Kapitel Elf
»Herr, warum stehst du so ferne, verbirgst dich zur Zeit der Not?«
Psalm 10:1
Ich stand auf dem Gehweg vor unserem Wohnblock und staunte darüber, wie sich die Welt um mich herum nichts ahnend weiterdrehte, während ich in einer scheinbar dem Untergang geweihten Existenz dahinvegetierte, die nun die Menschen, die mir am meisten bedeuteten, mit in die Tiefe riss.
Ich wartete unruhig – meine Hand strich nervös über das Heft meines Dolchs. Es war sieben Uhr abends.
Noch zwei Stunden.
Es fühlte sich wie eine kleine Ewigkeit an, bis der Wagen kam. Lincoln fuhr, Griffin saß auf dem Beifahrersitz und Spence machte die hintere Wagentür von innen auf. Ich sprang hinein, froh, aus der Kälte herauszukommen.
»Hi«, sagte ich, wobei ich alle mit einschloss, es aber vermied, Lincoln direkt anzusehen. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich davon abhalten konnte, ihn zu berühren.
»Hast du Ärger mit deinem Vater bekommen?«, fragte Griffin.
»Er weiß, dass ich etwas verheimliche. Er wird es vorerst auf sich beruhen lassen, aber«, ich stieß den Atem aus, »ich weiß nicht, für wie lange.«
Griffin nickte. »Wir werden darüber nachdenken müssen, wie wir das alles mit ihm regeln.«
Er hatte recht, aber damit konnte ich mich im Moment nicht befassen. Ich wusste, das würde nur noch mehr Lügen mit sich bringen. »Lasst uns jetzt einfach Steph zurückholen«, sagte ich.
»Hübsche Frisur«, sagte Spence grinsend, was Lincoln unwillkürlich dazu veranlasste, nach hinten in unsere Richtung zu schauen.
Unsere Blicke trafen sich unabsichtlich, und es fühlte sich an, als würde mein Herz unter seinem liebevollen Blick zerbrechen. Meine Hand wanderte verlegen zu meinem Haar, das ich zu einem ungewöhnlich raffinierten hohen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte.
»Ich wollte nicht, dass es mich stört.«
»Du wirst heute Abend nicht kämpfen«, sagte Lincoln ruhig und scheinbar beherrscht. Die weißen Knöchel seiner Hände, die das Lenkrad umklammerten, sagten etwas anderes.
»Nur für alle Fälle. Wohin fahren wir?«
»Ins Hades«, sagte Griffin.
Ich rutschte auf meinem Sitz herum, weil mir die Vorstellung, dorthin zurückzukehren, gar nicht gefiel. Das Hades war nicht nur der Tatort, sondern es fühlte sich ohne Dapper und Onyx irgendwie falsch an.
»Dapper ist wieder dort«, sagte Griffin, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Er hat sich bemerkenswert rasch wieder erholt. Ich würde wirklich gern mehr darüber erfahren, was er eigentlich ist.«
»Dann geht es ihm also gut?«
»Geschlagen und übel zugerichtet, aber er läuft herum und ist wohlauf.«
Ich staunte. Vor weniger als vierundzwanzig Stunden hatte der Kerl noch ausgesehen, als hätte man sein Innerstes nach außen gekehrt. Kein Wunder, dass Griffin mehr über ihn wissen wollte.
Bis zum Hades war es nur eine kurze Fahrt und wir hielten vor der Tür im Halteverbot an. Lincoln war offenbar nicht in der Laune, gesetzestreu zu sein.
Der Sicherheitsmann machte die Tür auf. »Irgendetwas Neues von Onyx?«, wollte er wissen, als wir an ihm vorbeigingen. Er schien ihn zu mögen.
»Hab ihn heute gesehen. Er sollte in ein paar Tagen aus dem Krankenhaus entlassen werden«, sagte Spence und erinnerte mich damit daran, dass ich selbst noch nicht einmal nach Onyx gefragt hatte.
Es war ein wenig überraschend, dass Spence derjenige war, der ihn besucht hatte. Ich fragte mich, ob sie sich gerade anfreundeten.
Die Restauranttische im Hades füllten sich gerade und die Bar machte bereits auf. Nicht mehr lange und der Laden wäre rappelvoll.
Wir gingen geradewegs zu der unbeschrifteten Tür, die nach oben führte, und machten uns auf den Weg zu Dappers Wohnung. Griffin klopfte an die Tür. Es dauerte eine Weile, aber schließlich hörten wir drinnen eine Stimme.
»Wer ist da?«, rief er in seinem normalen schroffen Tonfall, aber es schwang noch etwas anderes mit. Angst.
»Griffin, Lincoln, Violet und Spencer«, sagte Griffin, womit er rücksichtsvoll dafür sorgte, dass Dapper keine Überraschung erlebte, wenn er die Tür öffnete.
Ich hörte ihn knurren, dann eine Reihe von Klicks, als Dapper mindestens acht Verriegelungen öffnete.
»Griff«, sagte ich, »vielleicht hätten wir lieber woandershin gehen sollen?« Es schien nicht fair zu sein, Dapper in all das mit hineinzuziehen, vor allem, weil er von Anfang an eigentlich nichts damit zu tun haben wollte.
»Er hat darauf bestanden«, sagte Griffin.
»Oh.«
Die Tür ging auf. Dapper trat beiseite und ließ uns eintreten. Er war nicht allein. Kaitlin und Samuel hatten es sich auf dem Sofa bequem gemacht, während Archer und Beth auf Hockern an der Minibar saßen.
Ich bekam Gewissensbisse, weil er es trotz ihrer Gesellschaft als notwendig erachtete, sich einzuschließen.
Er sah unglaublich aus. Ich meine, er wirkte immer noch, als wäre er vom Bus überfahren worden mit seinen Blutergüssen im Gesicht und den eingefallenen Wangen, aber es war mehr als nur eine kleine Verbesserung.
»Ich bin so froh, dass du okay bist«, sagte ich und hielt die Tränen zurück, die überraschend in mir aufstiegen. Bei allem, was passiert war, hatte ich nur wenig Zeit gehabt, an die anderen zu denken, die verletzt wurden, aber Dapper und ich waren Freunde geworden. Er würde das nie zugeben, aber es stimmte.
»Das wäre ich jetzt vielleicht nicht, wenn ihr nicht so schnell hergekommen wärt. Griffin sagte mir, dass du diejenige warst, die alles durchschaut und alle hierher geführt hat. Ich hätte es nicht mehr lang gemacht mit diesem Gürtel um meinen Hals.«
»Lincoln hat ihn abgenommen«, sagte ich. Er musste einfach verstehen, dass ich nichts Gutes getan, dass ich niemandem geholfen hatte. Es war in erster Linie meine Schuld gewesen.
Er zuckte die Schultern. »Trotzdem. Ich schulde dir was.«
Es wirkte, als wäre es etwas sehr Bedeutendes, wenn er das sagte. Fast so, als würde er mir damit ein Versprechen geben. Ich sah die anderen an, die sich auf dem Sofa niedergelassen hatten und auch nicht schlauer zu sein schienen.
»Ich frage besser nicht, oder?«, erwiderte ich.
»Es sei denn, du möchtest die Schulden eintreiben«, sagte Dapper. Dann schloss er die Tür und verriegelte sie mit seinen neuen Sicherheitsschlössern. Ich machte mir nicht die Mühe, ihm zu erklären, dass sie einen Verbannten nicht aufhalten würden. Ich nahm an, das wusste er bereits.
»Also«, sagte Dapper, als er zusammen mit mir wieder den Wohnbereich betrat. Wir setzten uns beide hin. »Was schlagt ihr vor, um das Mädchen wieder zu bekommen?«
Niemand antwortete. Offensichtlich hatte die heutige Besprechung nicht zu irgendwelchen brillanten Ideen geführt.
»Ich gebe Phoenix im Austausch für sie die Schrift der Verbannten«, sagte ich mit entschlossener Stimme.
»Nein«, sagte Lincoln von seinem Platz auf der anderen Seite des Zimmers aus. »Das macht sie nicht.«
»Oh doch«, sagte ich. Ich wollte diese Diskussion zwar nicht vor allen führen, war aber, wenn nötig, dazu bereit.
»Ich lasse dich da nicht allein hingehen. Er ist zu stark und er wird überall Verbannte postiert haben. Du bist nicht stark genug, um gegen ihn zu kämpfen. Und er hat zu viel Macht über dich.«
»Danke für dein Vertrauen«, sagte ich und klammerte mich an meiner Wut fest. Sie war das Einzige, was mich davon abhielt, mir all die Tiefschläge zu Herzen zu nehmen, die er in diesen einen Satz gepackt hatte.
»Darum geht es nicht«, sagte er, noch immer ruhig, wobei er mich allerdings nicht ansah. Er wusste, dass das, was er sagte, grausam war, aber er richtete sich damit an die anderen im Raum. Er wollte mich verunsichern und dafür sorgen, dass sie daran zweifelten, dass ich die richtige Person für diese Sache war. Dem Ausdruck auf manchen Gesichtern nach funktionierte es.
Na toll. Aber was er kann, kann ich auch.
Ich brachte meine Atmung unter Kontrolle, wartete einen Moment und machte mich dann ans Werk. »Du hast mir selbst gesagt, Lincoln, dass Phoenix Steph nichts tun wird, solange er die Schrift noch nicht hat. Mich in einen Hinterhalt zu locken, würde seinen Zwecken nicht dienen. Ich glaube, du vergisst, dass er in den vergangenen sechs Wochen dauernd bei mir aufgetaucht ist und nicht versucht hat, mir etwas anzutun.«
»Aber das alles ändert sich, wenn er erst mal die Schrift in den Händen hat.«
Lincoln sah mich jetzt an. Der Kerl war in höchstem Maße entschlossen.
»Richtig, aber er würde auch wissen, dass Grigori in der Nähe wären. Wenn er mich im Café umbringen würde, wäre er Freiwild. Er wüsste, dass du irgendwo da draußen wärst und ihn augenblicklich zurückschicken würdest. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er dir von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten würde.«
Tada! Er hat mich mit grausamer Kritik geschlagen und ich ihn mit bitteren Komplimenten!
Und jetzt gehört der Raum mir.
»Sie hat recht«, sagte Griffin, und ich wusste, dass es ihn schmerzte, sich so gegen Lincoln zu wenden.
Lincoln stand auf und ließ den Kopf hängen. »Schön. Aber ich will die ganze Zeit in ihrem Ohr sein.«
»Was? Was heißt das?«, fragte ich, weil ich mir Sorgen machte, dass er Besitz von mir ergreifen wollte oder so.
»Das ist verständlich«, sagte Griffin zu Lincoln. Dann gab er Samuel ein Zeichen, der ein kleines Kästchen öffnete, das auf der Minibar stand. Er reichte Lincoln und mir zwei kleine Gegenstände. Ich schaute sie mir an. Es waren ein kleiner Ohrstöpsel und eine kleine silberne Nadel.
»Sie sind schwer zu entdecken, aber sie sind für alle Fälle mit einer Blendung versehen, um sicherzugehen. Steck die Nadel an deine Kleidung und den Ohrstöpsel in … nun, du weißt, worauf ich hinauswill«, sagte Samuel und lächelte gezwungen.
Großartig, Phoenix und ich unterhalten uns und Lincoln hört mit. Das wird einfach großartig werden.
»Wir werden acht Grigori im Umkreis postieren, dazu mich und Lincoln ganz in der Nähe«, fuhr Griffin fort. »Wenn du irgendetwas siehst, was deiner Meinung nach auf einen Hinterhalt oder eine Falle irgendeiner Art hinweist, dann rufst du uns. Wenn du aus irgendwelchen Gründen nicht direkt mit uns sprechen kannst, dann sag das Wort ›Kirsche‹.
»Himmel«, sagte Dapper und sprach aus, was ich dachte. »Ihr macht es wohl gern kompliziert. Gib ihr einfach das verdammte Ding – ihre markerschütternden Schreie werden euch dann schon darauf hinweisen, wenn sie euch braucht.«
Ich konnte mein Lächeln nicht verbergen. Dapper und ich hatten ein gewisses Maß an Distanz zu der ganzen Sache erreicht. Lincoln dagegen teilte unseren Humor nicht.
Alle packten allmählich ihre Sachen zusammen, bewaffneten sich mit ihren Dolchen und allem anderen, was sie für angemessen hielten. Samuel war wie eine wandelnde Waffenkammer. Ich fragte mich, warum er sich die Mühe machte – die einzigen Waffen, die wirklich funktionierten, waren die Grigori-Dolche. Ich musste ihn wohl angestarrt haben, denn er zwinkerte mir zu, zog seine Klinge heraus und hielt sie ins Licht. Auf einer Seite befanden sich zarte Rillen, die aussahen wie Gravuren.
»Unsere Klingen sind sehr mächtig – selbst das kleinste Bruchstück kann etwas bewirken, wenn es geschmolzen und mit einfachem Silber vermischt wird.« Er zuckte die Achseln. »Diese Sicherheit zu haben kann nicht schaden. Späne von meiner Grigori-Klinge wurden in einer hübschen Anzahl meiner Waffen mitverarbeitet.«
In seinem Mantel erspähte ich auch ein paar Handgranaten. Ich nehme an, die sind auch ganz praktisch, wenn man in der Patsche sitzt.
Ich brauche unbedingt mal ein Buch über dieses Zeug.
»Aber je stärker der Verbannte«, unterbrach Griffin, »desto wahrscheinlicher ist es, dass er gegen alles immun ist, außer gegen die bloße Kraft einer Grigori-Klinge.«
Ich nickte, mein Mund war jetzt trocken. Griffin glaubte nicht, dass Samuels Spezialklingen gegen Phoenix ankommen würden. Samuel zuckte noch einmal mit der Schulter, völlig ungerührt.
Dapper überraschte mich, indem er ein beeindruckend aussehendes Schwert in eine Scheide steckte und über seine Schulter warf, bevor er hinausging. Zwei Gedanken schossen mir durch den Kopf, als ich das sah. Kill Bill – und – Ich muss unbedingt mein Waffenarsenal erweitern.
Ich glaube, ich konnte verstehen, dass Dapper nicht wieder zurückgelassen werden wollte, aber er kam mir nicht wie ein Kämpfer vor. Er lächelte mich halbherzig an, weil er meine Sorge spürte.
»Die Kleine muss mir noch ein paar von meinem Büchern zurückgeben«, sagte er.
Das war gelogen. Steph war ihm einfach ans Herz gewachsen.
Rasch schob ich den Gedanken beiseite. Ich konnte nicht an Steph denken. Nicht bevor ich sie zurückhatte.
Lincoln brachte mich zum Dough to Bread, dem Abendcafé, das Phoenix als »unser« Café bezeichnete. Ich hatte zu Lincoln gesagt, dass er das nicht zu tun brauchte. Aber er gab sich vollkommen überlegen und ignorierte mich.
»Du kannst nicht mit mir hineingehen«, sagte ich, nachdem wir den größten Teil des Weges schweigend zurückgelegt hatten.
»Ich weiß«, sagte er und klang dabei resigniert und besorgt zugleich.
»Du glaubst, dass es falsch ist, was ich tue, nicht wahr?«
Er schwieg eine Weile. Sein Atem wurde tiefer. »Einerseits ja, sehr sogar. Andererseits nein.«
»Lust, das näher auszuführen?«
»Eigentlich nicht. Nur dass … ich glaube, die Entscheidung ist richtig. Der Austausch. Ich wünschte nur, du würdest es nicht so unmöglich machen, dich zu beschützen.« Er blieb stehen. »Wir sind da.«
Ich hielt neben ihm an. »Ich würde alles tun für jemanden, den ich liebe«, sagte ich ruhig. Ich war mir nicht sicher, was genau ich damit sagen wollte, oder was er meiner Meinung nach heraushören sollte.
»Ich weiß«, sagte er traurig. »Genau das meine ich damit.« Er blickte zu dem Café auf der anderen Straßenseite. »Wie viele kannst du wahrnehmen?«
Ich konzentrierte mich einen Moment lang. »Vier.« Dann beschloss ich, mehr herauszufinden. »Warte …« Ich versank in meiner Kraftquelle, bis tief in ihr Zentrum, und nahm Verbindung zu meinen Sinnen auf. Ich stand noch immer vor Lincoln und sah ihn direkt an. Aber ich nahm noch viel mehr wahr, und diese Wahrnehmungen konnte ich mitnehmen, wohin ich wollte. Ich spürte eine so große Woge meiner Kraft, dass ich nicht wusste, ob ich sie würde beherrschen können, falls ich sie je vollkommen losließe. Ich bewegte meine Sinne nach oben, sodass ich die unmittelbare Umgebung aus der Vogelperspektive betrachten konnte.
Die Verbannten stachen heraus wie pulsierende Hotspots. Drei. Einer versteckte sich in der Gasse hinter dem Café, einer auf dem Dach, einer am Hintereingang. Ich konnte auch die Grigori sehen, die in verschiedenen Farbtönen schimmerten, deren Umrisse gepunktet waren. Sie waren paarweise unterwegs. Irgendwie erkannte ich Spence. Ich sah ihn eigentlich nicht deutlich – ich wusste einfach, dass er es war. Er war blau. Ich nahm auch Griffin wahr, er hatte eine Art purpurroten Ton. Bei ihm war noch jemand anderes, den ich nicht erkannte. Weder Grigori noch Verbannter.
Ich verlagerte mein Empfindungsvermögen durch die Decke in das Café. Phoenix saß hinten. Er glühte nicht so rot wie die anderen Verbannten, bei ihm war es anders – ein sanftes Orange, fast golden. Neben ihm war eine Präsenz, aber ich konnte nicht erkennen, was es war. Vielleicht eine Illusion.
Phoenix Aufmerksamkeit wanderte zur Decke, als würde er sehen, dass ich ihn von oben beobachtete. Sein Blick schien mich zu fixieren.
Erschrocken zog ich mich in mich selbst zurück und stolperte ein Stück zurück.
Lincoln ergriff meinen Arm, während ich mich vorbeugte und das Gefühl, das wie eine Mischung aus Grippe und Reisekrankheit war, zurückdrängte. Am liebsten hätte ich mich auf den Boden sinken lassen, um mich auszuruhen und zu Atem zu kommen. Aber das tat ich nicht. Ich zwang mich dazu, mich aufzurichten, und schluckte die Galle hinunter, die mir in der Kehle aufstieg.
Um Himmels willen, reiß dich zusammen! Wenn ich jetzt zusammenbreche, wird Linc wahrscheinlich »Kirsche, Kirsche!« schreien!
»Alles in Ordnung?«, fragte er, man merkte ihm seine Besorgnis an.
Ich nickte und hielt mich irgendwie aufrecht. »Nur etwas schwindlig.«
Er fasste mir an die Stirn. »Mehr als nur schwindlig. Wo bist du gewesen?«
Er betrachtete mich eingehend. Suchte nach Lügen. Oder vielleicht wollte er auch nur sehen, ob ich gleich in Flammen aufgehen würde.
»Ich … das ist schwer zu erklären.« Ich konzentrierte mich darauf, meine Atmung zu verlangsamen, jeder Atemzug erdete mich ein wenig mehr.
»Versuch es.«
Ich schluckte und wischte mir den Schweiß aus dem Nacken. »Es ist, als könnte ich … ich weiß nicht … die Sinneswahrnehmungen dazu einsetzen, um Dinge zu sehen, die weit weg sind. An andere Orte gehen, sozusagen …«
Lincoln bekam große Augen. »Wie lange kannst du das schon?«
»Seit dem Angriff im Hades, aber ich wusste nicht, wie ich das damals machte. Seitdem ist es ein paarmal passiert. Auf diese Weise erfuhr ich, dass Verbannte im Flughafen waren, und so habe ich auch dich und Nahilius gefunden. Das ist aber jetzt das erste Mal, dass ich es so sehr gesteuert, die Kraft so weit ausgestreckt habe.«
Und jetzt zahle ich den Preis dafür.
Er packte mich an den Schultern und schüttelte mich. »Hör mir jetzt zu. Mach das nie wieder. Aus welchem Grund auch immer. Bis … bis wir wissen, was das ist.« Er verströmte Angst.
Ich nickte, erschrocken über seine Heftigkeit.
Er ließ eine Hand herunterfallen und fuhr sich damit durch das Haar.
»Wir sollten zurück ins Hades gehen«, sagte er. Er blickte sich um und kramte in seiner Tasche.
»Wag es nicht, dein Handy herauszuholen. Ich gehe da jetzt hinein, ob es dir gefällt oder nicht«, sagte ich. Ich entzog meinen Arm seinem Griff und verlor dabei fast das Gleichgewicht.
Wir starrten einander an. Er wusste, dass ich mir die einzige Chance, Steph zurückzubekommen, nicht entgehen lassen würde. Schließlich seufzte er, und ich wusste, das war das einzige Zugeständnis, das ich bekommen würde. Doch dann schüttelte er den Kopf.
»Du hättest es mir sagen sollen.« Er zog die Hand aus der Tasche. Leer.
»Ich weiß. Es tut mir leid. Aber es ist so viel, zu viel, passiert und ich wollte einfach nicht zugeben, dass es noch etwas an mir gibt, das ich mir nicht erklären kann.« Und das war die Wahrheit.
»Weiß sonst noch jemand davon?«
Gleich erschieß ich mich.
Ich überlegte, ob ich etwas erfinden, ob ich es abstreiten sollte, aber das konnte ich nicht, deshalb machte ich mit meinem dummen Anflug von Wahrheitsliebe weiter.
»Ich glaube, Phoenix ist dahintergekommen. Er nannte es ›Sehkraft‹. Und gerade habe ich es dazu eingesetzt, ins Café zu gehen. Ich glaube, er hat mich dort wahrgenommen.«
Lincoln biss die Zähne zusammen und nickte. Er steckte sich den Ohrstöpsel ins Ohr und steckte mir die Mikrofonnadel an. Ich folgte seinem Beispiel und schaute auf die Uhr. Es war neun.
»Ich gehe jetzt besser.«
Er nickte, was so viel hieß wie: Darüber reden wir später noch.
Ich setzte meinen Rucksack auf, der zwar nicht die Schrift enthielt, aber einen guten Köder abgab. Die echte Schrift steckte in meiner Jacke.
»Wenn du über die Straße gehst, sprich in das Mikro, nur damit ich weiß, ob ich Empfang habe. Dann warte, bis ich antworte.«
»Okay.«
Ich wartete ein paar Autos ab und spurtete dann über die Straße.
»Hörst du mich?«, fragte ich.
»Ja, ich höre dich.« Lincolns Stimme erklang laut und deutlich, als wäre er direkt neben mir. Diese Dinger sind gut.
»Es tut mir leid«, brach es – völlig überraschend für mich – aus ihm heraus. »Was ich vorhin bei Dapper gesagt habe. Das war gelogen. Du bist stark genug, um Phoenix entgegenzutreten.«
Ich biss mir auf die Lippe. Er organisierte sich neu, er wollte, dass ich jetzt an mich selbst glaubte für den Fall, dass alles schiefging.
Ich lächelte ein wenig, wobei ich nicht wusste, ob er mich sehen konnte.
»Du hast nicht gelogen, Linc, du musstest es versuchen und … damit kann ich leben.«
Er sagte nichts weiter, deshalb ging ich auf den Eingang des Dough to Bread zu, nachdem ich mit den Fingerspitzen rasch über meinen Dolch gestrichen hatte.
»Sei vorsichtig«, flüsterte er, als ich gerade hineinging.