9
„Guten Morgen, meine Damen und Herren! Wie ich sehe, fehlt nur der Herr Krüger. Sehr schön. Dann wollen wir mal zur Tat schreiten.“
Oberstudienrat Harald Heckmann betrat das Klassenzimmer immer schon mit dem gezückten Notizbuch in der Hand. Nun tippte er mit seinem Rotstift die einzelnen Namen an.
Timo flüsterte: „Als ob der nicht schon längst weiß, wen er piesacken will.“
Lars hielt die Luft an. Musste er ihn jetzt auch noch provozieren?
Heckmann schaute hoch, schaute Timo direkt an, hielt inne, so als müsste er überlegen, ob da eine Kakerlake oder ein Schüler am Tisch saß. Heckmann war ein großer Mann, mit breiten Schultern, der sich militärisch gerade hielt. Er war der einzige Lehrer des Campe, der jeden Tag im Anzug kam, und er war der Einzige, von dem die Oberstufenschüler sich siezen ließen.
Heckmann holte Luft, als wollte er etwas sagen, klappte den Mund aber wieder zu, ohne etwas gesagt zu haben.
Allgemeines Gemurmel, besonders in der letzten Reihe.
Lars fragte sich, wie viele wussten, was gestern Nacht mit Heckmanns neuem Auto passiert war. Lauerten alle darauf, dass er Timo beschuldigte, dass er ausrastete?
Timo jedenfalls saß gelassen an seinem Tisch. Wie immer die Cap auf. An sich schon eine Provokation, die er sich nur in Mathe erlaubte, und der Heckmann ließ es ihm durchgehen, ignorierte Timo einfach.
Zum ersten Mal kam Lars der Gedanke, dass der Physik- und Mathelehrer Angst vor Timo haben könnte. Oder vor ihnen allen?
Ohne die Miene zu verziehen, sagte Heckmann: „Dann wollen wir mal die Sproy vom Weizen trennen.“ Er drehte sich zur Tafel um und schrieb eine Aufgabe an.
f(x) = 6x² -3
Julia hasste die eckigen Buchstaben und Zahlen, die wie gedruckt an der Tafel auftauchten. f von x, das klang mindestens so abartig wie Filzläuse. Sechs X zum Quadrat. Quadratlatschen hatte höchstens der Heckmann. Minus drei. Eine Drei minus würde ihr vollkommen reichen.
Lars sah, dass Julia kreidebleich geworden war. Julia hieß Sproy, was dachte das miese Arschloch sich dabei? Die Sproy vom Weizen trennen. Das lassen wir uns nicht gefallen. Gleich nach der Stunde gehe ich zur Stellmacher. Die muss was unternehmen.
Dabei reckte er den Arm. Als Heckmann keine Anstalten machte, ihn dran zu nehmen, sondern seinen Blick gleichmütig über den Kurs schweifen ließ, bis er bei Julia angekommen war, rief Lars: „Darf ich die Kurvendiskussion mit dem Definitions- und Wertebereich beginnen?“
Heckmann nickte ihm anerkennend zu. „Gar nicht dumm dieser Ansatz. Diese Vorgehensweise ließe sich sicher extrapolieren und transferieren.“ Er sah wieder zu Julia, die stur auf ihren Tisch schaute. „Nachdem Ihr Kurskamerad Ihnen eine beachtliche Lösungshilfe angeboten hat, darf ich Sie an die Tafel bitten, Fräulein Sproy. Sie ahnen sicher, wie nötig Sie es haben, mich davon zu überzeugen, dass Sie zumindest ein Fünkchen mathematischen Sachverstand ihr Eigen nennen.“
Er seufzte. „Obwohl ich befürchte, dass Sie mich wiederholt enttäuschen werden, womit erneut bewiesen wäre, Frauen gehören an den Herd und nicht in den Physiksaal.“
Julia saß noch immer stocksteif auf ihrem Platz. Ihre Freundin Michelle zischte laut. „Fräulein, was glaubt der, wo wir leben? In den fünfziger Jahren?“
Philip sagte: „Herr Heckmann, das ist ungerecht. Immer dürfen die Mädchen die einfachen Sachen machen. Lassen Sie Gordon oder mich den Wertebereich bestimmen. Dann können Julia oder Michelle die Nullstellen berechnen.“
Heckmann zeigte mit dem Finger auf Philip. „Die Mädchen die Nullstellen, nicht schlecht, gar nicht schlecht.“ Er grinste breit, schaute einmal durch die Klasse. Erwartete er Beifall?
Dann wandte er sich mit ernster Miene wieder an Philip. „Seien Sie nicht albern. Sie wissen längst, dass die Nullstelle bei plus Wurzel einhalb und minus Wurzel einhalb liegt, ohne großartig zu rechnen, und Ihr Busenfreund Gordon kennt auch den Schnittpunkt mit der Y-Achse, dazu braucht er nicht an die Tafel zu gehen. Deswegen bekommen Sie beide auch neun Punkte und nicht einen wie die Damen, denen Sie, ritterlich wie Sie sind, beizustehen versuchen.“
Er wandte sich wieder an Julia. „Nun los, an die Tafel, amüsieren Sie mich.“
Mehrere Schüler murrten leise, einige scharrten mit den Füßen. Philip flüsterte hektisch: „Die reellen Zahlen, der Wertebereich umfasst alle reellen Zahlen. Alle reellen Zahlen.“
Timo sagte ziemlich laut: „Was für ein Arschloch.“
„Da haben Sie recht, werter Herr Fleck. Wer vorsagt, beraubt andere ihrer Chancen und verdient es, aus dem sozialen Kontext ausgeschlossen zu werden. Wenn Sie dafür in den Straßenjargon verfallen, kann ich mich Ihnen zwar nicht mit identischer Wortwahl anschließen, Ihnen aber aus vollem Herzen beipflichten. Und nun hopp, Fräulein Sproy, wir wollen hier doch nicht hibernieren.“
Mit einem Ruck hob Julia den Kopf. Dann stand sie auf, ganz langsam. Lars spürte, dass der gesamte Kurs zu atmen vergaß. Einen Moment lang hoffte er, dass Philip so viel mit ihr gepaukt hatte, dass er genau diese Aufgabe mit ihr gerechnet hatte, dass sie jetzt an die Tafel schreiten und die komplette Kurvendiskussion in einer fließenden Bewegung anschreiben würde.
Doch dann bemerkte er, dass sich ihre Knöchel weiß abzeichneten, so stark klammerte sie sich an der Tischkante fest, und Lars ahnte, dass es zum Eklat kommen würde.
Er sprang auf.
Bevor er etwas sagen konnte, hob Julia die Hand wie ein Politiker, der die jubelnde Menge beruhigt, damit er noch einen Dank an seine Mutter loswerden kann. Sie bückte sich ein wenig, zog ihr schwarzes T-Shirt straff, dass die Fackel wie eine Kerze aussah, griff mit der anderen Hand nach ihrem Rucksack, straffte den Rücken und marschierte aus dem Raum.
Einen kurzen Moment lang hätte man einen Floh husten hören, dann brüllte Heckmann los. „Kommen Sie sofort zurück. Was fällt Ihnen ein?“
Er rannte zur Tür. „Sie unterliegen meiner Aufsichtspflicht.“ Im leeren Gang hallten seine Worte nach.
Er drehte sich zum Kurs um. „Sie sind alle Zeugen. Sie hat den Raum ohne meine Zustimmung, ja, entgegen meiner Anordnung verlassen.“
„Hat sich was mit Zeuge“, sagte Timo. Er hatte ebenfalls seine Tasche gepackt, drängte sich an Heckmann vorbei, sprach ganz ruhig, überdeutlich.
„Sie werden mich kennenlernen. Jetzt ist Schluss. Ich mache Sie fertig. Passen Sie bloß auf. Das Auto ist erst der Anfang.“
Damit verschwand er im Gang.
Heckmann war bis an die Tafel zurückgewichen. „Sie haben gehört, dass er mich bedroht hat. Diesmal fliegt er endgültig. Dafür werde ich sorgen.“
Niemand beachtete ihn.
Die anderen waren aufgesprungen. „Lasst uns auch verschwinden“, sagte Philip. „Der tickt doch nicht ganz sauber.“
Valentin erwiderte: „Leute, bleibt ganz ruhig. Wo soll das hinführen?“
Michelle begann zu schluchzen.
Gordon drückte sie an sich. „Ist ja schon gut. Ist alles halb so schlimm.“
Währenddessen saß Heckmann am Pult und schrieb etwas mit heftigen Strichen ins Kursbuch.
Lars fragte sich, wie es nun weitergehen sollte. Julia war der Aufgabe an der Tafel, Heckmanns Herausforderung, ausgewichen. Das verschaffte ihr keinen einzigen zusätzlichen Punkt. Und Timo rannte gleich hinterher. Ob die Stellmacher ihm das durchgehen ließ? Wenn er sagte, dass er Angst hatte, dass Julia sich was antat.
Sich was antat?
Selbstmord?
Lars bemerkte, dass er zitterte. War das möglich?
Obwohl der Heckmann jetzt brüllte, dass sich alle wieder auf die Plätze begeben sollten, ging er zu Philip und fragte: „Glaubst du, Julia könnte sich …?“
„Umbringen, meinst du?“ Philip schüttelte den Kopf. „Niemals. Sie hat doch Timo.“
„Und wenn sie gemeinsam?“
„No way. Timo never ever. Lass gut sein, Alter. Die packen das.”
Heckmann stand nun direkt neben ihnen. „Stellen Sie sofort Ihre Privatunterhaltung ein. Nehmen Sie die Hefte heraus und lösen Sie die Aufgabe schriftlich.“
Erschrocken glitt Lars auf seinen Stuhl. Er sah sich um. Die meisten anderen saßen gleichfalls, wie betäubt, auf ihren Plätzen. Gordon wiegte Michelle, die leise schluchzte.
Plötzlich spürte Lars einen dicken Kloß in seinem Hals.
Er konnte sich nicht daran vorbeimogeln. Auf das Klingelzeichen warten. Er musste Stellung beziehen. Konnte er hier sitzen bleiben und dämliche Nullstellen berechnen, während zwei seiner Freunde buchstäblich fertiggemacht wurden?
Gut, er brachte damit seinen Durchschnitt in Gefahr. War eine Geste das wert? Und mehr war es doch nicht, oder? Eine bloße Geste. Eine leere Geste?
Was erwartete Julia von ihm?
Was würde er in solch einer Situation erwarten?
Hatte Timo die Sache im Griff?
Würden seine Eltern alles für ihn richten? Oder reichte es, dass sie ihn unterstützten? War er deswegen so selbstsicher?
Bevor er sich entschieden hatte, stand Valentin auf. „Herr Heckmann, entschuldigen Sie bitte, mir ist schlecht. Ich muss zur Toilette.“
Heckmann sah ihn durchdringend an. „Sie wissen, dass ich die Fehlzeiten im Kursbuch protokolliere.“
„Auf die Sekunde.“ Valentin nickte und verschwand mit seinem Rucksack.
Lars bewunderte seinen Freund. Das war eine clevere Lösung. Keine klare Konfrontation, aber auch kein Zu-Kreuze-kriechen.
Lars meldete sich ebenfalls zur Toilette ab. Als er die Tür schloss, hörte er, dass Gordon und Michelle sich entschuldigten. Er wartete vor der Tür auf sie. Ohne ein Wort zu sprechen, verließen sie gemeinsam das alte Backsteingebäude und gingen am Sportplatz entlang auf den Schulhof von Gebäude II.
Seit sie vor drei Jahren die Frischlinge betreut hatten, hielten sie sich immer auf dem Hof der Unterstufe auf. Er lag auf halbem Weg zur Mensa und irgendwie war es da gemütlich. Zwar waren sie längst keine Buddies mehr, aber die Zwerge hatten akzeptiert, dass die Großen das Rondell belegten. Die Kleinen saßen sowieso lieber auf dem Klettergerüst oder versteckten sich in den Büschen.
Vorwitzige nutzten die Gelegenheit und ließen sich eine Aufgabe rechnen oder ein paar Vokabeln vorsagen.
So gingen sie auch heute zum kleinen Hof, ohne dass sie sich verabreden mussten.
Gordon setzte sich auf eine der Stufen in dem Rondell in der Mitte, das rundum mit Büschen bepflanzt war. Jetzt im Juni waren die Blätter so dicht, dass man nicht hindurchschauen konnte. Valentin saß bereits auf seinem Stammplatz ganz am Rand. Er nickte ihnen zu. Keiner sprach ein Wort.
Gordon rüttelte eine Zigarette aus der Schachtel und hielt sie erst Michelle und danach Lars hin. Beide schüttelten den Kopf. Michelle stellte ihren Rucksack ab und setzte sich neben Valentin.
Um etwas zu tun zu haben, packte Lars seine Kamera aus. Er schaute sich die Fotos an, die er gestern gemacht hatte und versuchte, nicht über das nachzudenken, was eben geschehen war und welche Konsequenzen es haben würde. Er hasste Veränderungen.
Philip setzte sich neben ihn. „Sie hätte die Aufgabe gekonnt. Definitiv.“
„Bist du sicher?“ Lars war verblüfft.
„Timo hat ein Matheheft vom Jahrgang vor uns besorgt. Der Heckmann macht jedes Jahr genau das Gleiche. Tag für Tag. Stunde für Stunde.“
„Wie? Und warum hat Timo dann nicht mit Julia geübt?“
Philip lachte. „Du kennst sie doch. Bei einem Betrug hätte sie nie mitgemacht.“
„Deshalb hast du dich angeboten, mit ihr zu üben. Dich hatte sie nicht in Verdacht, etwas zu mauscheln.“
„Exacto.“
Lars überlegte. „Wahrscheinlich hat sie genau deswegen die Aufgabe nicht gelöst, obwohl sie es gekonnt hätte. Sie hat die Gleichung erkannt und euch durchschaut.“
Philip war sichtlich erschrocken. „Meinst du? Na, dann macht sie Timo jetzt aber die Hölle heiß.“
„Hoffentlich machen die beiden keinen Blödsinn.“
„Falls Timo sie eingeholt hat.“
„Wie meinst du das?“
Philip wand sich ein wenig. „Na ja, sie hat mir erzählt, dass sie ein Versteck gefunden hat. Da geht sie immer hin, wenn es zu Hause Stress gibt.“
„Sie kann doch jederzeit zu Timo. Seine Eltern würden sie sofort aufnehmen.“ Lars hatte sich oft vorgestellt, wie es sein musste, reiche Eltern zu haben, die für alles Verständnis hatten.
„Wenn sie mal zu Hause sind. Aber das ist es ja. Die verstehen nicht, warum Julia trotz allem immer wieder zu ihren Eltern zurückgeht. Die reden immer von anzeigen und Rechte wahrnehmen.“ Philip wischte sich wieder einmal den Pony aus dem Gesicht.
„Aber Julia will ihre Eltern auf keinen Fall verletzen“, sagte Lars und dachte daran, dass seine Eltern sich ruhig ein Beispiel an Julia nehmen könnten.
„Ich kann sie gut verstehen. Meine Eltern drehen auch manchmal am Rad. Aber deswegen zeige ich sie doch nicht an.“
Lars nickte beklommen.