. Da ist alles drin, Mittel gegen Schmerz, gegen Schwellung und gegen Angst.“

„Gegen Angst?“

„Hat der Arzt gesagt, Mittel, damit er sich nicht aufregt. Zur Beruhigung.“

Plötzlich packte ihn Frau Shekovietz am Arm. „Was hatte Valentin vor, gestern Nacht? Warst du auch da?“

„Nein, ich war nicht da.“

„Erst schießt einer auf meinen Sohn, dann wird er zusammengeschlagen. Was ist das für eine Stadt? Was habt ihr gemacht?“

Sie hielt ihn so fest, dass es ihm wehtat. „Er wollte nur nachsehen, ob Timo auftaucht.“

„Immer dieser Timo. Wo ist er? Kann er mir erklären, was ist los?“

„Das wüssten wir auch gern. Sie tun mir weh.“ Abrupt ließ sie ihn los, schaute verwundert auf ihre Hand.

„Junge, ihr müsst auf euch aufpassen. Wir kommen wieder, spätestens in einer Stunde.“

Lars nickte und drückte sich an den beiden vorbei.

Er saß still an Valentins Bett. Der lag auf dem Rücken, atmete gleichmäßig. Regelmäßig fiel ein Tropfen aus der Flasche in einen Schlauch, der in einer Kanüle in seiner rechten Hand endete. Bis auf ein paar Abschürfungen war sie unverletzt. Die linke dagegen war eingegipst.

Die Bettdecke reichte bis zu seiner Brust. Valentins Kopf war bandagiert, auch seine Nase hatte man zugeklebt. Das Kinn und der Mund waren geschwollen. Er sah zum Fürchten aus.

Lars erschrak, als er eine Berührung auf seinem Oberschenkel spürte. Valentin hatte sich bewegt. Er sah ihm in die Augen, die jetzt offen waren.

„Hi.“

Valentin schloss die Augen und öffnete sie gleich wieder.

„Kannst du sprechen?“

Valentin bewegte den Kiefer, Lars hörte nur unverständliche Geräusche.

„Einmal blinzeln heißt ja, zweimal nein, okay?“

Valentin blinzelte einmal.

„Warst du vor Heckmanns Haus?“

Er blinzelte einmal.

„Hast du Timo gesehen?“

Zweimal geblinzelt.

„Hast du erkannt, wer dich überfallen hat?“

Zweimal.

„Einer oder zwei?“

Valentin blinzelte dreimal. Lars verstand zuerst nicht. Okay, Oder-Fragen waren blöd.

„Einer?“

Ein Blinzeln.

„Kannst du ihn beschreiben?“

Zwei Lidschläge.

Es klopfte an der Tür.

Kriminalhauptkommissar Ollner kam herein. Lars vermisste Kofi.

„Guten Tag, wie geht es Ihnen?“

Er hatte sich direkt an Valentin gewandt, sah jedoch Lars fragend an.

Wie ging die Floskel? „Den Umständen entsprechend.“ Der hatte sich garantiert vorher bei den Ärzten erkundigt.

„Ich hätte ein paar Fragen. Können Sie sprechen?“

Valentin blinzelte zweimal.

„Zweimal heißt nein“, erklärte Lars. „Blinzeln.“

„Gut, haben Sie den erkannt, der sie angegriffen hat?“

Lars sagte: „Nein, er kann ihn nicht beschreiben und einen Grund weiß er auch nicht. Das habe ich ihn schon gefragt, bevor sie gekommen sind.“

„Stimmt das?“

Valentin blinzelte einmal.

„Eugenia Belfano hat Sie gegen halb zwei gefunden. Wann wurden Sie überfallen?“

‚Wie soll er das beantworten?‘, dachte Lars. „War es nach Mitternacht?“

Ein Blinzeln.

„Nach eins?“

Zwei Lidbewegungen.

„Halb eins?“

Einmal.

„Ein Mann?“

„Größer als du?“

„Hat er eine Waffe verwendet?“ Das war Ollners Frage.

Valentin blinzelte jeweils einmal.

„Einen Totschläger?“

Valentin riss die Augen auf.

„Eine kurze Stange?“

Ein Blinzeln.

Ollner seufzte. „Und Sie haben selbstverständlich keine Ahnung, wer Sie warum überfallen haben könnte.“

Valentin bäumte sich auf und versuchte, etwas zu sagen. Lars und Ollner sahen sich ratlos an. Was sollte das heißen?

Lars hatte eine Idee. „Haben Sie etwas zu schreiben? Einen Zettel und einen Stift?“

Ollner nahm sein Notizbuch aus der Jackentasche und klappte es auf.

Lars steckte den Stift in Valentins rechte Hand und legte das Buch darunter. „Los, schreib’s auf. Ist egal, wenn es krakelig wird, wir können es bestimmt entziffern.“

Die Schrift sah ungelenk aus, am Ende fehlte ein N. Aber Valentin hatte unzweifelhaft „Heckman“ geschrieben, gefolgt von drei Fragezeichen.

„Bist du dir sicher?“

Valentin blinzelte zweimal. Seine Hand bewegte den Stift übers Papier. Ein Teil der Buchstaben kreuzte den Namen. „Vom Haus verfolgt“ stand da.

Lars konnte nicht glauben, was er da sah. „Du bist zu Heckmanns Haus gegangen, falls Timo doch kommt?“

Einmaliges Blinzeln.

„Er ist nicht aufgetaucht?“

Ein Blinzeln.

„Ein anderer war vor dem Haus?“

Noch ein Ja.

„Er hat dich angegriffen? Du bist weggelaufen?“

Ein müdes Blinzeln.

„Okay, das reicht. Jetzt hätte ich gern ein paar Erklärungen von Ihnen.“ Ollner wies mit dem Zeigefinger auf Lars. „Sie rechneten damit, dass Timo vor dem Heckmannschen Grundstück auftaucht, halten es jedoch nicht für notwendig, die Polizei zu informieren?“

„Ich, ich dachte, er hätte sich längst gemeldet. Deshalb bin ich nicht hingegangen.“ Was er bitter bereute. Zu zweit wären sie bestimmt nicht angegriffen worden.

„Wie kommst du darauf, dass er sich gestellt hätte?“

„Er hat mich angerufen, ganz kurz nur. Er wusste von nichts. Ich hab’s ihm erzählt und gesagt, er soll mit seinem Vater zur Polizei gehen.“

„Wusstest du, wo er sich aufgehalten hat?“

„Nein, er war mit Julia zusammen. Wo, hat er nicht gesagt. Vielleicht ist er auf dem Weg zur Polizei angegriffen worden, so wie Valentin.“ Lars war aufgeregt. „Wir haben Ihnen gesagt, da hat es einer auf uns abgesehen. Sie haben uns nicht geglaubt, weil wir Kinder sind.“

„Kinder hätte ich nicht gesagt. Ihre Theorie klingt weit hergeholt, wenn es so gar kein Motiv gibt. Oder ist Ihnen inzwischen eines eingefallen?“

„Nein.“ Lars ließ den Kopf hängen. „Dabei denke ich dauernd darüber nach.“

„Dann will ich Ihnen auf die Sprünge helfen. Können Sie mir erklären, wie Ihre und Valentins Fingerabdrücke auf den neuen Wagen Ihres Lehrers kommen?“

Lars stutzte. „Klar. Valentin hat in dem Laden Praktikum gemacht. Er hat beim Reifenwechseln geholfen, bevor der Wagen ausgeliefert wurde, und ich habe Fotos gemacht für seine Praktikumsmappe.“

„Beim Fotografieren haben Sie den Wagen berührt?“

„Ich war neugierig, wegen der Bildschirme in den Kopfstützen.“

Ollner sah nicht überzeugt aus. Er fragte Lars, ob er wusste, wo das Mädchen sich aufhielt, das Valentin gefunden hatte.

Lars schüttelte den Kopf. Galt das auch als Lüge?

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