21
Lars lag im Bett und starrte an die Decke. Er dachte an gar nichts. Bleischwer und leer. So fühlte er sich. Fühlte er überhaupt etwas? Er spürte, dass die Tür zu seinem Zimmer sich öffnete. Gleich darauf setzte seine Mutter sich auf die Bettkante. Er erkannte sie am Geruch und an den kleinen Geräuschen, die sie beim Atmen machte, nachdem sie die Treppe zu ihm heraufgestiegen war. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Um elf Uhr gibt es eine Andacht. Da solltest du hingehen.“
Er nickte, ohne den Blick von der Decke zu lösen. Hingehen? Wohin denn? Zur Schule? Wozu denn?
„Frau Shekovietz hat angerufen, Valentin wird rechtzeitig entlassen und kommt auch hin.“
Valentin. Valentin war sein Freund. „Wie geht es Nora?“
Seine Mutter seufzte.
„Sie ist schon seit fünf Uhr auf. Sitzt in der Küche und starrt aus dem Fenster.“
Beide schraken zusammen, als Lars’ Handy klingelte.
„Willst du nicht drangehen?“
Lars zuckte mit den Schultern. „Wer ist es denn?“
Seine Mutter schaute auf das Display. „Gini.“
Sofort schnappte er sich das Handy. „Hi.“ Doch schon das „Wie geht’s?“ blieb ihm im Hals stecken.
„Wir kommen bei euch vorbei, Saskia und ich. Nora geht nicht an ihr Telefon. Ist sie okay?“
„Hm, sie ist auf. Wann seid ihr hier?“
„In ’ner halben Stunde etwa.“
„Bis gleich.“ Lars legte das Handy zur Seite und setzte sich auf. Sein Zimmer sah aus wie immer. Die Sonne schien, er hörte sogar einen Vogel. Autos fuhren vorbei, eine Mülltonne ratterte über einen Gartenweg. Alles wie immer. Unglaublich.
Lars duschte heiß, er duschte kalt. Es änderte nichts. Eine milchige Wolke umgab ihn, dämpfte Töne und Farben, trennte ihn von der echten Welt.
Unwillkürlich gingen sie enger nebeneinander, je weiter sie sich dem Schulgebäude näherten. Sie nahmen die Abkürzung zwischen den beiden HAWK-Gebäuden hindurch, an der Mensa vorbei. Verstohlen spähten sie alle zu dem Dach hinauf. Nichts rührte sich. Rot-weiße Absperrbänder flatterten an der Seitenwand im Wind.
Ob der Täter von da aus aufs Dach gelangt ist? Ein Student? Nicht unbedingt. Jeder konnte dort hingehen. Er spürte, dass seine Beine zitterten.
Er konzentrierte sich auf den Teich vor ihm. Gini berührte seinen Ellenbogen. „Da vorn ist Valentin.“
„Wo?“ Nora löste sich aus den Armen der beiden Freundinnen, reckte den Hals und rannte los. Kurz vor Valentin blieb sie stehen. Offensichtlich wusste sie nicht, ob und wo sie ihn berühren durfte. Er streckte den rechten Arm aus und zog sie zu sich heran. Er drückte sie fest an sich und streichelte ihren Rücken, der leicht zuckte und bebte.
Lars erkannte, dass Nora endlich weinen konnte. Er konnte zusehen, wie die Versteinerung aus ihr herausfloss.
Gini und Saskia hatten ihn in die Mitte genommen. Sie hatten sich auf beiden Seiten bei ihm eingehängt. Zu dritt waren sie bei Nora und Valentin angekommen. Da Lars keine Hand frei hatte, nickte er dem Freund zu. „Gut, dass du wieder draußen bist.“
Gemeinsam gingen sie die letzten Schritte auf den Schulhof. Obwohl so viele Menschen versammelt waren, herrschte Stille wie auf einem Fried …, nein, Lars schob diesen Gedanken weit von sich, still wie bei einem Gottesdienst. Das passte besser.
Stumm standen sie vor dem Meer aus Kerzen, Blumen, Fotos und Kuscheltieren, die im Rondell aufgestellt waren. Lars versuchte, jede Einzelheit in sich aufzunehmen, versuchte, die Tränen zu unterdrücken, die ihm über die Wangen liefen, ohne dass er etwas dagegen tun konnte.
Er bemerkte, dass es seinen Freunden nicht anders erging. Sie hielten sich an den Händen, rückten näher zusammen, trösteten sich gegenseitig durch ihre Gegenwart.
Pfarrer Braunbeck ging von Gruppe zu Gruppe. Lars hörte, wie er tröstend auf zwei kleinere Mädchen einsprach, die weinend auf der Erde hockten, sich aneinanderklammerten.
Er sah die Stellmacher neben dem Bürgermeister, die anderen beiden Männer kannte er nicht. Sahen aus wie Politiker. Mikrofone reckten sich ihnen entgegen. Blitze zuckten.
Lars stellte verwundert fest, dass er seine Kamera vergessen hatte. Wie viele Jahre war es her, dass er das Haus ohne seinen Fotoapparat verlassen hatte?
Er wusste es auf den Tag genau. Seine Eltern hatten vormittags, während Nora und er in der Schule waren, den ersten Termin beim Scheidungsanwalt gehabt. Nach dem Abendessen erklärten sie den Kindern, dass sie sich trennen würden. Und dann kam das Ungeheuerliche. Nora würde bei ihrer Mutter bleiben, und Lars konnte sich aussuchen, ob er mit dem Vater nach Hameln gehen oder bei der Mutter in Holzminden bleiben wollte. Beide strahlten ihn an, als hätten sie ihm eine einzigartige Überraschung präsentiert.
Er sah es ihnen deutlich an. Beide waren überzeugt davon, dass er sich für sie entscheiden würde. Sein Vater träumte im Geiste bereits vom gemeinsamen Frühstück im Bett, das seine Mutter immer verabscheut hatte. Und seine Mutter plante schon die Sonntagsausflüge in den Wald.
Warum taten sie ihm das an? Warum sollte er das entscheiden?
Er hatte sie gefragt. Doch die Antwort hatte ihm nicht gefallen. Weil du schon vierzehn bist. Schon vierzehn? Erst vierzehn, das konnte man genauso gut sagen.
Wie sollte er das entscheiden? Er wollte, dass alle zusammenblieben. Er wollte weder seinen Vater noch seine Mutter vor den Kopf stoßen.
Er erbat sich Bedenkzeit. Beide schauten betrübt.
Am nächsten Tag plünderte er sein Konfirmationskonto und kaufte sich die Kamera, von der er immer geträumt hatte. Er begann sofort, alles zu fotografieren. Wollte sein Vater mit ihm sprechen, machte er Portraits von ihm. Versuchte seine Mutter, ihn zum Reden zu bewegen, fertigte er Makroaufnahmen von ihren Ohrringen an.
Schließlich konnte er nicht mehr ausweichen. Der Richter fragte ihn. Er schoss ein Foto vom Richter und sagte dann: „Ich bleibe in Holzminden, wegen Nora.“
Als er sich wieder zu seinen Eltern umdrehte, die rechts und links von ihrem Anwalt saßen, fotografierte er nicht. Trotzdem brannte sich die Enttäuschung auf beiden Gesichtern tief in seine Erinnerung ein. Er hatte es vorher gewusst.
Sein Vater war unzufrieden, weil er sich nicht für ihn entschieden hatte. Und seine Mutter war betrübt, weil er wegen Nora blieb und nicht ihretwegen.
Er hatte den Gerichtssaal verlassen, ohne auf die anderen zu warten. Sie waren selbst schuld. Warum zwangen sie ihn dazu, sich zu entscheiden?
Ein Tumult holte Lars aus seinen Gedanken. Ein Junge, wahrscheinlich sechste oder siebte Klasse, rannte auf Gordon zu, der gerade aus dem Schulgebäude kam. Mit beiden Fäusten schlug er auf ihn ein. „Du weißt, wo der Mörder ist. Los, sag’s mir. Der muss dran glauben.“ Gordon konnte sich nicht wehren. Er trug den rechten Arm in einer Schlinge und stützte sich mit der linken Hand auf eine Gehhilfe.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis jemand den Jungen von Gordon wegzog. Lars konnte nicht verstehen, was der Mann sagte, aber es klang nicht freundlich.
„Lass uns zu Gordon gehen“, sagte er.
Zwei Stunden später saßen Gini, Nora und Valentin in Lars’ Zimmer. Sie waren erschöpft. Lars hatte für alle Kakao gemacht, aber sie hatten nicht davon getrunken.
Er zeigte ihnen die Bilder vom Überfall. Valentin war sich sicher, dass das nicht Timo war.
Sie brannten die Fotos auf eine CD, schickten Timo und Julia gefühlt die hundertste SMS und beschlossen, die CD zur Polizei zu bringen.
„Wann?“
Valentin zuckte mit den Schultern. „Am besten gleich.“
„Wem wollen wir die denn geben?“
„Am besten Kofi. Den habe ich nach dem Überfall gesehen.“
„Weil er mal einer von uns war?“
„Weil er der Einzige ist, nach dem ich fragen könnte.“
„Wir bleiben so lange hier am PC und beobachten, was sich bei schülerVZ und Facebook tut. Irgendwann müssen Timo und Julia doch mal von sich hören lassen“, sagte Gini.
Nora sah so aus, als wäre sie lieber bei Valentin geblieben. Sie sagte aber nichts.
Bevor sie das Zimmer verließen, strich Valentin ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und flüsterte: „Geh nicht weg, ich bin bald wieder da.“
Ob Gini ihn wohl mit einem dummen Spruch abweisen würde, wenn er sie jetzt in den Arm nahm? Saskia würde jedenfalls nicht nein sagen, wenn er sie fragen würde.
Er verließ das Zimmer, ohne noch etwas zu tun oder zu sagen.