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Campingwecken sind nicht unbedingt meine Leib- und Magenspeise, aber da Kofi sie morgens im Zehnerpack mit zur Arbeit brachte, waren immer genug davon da.
Mit einer Scheibe kalter Butter schmeckten sie sogar mir, obwohl ich ein herzhaftes Roggenbrötchen mit Mett oder Schinken, meinetwegen auch mit Käse, vorgezogen hätte.
Wir warteten seit mehr als einer halben Stunde auf den Kollegen Marc. Er wollte uns eine Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse liefern.
Da er nicht kam, nahm ich mir noch eine Wecke.
Marc platzte herein, ohne anzuklopfen, wie immer. Er war außer Puste, wie immer, und er hatte ganz wenig Zeit, auch wie immer.
Wenn er jetzt noch sagte, dass er nichts Neues für uns hatte, …
„Fangen wir mit den Untersuchungsergebnissen zu dem gestohlenen Kraftfahrzeug an. Die meisten Fingerabdrücke sind durch den Mist verschmiert. Einige konnten wir eindeutig dem Besitzer zuweisen. Dann haben wir ein paar recht deutliche Abdrücke an den Felgen und der hinteren Tür links, die wir noch nicht zuordnen können. Allerdings vermuten wir, dass sie von Mitarbeitern des Autohauses stammen.“
Er hob den Kopf.
„Im Innenraum haben wir zwei Abdrücke von Timo Fleck gefunden. Einen des Zeigefingers auf dem Radio und einen Daumenabdruck auf dem Schalthebel.“
„Ich hätte gewettet, dass der Handschuhe anhatte.“
„Davon gehen wir auch aus. Allerdings waren die bei dem Zwischenstopp auf dem Bauernhof wohl schmutzig geworden.“
„Er hat sie ausgezogen, als er den Wagen auf den Parkplatz gebracht hat? Wie dumm ist das denn?“
Marc sah mich vorwurfsvoll an.
„Gar nicht so dumm. Bei einem normalen Kraftfahrzeugdiebstahl hätten wir nie so sorgfältig gesucht. Keiner der beiden Abdrücke ist vollständig. Ein Verteidiger würde uns mit den Dingern in den Orkus treiben. Für unsere internen Zwecke ist jedoch klar, Timo Fleck hat in dem Auto gesessen.“
„Dass Timo das Auto gestohlen hatte, ist also bewiesen. Fragt sich nur, ob er auch der Schütze ist.“
„Dazu komme ich gleich. Noch etwas zum Wagen. Er ist, abgesehen von den Lackschäden durch den Kuhmist, völlig unbeschädigt. Unser Freund Timo ist etwa 120 Kilometer gefahren.“
„Das engt den Radius ja unglaublich ein, wenn wir den Bauernhof finden wollen.“
Marc ließ sich nicht unterbrechen.
„Auf dem Beifahrersitz haben wir zwei recht kurze, rote Haare gefunden.“
„Gordon Willig?“
„Eindeutig. Die Kollegen Heinrich und Schnitter sprechen gerade mit ihm und seinen Eltern.“
Als ich nicht reagierte, fügte er hinzu: „Da Gordon Willig nicht verdächtigt wird, geschossen zu haben, dachte ich, die müsst ihr nicht persönlich vernehmen.“
„Ist schon okay. Herbert ruft durch, wenn er was Wichtiges erfährt, da können wir sicher sein. Wo ist der Wagen jetzt?“
„Wir haben ihn freigegeben. Das Autohaus holt ihn morgen ab. Man kann nicht durch die Scheiben gucken. Deshalb kommen die mit ’nem Abschleppwagen.“
„Wie sind Timo und Gordon dann vom Bauernhof bis zur B46 gefahren?“
„Ich denke, die hatten eine Ladung Mist in den Kofferraum geschaufelt.“
„Den sie dann erst am Zielort auf den Scheiben verteilt haben. Verstehe. Habt ihr die Dame im Lovemobil verhört? Hat sie was gesehen oder gehört?“
„Versucht haben wir’s. Die Kollegen haben nie jemanden angetroffen. Das Teil wirkt irgendwie verwaist.“
„Haben die Kollegen energisch genug geklopft?“
„Da gehe ich von aus. Im Moment läuft eine Halternachfrage.“
Ich winkte ab. „Der wird wohl nachts nicht selbst in dem Anhänger hocken.“
Marc klappte einen Schnellhefter zu und öffnete den nächsten. „Zu den Ergebnissen vom Dach. Das Gewehr haben wir unter den Lüftungsrohren gefunden. Der Täter hat es mehr weggeworfen als versteckt. Es stammt eindeutig aus dem Besitz von Oswald Eggebrecht.“
„Dem Förster aus Grünenplan.“
„Die Munition ebenfalls. Auf dem Gewehr befanden sich gar keine Fingerabdrücke. Da ist jemand akribisch zu Werke gegangen. Er hat restlos alles gereinigt. Innen und außen.“
„Können wir daraus schließen, dass sich der Täter mit Waffen auskennt?“
Marc wiegte den Kopf. „Schwer zu sagen. Vermutlich nicht richtig. Darauf weist auch das Schussverhalten hin. Insgesamt 18 Schuss hat er abgefeuert, davon haben drei getroffen, zwei tödlich, ein Streifschuss. Alle anderen Verletzungen stammen von herum fliegenden Splittern, Steinchen usw. Bei dem Schuss, der das Fenster zertrümmert hat, wissen wir nicht, was er treffen wollte. Um Menschen zu treffen, hat er zu hoch gezielt.“
„Abgerutscht?“
„Oder Frust. Vielleicht hatte er auf jemanden gezielt, der sich in dem Gebäude versteckt hat.“
„Kannst du feststellen, ob die Waffe vorher auf dem Dach versteckt war?“
„Nein, kann ich mir nicht vorstellen, wenn doch, nur wenige Stunden.“
„Über Nacht?“
„Möglich.“
„Sonst noch Spuren?“
„Auf den Fotos, ja. Ein paar Kleinigkeiten. Der Täter ist männlich, circa einen Meter fünfundachtzig groß, kräftig gebaut, er hat blaue Augen und ziemlich große Hände, wahrscheinlich ist er blond.“
„Blaue Augen? Das konntet ihr erkennen?“
„Logo. Er hatte sich eine Sturmhaube über den Kopf gezogen. Die lässt die Augen frei, und wenn sie beim Bewegen verrutscht, kann man, wenn man Glück hat, die Augenbrauen sehen. Deshalb die Haarfarbe. Außerdem trug er Sicherheitsschuhe, recht abgenutzt. Dazu einen Arbeitsanzug, blau, mit schmutzigen Stellen und einem Emblem oder Logo auf der Brusttasche. Leider wird es fast vollständig vom Gewehrlauf verdeckt. Jedenfalls ist es außen herum gelb, und die Schrift oder was immer, scheint grün zu sein.“
Ich überlegte.
„Das heißt, dass der Täter einen Blaumann trug, den er auch zum Arbeiten anzieht?“ Ich konnte mir Timo Fleck, nach allem, was ich über ihn wusste, nicht in Arbeitskleidung vorstellen.
„Da fragst du was. Ich kann nur sagen, dass der Anzug zum Arbeiten getragen wird. Von wem? Weiß ich nicht. Er ist dem Täter jedenfalls weder deutlich zu klein noch zu groß.“
„Besitzen Gymnasiasten Arbeitsanzüge und Sicherheitsschuhe?“
„Die müssen alle Praktika machen. Vielleicht stammen die Sachen daher.“
Ich notierte mir, dass ich Frau Fleck fragen würde, wo Timo sein Praktikum absolviert hatte. In einem Autohaus konnte ich ihn mir trotzdem nicht vorstellen.
„Wir haben jedenfalls überprüft, ob irgendwo ein Arbeitsanzug entwendet wurde. Weder in der HAWK noch in der Schule fehlt etwas.“
„Gefunden habt ihr die Sachen auch noch nicht, oder?“
„Das wäre noch eine Idee. Ich könnte jemanden beauftragen, die Mülleimer und Container in der Gegend zu überprüfen.“
„Im ganz nahen Umfeld haben die Kollegen das automatisch gemacht. Gerade auch wegen des Wassers. Weder im Fluss noch in den Teichen ist etwas aufgetaucht. Wir haben auch die Ufer und die Papierkörbe an den Bänken abgesucht. Die sind wohl nach dem Festival komplett geleert worden. Da war gar nichts. Auch im Wehr hing nichts Ungewöhnliches.“
„Tja, dann habe ich noch die Protokolle der Gespräche mit Eltern, Schülern und Lehrern, die die Kollegen bisher geführt haben.“ Er zeigte auf den dicksten Hefter. „Außerdem haben wir natürlich die Studenten und Besucher in der HAWK und der Mensa. Außerdem war der Besitzer des Biergartens in seinem Garten und hat die Schirme abgewischt. Der hat die Schüsse für Sektkorken gehalten.“
„Sonst was Wichtiges?“
Marc schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Nur eine Warnung. Da gibt es ein paar richtig wütende Väter. Wenn die sich zusammentun, wird das brisant. Noch halten sie sich zurück, aber wenn Montag die Beerdigung vorbei ist, garantiere ich für nichts.“
Ich raufte mir die Haare. ’Ne Bürgerwehr und Lynchjustiz. Das fehlte uns noch. „Ich hatte dich noch darum gebeten, Timos Fingerabdrücke, Haare, was immer wir haben, mit den Ergebnissen bei den Einbrüchen abzugleichen. Haben wir einen Hinweis darauf, dass er beteiligt gewesen sein könnte?“
„Da muss ich dich enttäuschen. Wir haben uns inzwischen seinen PC angesehen. Da ist nicht einmal ein illegaler Popsong drauf. Es gibt übrigens auch keinerlei Hinweise auf gewalttätige Tendenzen.“
„Kein Ego-Shooter?“
„Die üblichen Ballerspiele, sonst eher Sachen zum Knobeln, technische Spielereien. In den letzten Wochen hat er sich hauptsächlich mit Minecraft beschäftigt. Dabei geht es eher darum, aus Materialien, die man abbaut, eine eigene Welt aufzubauen als irgendwas zu zerstören. Musik, Hörspiele, jede Menge Videos.“
„Videos?“
„Hauptsächlich von YouTube, keine eigenen.“
„Fotos?“
„Wenige. Er ist wohl nicht so der Fotografierer. Zu den Einbrüchen zurück. Wenn die Daten auf dem Rechner stimmen, und davon gehen wir aus, hat er für zwei der Einbrüche ein Alibi. Während des Einbruchs in Eschershausen war er auf Mallorca auf Kursfahrt.“
„War er nicht.“ Hatten wir eine Spur?
„Wie?“
„Er hat auf den letzten Drücker abgesagt, ist ganz plötzlich nicht mitgeflogen.“
„Okay, dann war er wohl auch nicht in Einbeck, als bei Eggebrechts eingebrochen wurde?“
„Einbeck? Sagt mir nichts.“
„Laut seinem Blog war er übers Wochenende in Einbeck.“
„Während die Eggebrechts in Kiel waren.“
„Einbeck. Einbeck war bisher gar nicht vorgekommen. Gibt es einen Hinweis, wo er war, was er da gemacht hat?“
„Nichts, kein Foto, keine Adresse. Allerdings hat er an dem Wochenende tatsächlich keine Mail von seinem Rechner aus geschrieben, und auch der Blog hat geruht.“
„Anschließend kein Bericht.“
„Ein lapidares ‚Bin wieder da!‘ Mehr nicht. Ich habe den Kollegen in Einbeck unsere Suchanfragen persönlich ans Herz gelegt. Bisher ohne Ergebnis. Scheinbar ist er da nicht aufgefallen.“
„Was ist mit Julias Rechner?“
„Der hilft uns noch weniger weiter. Sie hat ihn hauptsächlich zum Chatten verwendet. Wir haben die Protokolle ausgewertet. Es ging hauptsächlich um ihre Probleme, in der Schule, mit ihren Eltern, mit Timo, mit ihrer besten und der zweitbesten Freundin, mit den ‚Tussen‘ aus der Zwölf und so weiter.“
„Suizidgefährdet?“
Marc wand sich. „Weiß nicht. Glaube nicht. Sie hat Mangas gemalt.“
„Mangas?“
„Japanische Comics.“
„Was sagt uns das?“ Ich verstand nicht so recht, was das bedeutete.
„Sie hat schon einen Namen in der Szene. Die Leute mögen ihre Geschichten. Sie hat eine Reihe mit Tomi und Lauji, was wohl Anagramme für Timo und Julia sind. Eine heiße Lovestory. Die zweite Reihe ist scheinbar ganz was Besonderes, die spielt im Wilden Westen.“
„Da hat sie die Infos zu Hause direkt neben dem Bett stehen. Du denkst, dass sie in diesem Bereich so viel Anerkennung bekommt, dass das alles andere ausgleicht?“
„Sie hat ein Angebot von einem Verlag. Wenn sie das Abi schafft, kann sie da anfangen.“
„Wenn sie das Abi schafft. Genau das scheint das Problem zu sein, oder?“
„Sie hat keine schlechten Noten.“
„Nur in Mathe.“
„Nur in Mathe. Willst du ein paar ihrer Mangas sehen?“, fragte Marc.
Ich überlegte. „Die sind digitalisiert?“
„In ihrem Zimmer haben wir keine gefunden. Unter dem Bett stand eine Schachtel mit speziellen Stiften und hochwertigem Papier. Außerdem gab’s einen Skizzenblock und eine angefangene Zeichnung. Scheinbar bewahrt sie die fertigen Sachen irgendwo anders auf.“
„Habt ihr den Vater gefragt?“, wollte Kofi wissen.
„Der hat nur gesagt, sie hat schon immer alles vollgekritzelt. Die Mutter wusste, dass Julia viel malt, hatte aber keine Ahnung, wo die Sachen sind. Sie hat uns ein paar Bilder gezeigt, die Julia ihr zum Muttertag gemalt hat.“
Kofi sagte: „Lass uns mal einen Blick auf die Mangas werfen. Du kannst sie auf meinen PC schicken. Vielleicht verrät uns die Lovestory etwas über den heimlichen Treffpunkt der beiden Liebenden.“