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Es sah aus wie eine Schule, okay, wie eine alte Schule, es roch wie eine Schule, und das Klingeln schepperte so schrill wie in jeder Schule, die ich je besucht hatte, und ich fühlte mich so beklommen wie immer, wenn ich zum Schulleiter musste. Ich holte tief Luft und klopfte an die Tür des Sekretariats.

Hatte ich das „Herein“ überhört? Vorsichtig öffnete ich die Tür einen Spalt.

„Das Geschäftszimmer ist für Schüler nur in den großen Pausen …“ Da sie mitten im Satz den Kopf zu mir gedreht hatte, erkannte sie ihren Irrtum beinahe noch rechtzeitig und verwandelte das vorwurfsvolle Leiern in ein freundliches Begrüßungslächeln. „Was kann ich für Sie tun?“

„Hauptkommissar Stefan Ollner, ich habe einen Termin mit Frau Stellmacher.“

Wie aufs Stichwort ging die Verbindungstür auf. Eine kleine, dunkelhaarige Frau, zu der mir sofort „quadratisch, praktisch, gut“ einfiel, stürzte mit ausgestreckter Hand auf mich zu. „Herr Ollner, sehr erfreut. Kommen Sie herüber.“

Zu ihrer Sekretärin: „Frau Fiedler, einen Kaffee für den Herrn, bitte.“

Wieder zu mir. „Sie mögen doch Kaffee, oder?“

Das alles, ohne meine Hand loszulassen. Im Sturmschritt sausten wir in ihr Büro. Im Nu hatte sie mich auf den Sessel in der Sitzecke bugsiert, der zwar modern und quietschrot, aber überhaupt nicht bequem war.

Frau Fiedler servierte den Kaffee und stellte eine Schale Kaffeebohnen in dunkler Schokolade auf den Tisch. Genau in die Mitte, sodass weder Frau Stellmacher noch ich bequem herankamen. Frau Stellmacher schürzte die Lippen. „Die Milch, Frau Fiedler. Und beeilen Sie sich.“

Jetzt kräuselten sich ihre Lippen zu einem fröhlichen Lächeln. „Sie will, dass ich abnehme.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich aber nicht.“ Sie zog die Schublade im Schrank hinter sich auf. „Was haben wir denn da? Milka Nuss. Ritter Sport Rumtraube. Lindt Praliné. Und hier, die müssen Sie probieren. Handgemacht, weiße Schokolade mit einem Hauch Kaffee.“

Ich blinzelte überrascht.

„Jetzt sagen Sie nicht, schwarzer Kaffee reicht Ihnen. Danach sehen Sie nämlich gar nicht aus.“

Verschämt schaute ich auf meinen Bauch, wo das Hemd an den Knöpfen leicht spannte.

Sie lachte vergnügt. „Machen Sie sich nichts draus. Zu jedem Mann gehört ein Bauch.“

Frau Fiedler räusperte sich, als sie mit einem Kännchen Milch wieder in das Büro trat. Sie war wirklich schlank, dünn, dürr, und sie machte einen mehr als unzufriedenen Eindruck. Sie stellte die Milch auf den Tisch.

„Fettarm“, sagte sie, bevor sie einen tadelnden Blick auf die weiße Schokolade in der Hand ihrer Chefin warf.

Die lachte erneut und fragte: „Möchten Sie ein Stückchen, Frau Fiedler? Beruhigt die Nerven.“

„Auf keinen Fall, und denken Sie bitte an Ihren Termin mit dem Bürgermeister um halb elf.“ Damit verschwand sie und schloss die Tür vollkommen geräuschlos hinter sich.

„Wie?“ Ich biss mir auf die Zunge und schluckte die Frage herunter.

„Sie wollen wissen, wie ich das aushalte, jeden Tag, den ganzen Tag lang?“

Ich nickte. „Ich weiß, es geht mich nichts an.“

Sie winkte ab. „Das ist ganz einfach. Wir respektieren uns, ja, wir mögen uns sogar. Ich finde sie zu dürr. Sie hält mich für viel zu fett. Wir haben beide recht und wollen der anderen helfen. Wenn wir uns nicht gegenseitig schätzen würden, könnten wir gar nicht zusammenarbeiten.“

„Wahrscheinlich.“

„Aber deswegen sind Sie nicht hier. Sie sagten am Telefon etwas von einem gestohlenen Wagen.“

„Ihr Kollege, der Herr Oberstudienrat Harald Heckmann.“

„Eine echte Zierde unseres Berufs“, warf sie leise ein.

Ich war verwirrt. „Ich verstehe nicht.“

„Egal. Fahren Sie bitte fort.“

„Herr Heckmann hat sich am Freitag ein neues Auto gekauft.“

„Einen Volvo, ja, ich weiß, er hat seit Tagen von nichts anderem gesprochen.“

„Am Montagabend hat jemand diesen Neuwagen gestohlen, und Herr Heckmann“, ich beobachtete sie genau, während ich das sagte, doch sie kam mir zuvor.

„Glaubt, dass einer oder mehrere unserer Schüler dafür verantwortlich sind.“

„Er hat Sie bereits informiert?“

„Mich?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ganz bestimmt nicht. So einer wie Herr Oberstudienrat Heckmann kann es nur schlecht ertragen, eine Frau als Chefin zu haben. Aber ein Harald Heckmann gibt immer den Schülern die Schuld, oder den Eltern, je nachdem.“

„Sie halten es für ausgeschlossen?“

Sie hob die Hand. „Nein, nein, das wollte ich damit nicht sagen. Wir haben solche und solche; Herr Heckmann weckt nicht unbedingt die besten Seiten in unseren Schülern. Ist der Wagen inzwischen wieder aufgetaucht?“

„Er stand auf einem Parkplatz an der B64, dicht neben einem Lovemobil, und er war überall mit Kuhmist beschmiert.“

„Innen und außen?“ Ich sah das Kichern in einer großen Welle in ihr aufsteigen. Sie versuchte, es zu unterdrücken, blubberte es in ihre Kaffeetasse.

Beinahe hätte ich laut gelacht.

„Innen und außen“, bestätigte ich mit Grabesstimme.

„Tja“, sagte sie.

„Das ist Beweis genug. Ich kann mir wahrlich nicht vorstellen, dass einer unserer Schüler freiwillig mit Kuhmist hantieren würde. Die benötigen schon Handschuhe, wenn sie ihren eigenen Müll aufsammeln sollen.“

Wir wussten beide, dass sie bei der Erwähnung des Kuhmists ganz klar einen Schüler vor Augen hatte, dem sie die Aktion zutraute. Wir wussten aber auch beide genauso sicher, dass sie ihn auf keinen Fall verraten würde.

Ich verlegte mich auf eine andere Taktik. „Wen könnte ich denn fragen? Es gibt doch immer so eine Schülergruppe, die genau weiß, was so abgeht.“

„Tja, wenn Sie mich so fragen. Sie könnten mit den beiden Schülersprechern anfangen. Ausgebildete SV-Vertreter, rhetorisch geschult.“

„Mit anderen Worten vom Stamm „Nichts sehen, nichts hören, nichts riechen und schon gar nichts verraten“. Das hilft mir nicht weiter. Sehen Sie, wir sind verpflichtet zu ermitteln, wenn eine Straftat begangen wurde.“

„Ich verstehe Sie sehr gut, aber sehen Sie, ich bin verpflichtet, meine Schüler zu beschützen so gut ich kann.“

„Auch wenn sie Straftaten begehen?“

Im ersten Augenblick dachte ich, sie würde mich am Kragen packen und aus dem Büro schleifen, doch dann atmete sie tief durch und drohte mir mit dem Zeigefinger. „Sie wollen mich provozieren. Straftaten. Ein Dummer-Jungen-Streich ist das, weiter nichts.“

„Es ist erheblicher Sachschaden entstanden.“

Sie wiegte den Kopf. „Sachschäden sind hundertmal besser als Personenschäden, oder?“

So leicht wollte ich sie nicht davonkommen lassen. Doch das Pausenzeichen verhinderte meine Antwort.

Ausweichmanöver
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