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Ein Anruf vom Chef beorderte uns auf die Dienststelle. Die ersten Laborergebnisse lagen vor. Er wollte eine Lagebesprechung. In einer Stunde sollte es ein Gespräch mit den Pressevertretern geben.
Wir betraten das Gebäude durch den Hintereingang, meldeten uns beim Wachhabenden und stiefelten nach oben. Wie beinahe jedes Mal blieb mein Blick kurz an der Gedenktafel über der Tür hängen. Die beiden Polizeiobermeister Andreas Wilkending aus Holzminden und Jörg Lorkowski aus Lüchtringen wurden 1991 zu einem angeblichen Wildunfall gerufen und ohne Vorwarnung erschossen. Ein Suchteam fand zuerst nur Blutspuren und Gewebe, dann den ausgebrannten Wagen. Danach begann eine groß angelegte Suchaktion. Die Aufnahme des Anrufs bei der Polizei: „Äh gut’n Tach, Meier mein Name. Ich hab’n, äh, Wildunfall. Könnten Sie wohl jemanden vorbeischicken? Keiner verletzt, is’ nur ein bisschen an der Stoßstange.“ führte auf die Spur der Täter.
Sie wurde bei Aktenzeichen XY ungelöst abgespielt, und man konnte eine Telefonhotline anrufen und sich dort den Anruf anhören. Später stellte sich heraus, dass der Haupttäter, Dietmar Jüschke, einen Hass auf alle Polizisten hatte. Er war gerade wegen guter Führung vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Herzlichen Dank dafür.
Wann immer ich an dieser Tafel vorbeikam, wurde mir für einen kurzen Moment bewusst, dass ich einen verdammt gefährlichen Beruf hatte, dass jeder Einsatz mein letzter sein konnte.
Ich hatte die beiden Kollegen nicht gekannt. 1991, das ist zwanzig Jahre her, die absolute Ausnahme, trotzdem bekam ich jedes Mal eine Gänsehaut, wenn ich die Namen las. Es war purer Zufall, dass es diese beiden getroffen hatte. Sie hatten gerade einen Autofahrer zur Blutalkoholkontrolle ins Krankenhaus gebracht und waren nun frei. Sie fuhren mit einem maronenroten Passat in Richtung Boffzen, und danach hörte niemand mehr von ihnen.
Ich schluckte. Etwas Ähnliches war heute hier, mitten in der Stadt, passiert. Die Bürger erwarteten Informationen, am liebsten die Nachricht, dass wir den Täter gefasst hatten, dass die Gefahr gebannt war. Unser Chef, Lothar Mausig, musste sie beruhigen, ihnen Sicherheit vermitteln, beweisen, dass wir alles unter Kontrolle hatten und keine Gefahr mehr bestand. Was hatten wir für ihn?
Nichts Handfestes jedenfalls.
Mit gemischten Gefühlen betrat ich das Zimmer, in dem bereits einige Kollegen versammelt waren.
Spusi-Marc berichtete als erster. „Wir haben jede Menge Spuren auf dem Dach des Uni-Gebäudes gefunden. Von der Seite kann man, wenn man ein wenig sportlich ist, über eine Wartungstreppe aufs Dach gelangen. Scheinbar kommt das öfter vor. Wir haben jedenfalls eine Menge leere Bierflaschen, volle Kondome und runzelige Luftballons gefunden.“
„Spuren des Täters?“ Mausig konnte in Stresssituationen einfach keine vollständigen Sätze, so viel hatte ich schon gelernt.
„Können wir nicht eindeutig zuordnen. Da war jemand, wir haben Fußspuren, einen Knieabdruck. Außerdem haben wir die Augen- oder besser Ohrenzeugen vernommen. Drei Studierende haben die Schüsse gehört und auch erkannt, sie haben sich im Haus versteckt. Einer hat die Polizei angerufen. Einer ist gerade angekommen, als der letzte Schuss fiel. Er hat aber nicht geschnallt, was es war.“
„Haben sie jemanden gesehen?“ Kofi klang richtig aufgeregt.
„Nur einer, Joachim Thiesemann, 21, Student für soziale Arbeit im dritten Semester. Er behauptete, jemanden gesehen zu haben, der wie ein Hausmeister aussah.“
„Woran erkennt man einen Hausmeister?“
„Am Blaumann. Sicherheitsschuhe will er auch gesehen haben.“
„Schuhe, aber kein Gesicht?“
„Er hat vor seinem Fahrrad gekniet, als der Mann eilig an ihm vorbeilief.“
„Hat er gesehen, wo er herkam?“
„Er sagt, es hätte sich so angehört, als wäre er die Metallleiter heruntergeklettert. Er hat sich nicht umgedreht.“
Kofi fragte: „Trägt der Hausmeister an der Uni einen Blaumann?“
„Haben wir geprüft. Sicherheitsschuhe ja, Blaumann nein, auch keinen Kittel.“
„Das ist nicht viel.“
Marc rieb sich das Kinn. „Wir haben die Waffe.“
„Ohne Fingerabdrücke“, warf Kofi ein.
„Aus der Mensa kann man das Dach nicht einsehen. Die ist zwar komplett verglast, liegt aber viel tiefer.“
„Sie haben niemanden wegrennen sehen. Das hatte der ja auch nicht nötig. Sobald er von der Leiter herunter war, brauchte er sich nur ganz normal zu benehmen.“
„Es könnte also auch einer der Zeugen sein?“
„Nein, die waren die ganze Zeit zusammen, sagen sie.“
Mausig unterbrach sie. „Zeugen wertlos. Was haben wir noch?“
Ich dachte darüber nach, wo Timo so schnell einen Blaumann aufgetrieben hatte. Ganz einfach, da, wo er das Gewehr versteckt hatte.
„Ollner?“
Ich schreckte auf.
„Der Verdächtige heißt Timo Fleck, ein 18-jähriger Gymnasiast, …“
„Sohn von Anwalt Gernot Fleck?“
„Ja.“
„Wie unangenehm.“
„Wieso?“
„Wir kennen uns schon recht lange, nicht befreundet, das nicht. Hm, Beweise?“
„Nur Indizien. Eine Drohung, kein Alibi, vom Erdboden verschwunden?“ Jetzt sprach ich schon wie er.
„Zur Fahndung ausgeschrieben?“
Ich schüttelte den Kopf. Es ging auch ganz ohne Worte.
„Die Mutter zeigte sich kooperativ. Wir haben ihn in die Vermisstendatei eingetragen.“
Mausig erhob sich. „War das alles? Meine Herren, Sie machen mir meine Aufgabe nicht leicht. Wie sagt man möglichst viel, wenn man eigentlich gar nichts zu sagen hat? Ich möchte lieber nicht in meiner Haut stecken.“
Ich auch nicht, dachte ich und spürte auf einmal, wie kaputt ich war.
Mausig verließ den Raum, langsam, fast zögerlich. Wahrscheinlich übte er die Formulierungen für die Pressekonferenz.
„Kofi, ich fahr nach Hause und leg mich hin. Soll ich dich morgen früh um acht wieder abholen?“
„Tu das, ich gehe noch eine Runde durch die Innenstadt.“
Das kannte ich. Früher, in meinem Kiez, bin ich oft einfach so herumspaziert, von Kneipe zu Restaurant und Supermarkt, hier ein paar Sätze, da ein Espresso, und ganz nebenbei wertvolle Informationen sammeln.
Sollte ich mitgehen? Quatsch. Ich würde ihm nur alles vermasseln. Niemand kannte mich hier, niemand vertraute mir. Ich würde gar nichts hören.
Trotzdem beschloss ich, nicht heimwärts zu fahren. Ich ging über die Straße und lief hinunter zum Weserkai. Dort setzte ich mich in die Hafenbar und bestellte mir eine Currywurst mit Pommes und Zwiebeln und ein Allersheimer. Das Museumsschiff „Stör“ neben dem Schwimmbad am Ufer gegenüber erinnerte mich daran, dass ich noch kein bisschen Sport getrieben hatte, seit ich nach Holzminden gezogen war.
Es war kühl, und ich knöpfte meine Jacke zu.
Warum war ich so unruhig?
War dieser Heckmann noch in Gefahr?
Übersahen wir etwas?
Erst als mein Essen auf dem Tisch stand, merkte ich, wie ausgehungert ich war.
Um mich herum saßen Menschen. Sie unterhielten sich, lachten. In den Strandkörben saßen Jugendliche, Musik lief. Ob sie in der Jugendherberge wohnten? Es waren wohl kaum Campe-Schüler. Wie die den Abend verbrachten?