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Gleich nach Arbeitsschluss war Sebastian nach Eschershausen gefahren, in seine Scheune. Welch ein Glück, dass Frau Gambach ihn die Werkzeuge und Maschinen des Autohauses für sein „kleines Hobby“, wie sie es nannte, benutzen ließ. Stolz war er auch, dass sein Schatz inmitten all der neuen Modelle auf einem Podest stand. Hälfte/Hälfte hatte sie ihm angeboten. Wenn sie das Auto tatsächlich für ihn verkaufen konnte, bekam er mehr als 20.000 Euro. Nicht bar auf die Kralle, sondern aufs Konto, aber trotzdem. „Bei mir geht alles über die Bücher“, hatte sie gesagt und ihn angesehen, als wüsste er genau, wovon sie sprach. Er verstand das mit den Büchern nicht, aber wenn es ihr so wichtig war, fand er es okay, ein bisschen übertrieben, aber okay. Schließlich wusste er genau, dass nicht wirklich alles durch die Bücher ging, es sei denn, sie hatte auch Bücher für Trinkgeld und so.
Er zog das hölzerne Tor auf. Als das Licht auf sein Schmuckstück fiel, fühlte er sich beschwingt. Zärtlich strich er mit der Hand über die Motorhaube. Reines Metall. Er liebte den Geruch an seinen Händen. Flaschengrün würde sie werden, aber jetzt erst einmal der Kühlergrill. Er hielt ihn davor. Perfekt. Sah aus wie neu. Er grinste. Besser wie alt. Man musste schon ein absoluter Fachmann sein, um zu erkennen, ob das ein altes oder ein neues Bauteil war.
Er hatte es so hergestellt, wie es vor sechzig Jahren gemacht wurde. Natürlich musste er Material von heute verwenden, aber die Techniken waren alt. Echte Handarbeit eben. Er rieb über den Schnitt in seiner linken Handfläche, der nur noch wenig schmerzte, und dachte an die unzähligen Eisensplitter, die er sich hatte aus den Händen puhlen müssen. Alles unwichtig.
Er legte den Kühlergrill auf die hölzerne Werkbank und öffnete seine Werkzeugtasche. Als er den Dreizehner nicht auf Anhieb fand, spürte er Wut in sich aufsteigen. Er dachte an das Shadowboard im Autohaus, wo man alle Werkzeuge übersichtlich vor sich hatte. Dann straffte er sich, hob die Werkzeugtasche mit einem Ruck auf die Arbeitsfläche. So neumodischen Kram wollte er nicht. Eine lederne Werkzeugtasche war genau das Richtige für ihn. Sanft strich er über das rissige Leder.
Kurz nach dem dritten Geburtstag seiner Schwester war sein Alter wieder einmal betrunken nach Hause gekommen. Sebastian hatte immer geglaubt, dass er ihn auf dem Kieker hatte, weil er eben nicht sein richtiger Sohn war. Doch der machte gar keinen Unterschied zwischen ihm und seiner eigenen, richtigen Tochter. Torkelte in die Wohnung. Schob Melanie zur Seite, die in fröhlich begrüßen wollte, sodass sie mit dem Rücken gegen die Garderobe knallte und vor Schmerz weinte. Brüllte nach seinem Steak. Als seine Mutter den Teller nicht schnell genug auf den Tisch brachte, schlug er nach ihr. Sie flog gegen den Türrahmen und stieß dabei Melanie um, die hinter ihr gestanden, sich an ihren Beinen festgeklammert hatte. Seine Mutter schrie vor Schmerz, konnte sich nicht gleich wieder aufrichten. Trotzdem versuchte sie, ihre dreijährige Tochter mit ihrem Körper zu schützen, als der Alte sie trat.
„Steh endlich auf, du alte Fotze.“
Jedes Wort ein Tritt.
Sebastian erinnerte sich, wie er auf dem Flur gestanden hatte. Er konnte nur einen Ausschnitt der Szene sehen. Den Kopf seiner Mutter, der unter den Tritten hin und her flog. Aber er hörte alles, jeden einzelnen Tritt. Jedes Stöhnen seiner Mutter, das hilflose Schluchzen seiner Schwester.
Dann tauchte Melanies Gesicht auf. Sie blutete. Aus der Nase?
Sie sah ihn an. Bittend. Mit Tränen verschmiertem Gesicht. Streckte einen Arm nach ihm aus.
Sebastian legte seinen Zeigefinger auf den Mund, bückte sich lautlos. Kaum hatte er ihr Händchen gepackt, um sie aus der Küche zu ziehen, wurde er an den Haaren nach oben gerissen.
Er schrie nicht.
Einen Augenblick war er wie gelähmt.
Dann roch er das Bier, als der Alte ihn anbrüllte und über seine Mutter hinweg in die Küche zerrte. Sebastian spürte, dass er seiner Mutter auf den Bauch trat, aber er hatte keine Wahl.
Was sollte er denn tun?
Der Alte stieß ihn erst gegen den Tisch und dann gegen den Herd. Was er brüllte, verstand Sebastian nicht. Seine Brust schmerzte. Seine Augen füllten sich mit Tränen.
Da bemerkte er die Pfanne. Er griff nach dem Stiel. Schlug zu, ohne hinzuschauen. Das heiße Fett spritzte auf seine Arme und sein Gesicht. Der Alte wankte, fiel. Irgendwie verdutzt guckte er. Sebastian sah, wie seine Augen nach hinten zu rollen schienen, bevor er ohnmächtig wurde. Schnell stieg er über ihn hinweg, half seiner Mutter aufzustehen und Melanie, das Blut abzuwischen.
„Du musst verschwinden.“
Die Stimme seiner Mutter klang atemlos. „Wenigstens für ein paar Tage. Wenn er wieder aufwacht, schlägt er dich tot.“ Sie krümmte sich vor Schmerzen, hielt sich die Seite.
Sebastian zögerte. Weg? Wo sollte er denn hin? Sie brauchte ihn doch.
„Geh zu Mikey. Ich rufe seine Eltern nachher an und frage, ob du ein paar Tage bleiben kannst.“ Sie zog eine Plastiktüte aus der Eckbank. „Nimm dir was zum Anziehen mit.“ Dann fingerte sie noch fünf Mark aus der Hosentasche. „Beeil dich.“
Wie benommen ging Sebastian ins Wohnzimmer. Sein Bett stand unter dem Fenster, daneben der Karton, in dem er seine Schulsachen und sein Spielzeug aufbewahrte. Die kleine Blechschachtel mit seinen Schätzen steckte er als Erstes in die Tüte. Seine zweite Hose und zwei T-Shirts folgten. Er überlegte kurz, ob er einen Schlafanzug brauchen würde. Da der lauter Löcher hatte, verzichtete er darauf. Er schlief sowieso lieber in Unterwäsche. Weil er Tränen in den Augen hatte, sah er nicht, ob die Socken, die er einsteckte, zusammengehörten. Es war ihm egal.
Kein Laut war zu hören, als er über den Flur schlich und die Wohnungstür hinter sich zufallen ließ.
Langsam ging er die Treppe hinunter. Im Hausflur roch es nach Hühnchen. Frau Mirsal machte freitags immer Hühnchen für ihren Enkel. Sebastian lief das Wasser im Mund zusammen. Wann hatte er das letzte Mal Hühnchen gegessen? Er konnte sich nicht erinnern. Weihnachten vielleicht? Sollte er bei Mirsals klingeln? Dann wäre er nicht so weit weg, falls seine Mutter und Melli Hilfe brauchten.
Nein, seine Mutter hatte gesagt, er soll zu Mikey gehen. Gehorsam verließ er das Haus und ging die Straße hinunter. Es nieselte. Etwa eine Viertelstunde brauchte er bis zu Mikeys Haus. Auf sein Klingeln öffnete niemand.
Er setzte sich auf die Stufen vor dem Haus und wartete. Langsam wurde es dunkel. Er begann zu frieren.
Wo sollte er nun hingehen?
Wieder nach Hause?
Was blieb ihm weiter übrig? Dicht an den Hauswänden entlang schlich er zurück nach Hause. Es duftete noch immer leicht nach Hühnchen, als er die Haustür aufschob. Die Plastiktüte mit seinen Sachen klebte an seinen Beinen fest, während er die Stufen hinaufging.
Plötzlich hörte er ihn brüllen. Oben sprang die Tür auf, knallte gegen die Wand. Schwere Schritte auf dem Treppenabsatz.
Sebastian drehte sich um, rannte, stolperte, sprintete die Treppe wieder hinunter. Er zerrte an der schweren Tür, quetschte sich durch den Spalt und raste nach draußen.
An der Ecke stand ein Möbelwagen. Mühsam kletterte er hinein und versteckte sich zwischen einem Schrank und einer Spüle. Sein Herz hämmerte so laut, dass er glaubte, der Alte würde ihn hören, wenn er draußen an dem Lkw vorbeiging.
Irgendwann musste er eingeschlafen sein. Jedenfalls wachte er wieder auf, als zwei Männer einen Schrank aus dem Laderaum wuchteten und Sonnenlicht in sein Versteck fiel. Er schreckte hoch. Seine Beine waren eingeschlafen. Vorsichtig kroch er an die Ladekante und schaute sich um. Die Gegend kannte er nicht.
Die Männer kamen zurück. Er huschte wieder in sein Versteck. Nachdem sie, jeder mit einem Küchenoberschrank, abmarschiert waren, kletterte er aus dem Möbelwagen.
Da er sich nicht sicher war, ob ihn jemand beobachtet hatte, rannte er die Straße hinunter, bog so schnell wie möglich erst rechts und dann gleich wieder links ab und stand völlig unverhofft vor einem Maisfeld.
Neben ihm lag die Einfahrt zu einem Bauernhof. Davor stand ein Kasten, aus dem man sich Kartoffeln, Tomaten und sogar Honig nehmen konnte. Sebastian überlegte nicht lange.
Er stopfte von allem etwas in seine Tüte. Aus dem Holzkasten, in den man eigentlich das Geld für die Waren legen sollte, angelte er sich einen Zehnmarkschein.
Beinahe beschwingt marschierte er den Feldweg entlang, bis er die Scheune entdeckte. Seine Scheune, diese Scheune, in der er jetzt stand.
Damals war er durch ein loses Brett in der Rückwand hineingekrochen. In dem alten Volvo, der halb versteckt unter Strohballen stand, richtete er sich ein Lager ein.
Die Werkzeugtasche stand auf der Werkbank, das Leder war längst schimmelig und fleckig, die Werkzeuge rostig.
Damals hatte er das Wort Zuflucht noch nicht gekannt.
Sebastian lächelte. Keiner wusste, wo sich sein Zufluchtsort befand, seine Mutter nicht, Melanie nicht und Frau Gambach schon gar nicht. Hier hatte niemand etwas verloren.
Niemand.
Nachdem er noch einen Träger geschweißt hatte, bekam er Appetit auf einen Döner.
Sorgfältig räumte er das Werkzeug weg, löschte das Licht und verschloss die Scheune, bevor er sich auf sein Moped setzte und losfuhr.
Er überlegte kurz, ob er nach Alfeld oder Holzminden fahren sollte, entschied sich dann aber für Holzminden. Dort war heute Abend sicher mehr los.
Er hatte da was von einer After-Show-Party in der Stadthalle aufgeschnappt. Beat Knights hörte sich gar nicht schlecht an. Hatte nicht Frontman Steve Young früher bei Status Quo gespielt? Er pfiff „In the army now“, als er vom Feldweg auf die Bundesstraße einbog.