Kapitel Vierzig

»Jeder Mensch hat sein eigenes Schicksal: Die einzige Notwendigkeit besteht darin, ihm zu folgen, es zu akzeptieren, gleichgültig, wohin es ihn führt.«

Henry Miller

Ich konnte nicht stillsitzen, deshalb kaufte ich mir einen Kaffee und einen Blaubeermuffin und spazierte los. Dabei genoss ich den Frieden, den es mit sich bringt, wenn man einige Zeit allein durch die Straßen der Stadt läuft.

Ich schlenderte durch den Park, in dem Lincoln und ich diesen Verbannten zurückgeschickt hatten, und spazierte unter der Bäumen hindurch, die ich als Deckung benutzt hatte. Vieles war geschehen seit jener Nacht. Lincoln und ich hatten so hart daran gearbeitet, uns voneinander fernzuhalten, und dennoch … Wir wurden einfach zueinander hingezogen. Es war größer als wir, größer als die Engel sogar, es zwang uns dazu, einander zu wollen und zu brauchen. Nach ein paar Stunden in seinen Armen fühlte ich mich so gut wie seit Monaten nicht mehr.

Während ich meinen Kaffee trank und an meinem Muffin knabberte, überraschte ich mich selbst mit einem Lächeln. Nicht weil alles gut werden würde, sondern weil ich endlich eingesehen hatte, dass ich nicht alles kontrollieren konnte. Ich war eine Grigori. Eine Kriegerin. Ich würde immer kämpfen und mein Bestes tun, um Verbannte daran zu hindern, unschuldige Menschen zu quälen. Ich würde mein Leben aufs Spiel setzen, um dafür zu sorgen, dass andere das nicht tun mussten. Und was dabei herauskam, entzog sich meiner Kontrolle. Mein Lächeln wurde breiter, ich zog Lincolns Mantel fest um mich herum und atmete seinen Duft ein.

Er liebt mich doch.

Phoenix hatte gewonnen. Lilith wiederauferstehen zu lassen hatte einen Albtraum über unsere Welt gebracht, aber er hatte uns auch geholfen. Er hatte starke Verbannte geopfert, die er nach seiner Pfeife hätte tanzen lassen können, und ich war mir sicher, dass hatte er getan, weil er wollte, dass sie verschwinden, dass sie aufgehalten werden. Phoenix hatte uns geholfen, die Menschen von Santorin zu retten. Sie hatten keine Ahnung, was ihnen erspart worden war.

Was auch immer ihm heute durch den Kopf ging, was für Qualen, Leiden und Zerstörungen er mit Lilith plante – ich wusste, dass er auch darüber nachdenken würde. Phoenix hatte gelogen.

Der Mensch in ihm ist überhaupt nicht verschwunden.

Gedankenverloren hatte ich überhaupt nicht bemerkt, dass ich den ganzen Weg bis zu unserem Wohnblock zurückgelegt hatte.

Ich hatte keinen Plan, hatte keine Entscheidung getroffen, aber ich konnte mich nicht ewig verstecken und außerdem war sowieso Vormittag und Dad mit Sicherheit bei der Arbeit.

Feigling!

Der Portier winkte, als ich an ihm vorbeiging, und als ich in den Aufzug stieg, merkte ich unwillkürlich, dass sich das Gebäude verändert hatte. Mein Blick fiel auf meine Handgelenke im Spiegel, die Male waren noch immer unverhüllt. Aus irgendwelchen Gründen hatte ich die Armreifen nicht mehr angelegt, die ich in Santorin abgenommen hatte. Ein weiterer Beweis dafür, dass ich nicht sicher war, ob ich noch hierher gehörte oder ob ich überhaupt erwünscht war.

Dad liebte mich, daran hatte ich keinen Zweifel, doch er liebte nur einen Teil von mir, und dieser Teil wurde immer kleiner und kleiner, während der Grigori-Teil allmählich jede Facette meines Lebens übernahm.

Wäre es besser, wenn ich jetzt einfach gehen würde?

Bevor er sah, was ich wirklich war? Bevor er sich entscheiden musste, ob er mir glaubte oder nicht? Bevor er das mit … ihr erfahren würde?

Ich schlug mit dem Kopf gegen den Aufzugsspiegel.

Toller Plan, Vi. Gerade jetzt, wo er immer weniger an … Evelyn dachte.

Nein. Ich hatte ihm eine Erklärung versprochen und er würde eine bekommen. Ich würde ihm alles erzählen, außer dem Teil mit ihr. Das konnte ich ihm nicht antun. Dann konnte er entscheiden, ob ich hierher gehörte oder nicht.

Sobald ich die Tür zu unserer Wohnung aufgeschlossen hatte, wusste ich, dass ich nicht allein war.

Ich ließ meine Tasche fallen und ging in Richtung Küchenbereich.

»Ich weiß, dass du hier bist«, sagte ich mit leiser Stimme.

Ich ging zur Kaffeemaschine. Wenn sie geglaubt hatte, ich würde ihr auch einen kochen, dann hatte sie sich ganz schwer getäuscht. Auf meinem Weg bemerkte ich die offene Balkontür. Wir müssen wirklich damit anfangen, sie abzuschließen. Zwölf Stockwerke bedeuteten heutzutage nur noch wenig Sicherheit.

Meine Hand ballte sich zur Faust, als ich sie aus dem Flur hereinkommen sah. Sie hatte die Haare geschnitten – sie selbst, so wie es aussah –, aber es war eine deutliche Verbesserung. Dieses ganze Haare-bis-zum-Knie-Dings sah vielleicht bei Fünfundzwanzigjährigen süß aus, aber … Na ja, bei ihr funktionierte es jedenfalls nicht.

»Ich dachte, du wärst weg«, sagte ich so ausdruckslos ich nur konnte. Sie sah nicht älter aus als Griffin – fünfundzwanzig vielleicht, das Alter, in dem Dad gedacht hatte, dass sie gestorben war. Oder eher, das Alter, in dem sie ihr Abkommen getroffen hatte. Wirklich irritierend war, dass sie in ihren Jeans und dem schwarzen Rollkragenpullover total normal aussah, als wäre sie meine Schwester oder so. Meine besser aussehende Schwester. Was noch mehr nervte.

»Fluchtinstinkt.« Sie zuckte mit der Schulter. »Das lässt sich nur schwer ablegen.«

Sie blieb auf der anderen Seite der Frühstückstheke und bewegte sich langsam. Dabei ließ sie die Hände in meiner Sichtweite, und ich versuchte mir einzureden, dass das nicht daran lag, dass ihr dieses Verhalten in Fleisch und Blut übergegangen war. Sie ging zum Couchtisch, streckte langsam die Hand aus und nahm das geschnitzte Kästchen, das sie mir hinterlassen hatte.

»Er hat es dir also gegeben?«

»Was? Dachtest du, er würde es nicht tun?«, fragte ich inzwischen in vielerlei Hinsicht gereizt, vor allem, weil ich gerade erfahren musste, wo meine Fluchtinstinkte herrührten. »Wie hast du uns überhaupt gefunden?«

»Telefonbuch.«

Himmel, wenn man daran dachte, dass Verbannte mich dort auch jederzeit nachschlagen konnten!

Sie öffnete das Kästchen und zog den Umschlag heraus, der ihren Brief enthielt. Ich wusste, dass sie auch seine abgegriffenen Ränder betrachtete. Spuren, die von nachdenklichen Fingern hinterlassen worden waren. Ich wollte ihr sagen, dass sie nicht von mir stammten, aber das stimmte nicht ganz. Ich hatte das elende Ding mehr als genug in der Hand gehalten, seit Dad es an mich weitergegeben hatte.

Sie hielt ihr anderes Armband hoch. »Macht es dir etwas aus, wenn ich das hier wieder an mich nehme?«

»Mir doch egal, was du tust. Nimm alles.« Ich schüttete Milch in meinen Kaffee und verschüttete sie dabei mit meinen bebenden Händen.

Verdammt.

Ich beobachtete aus den Augenwinkeln, wie sie das Armband anlegte.

»Der Rest gehört dir, aber ich glaube, das werde ich brauchen.«

Ich lehnte mich auf der Küchenbank zurück und täuschte mein bestes Was-geht-mich-das-an?-Gesicht vor. Die Wahrheit? Ich brauchte die Bank als Stütze.

»Wie schon gesagt, es ist mir egal, was du mit dem Zeug machst.«

Sie nickte, stellte das Kästchen aber wieder zurück auf den Tisch.

»Ist das Kaffee?«

»Ja. Wenn du welchen willst – unten an der Straße gibt es welchen zum Mitnehmen.«

Sie lächelte. »In Ordnung.«

Und dann begann das Um-die-Wette-Starren. Ich zementierte meine Füße am Boden fest und starrte in ihre unglaublich blauen Augen. Unwillkürlich fragte ich mich, wie viele Geheimnisse sie bargen. Bestimmt eine ganze Menge.

»Du hast seine Augen«, sagte sie, während sie zurückstarrte.

»Und du hast die Augen einer Fremden«, sagte ich und war froh, dass sie das endlich zum Wegschauen brachte. »Du solltest jetzt gehen.«

»Ich dachte, du hättest vielleicht ein paar Fragen.«

Ich ging an ihr vorbei zur Tür, wobei ich einen großen Bogen um sie machte. »Weißt du, mir fällt absolut nichts ein, was ich dir zu sagen hätte«, log ich.

Sie nickte und machte einen Schritt auf mich zu. Instinktiv wich ich zurück, bevor ich klug genug war, mich davon abzuhalten. Dieser eine Schritt gab zu viel preis. Sie blieb stehen und streckte wieder die Hände vor sich aus.

»Ich würde dir nie etwas tun«, sagte sie ruhig.

»Die Vergangenheit sagt da etwas anderes. Du glaubst wohl, du kannst es mit mir aufnehmen?«, forderte ich sie mit den gleichen Worten heraus, die Gray mir gegenüber verwendet hatte.

Sie lächelte wieder. »Okay, Violet. Ich gehe.«

Ich machte die letzten paar Schritte zur Tür und erreichte sie genau in dem Moment, als sie aufgerissen wurde und mein Vater atemlos ins Zimmer gestürzt kam.

»Violet! Violet! Oh, Gott sei Dank!«

»Dad«, sagte ich völlig schockiert. »Was machst du hier?«

»Der Portier hat mich sofort angerufen, als er dich hereinkommen sah.«

Man konnte sich auf Dad verlassen, wenn es darum ging, dass alle für ihn spionierten. Bevor ich einen Moment zum Nachdenken hatte, zog er mich in seine Arme und umarmte mich so fest, dass mir die Luft wegblieb.

»Ich dachte schon, ich hätte dich verloren.«

»Dad – warte! Dad, ich muss dir etwas sagen.«

Shit.

Seine Arme wurden schlaff. Es war zu spät.

Ich trat zurück, um Evelyn anzuschauen. Dads Mund klappte auf, und seine Schlüssel fielen mit einem metallischen Klirren zu Boden, das in der Stille ohrenbetäubend klang.

»Sag mir, dass ich keine Halluzinationen habe«, sagte er mit zitternder Stimme, Tränen standen in seinen Augen.

Doch als ich wieder zu Evelyn blickte, verschlug es mir die Sprache.

Auch ihr standen Tränen in den Augen. Sie sah ruhig aus, abgesehen von ihren Händen. Sie waren immer noch vor ihr ausgestreckt und zitterten, als sie »Hallo, James« flüsterte.

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