Kapitel Vierzehn
»Dagegen sollten die zeitlichen Güter und Übel den einen wie den andern zuteilwerden.«
Heiliger Augustinus
Meine Lungen brannten, und ich genoss das Gefühl, wollte mehr, auch wenn ich keine Zeit mehr hatte. Ich lief schon seit zwei Stunden, um zu spüren, wie ich an meine Grenzen kam. Obwohl ich am Ende war – vor Hunger und Müdigkeit –, hatte ich noch immer eine super Ausdauer. Ich wollte Schmerzen, brauchte die Ablenkung.
Und … ich mied Dad.
Ich hatte ihn seit gestern Nachmittag nicht mehr gesehen.
Die Dinge waren ins Rollen geraten, und ich musste darüber nachdenken, mich neu konzentrieren. Anders funktionierte ich nicht. Phoenix hatte mich an die Wand gespielt, und das durfte ich nicht noch einmal zulassen.
Ich war erleichtert, dass Steph okay war. Und überrascht.
Ich konnte Phoenix einfach nicht durchschauen. Manchmal war ich mir fast sicher, dass ein Teil von ihm es hasste, diese Dinge zu tun, und die anderen Verbannten verabscheute. Und doch war er gerade dabei, die Ober-Verbannte Lilith wiederauferstehen zu lassen. Das ergab keinen Sinn. Es war, als wollte er sich selbst dazu zwingen, etwas zu werden, was er eigentlich hasste.
Ich fragte mich, ob es ihm eigentlich nur darum ging, mich umzubringen. Wenn das sein höchstes Ziel war, wäre es vielleicht besser, es ihn einfach tun zu lassen. Ich könnte alles beenden, bevor er sie zurückbrachte. Doch tief in meinem Inneren wusste ich, dass die Zeit, sich selbst zu opfern, vorbei war. Wenn es nur darum gehen würde, mich zu töten – dazu hatte er schon reichlich Gelegenheit gehabt.
Ich ging so spät in die Wohnung zurück, dass ich gerade noch Zeit hatte, zu duschen und mich umzuziehen, bevor ich zur Schule ging. Doch als ich in die Küche ging, um mir rasch einen Kaffee zu schnappen und dann wieder hinauszugehen, saß Dad dort und wartete auf mich.
Arbeitete er denn gar nicht mehr?
»Morgen. Ich dachte nicht, dass du … ich war gerade laufen.«
»Hm.«
Er war für die Arbeit angezogen und hatte seine Aktentasche in der Hand. Er war noch immer sauer auf mich. Ich musste jetzt einfach seinen Vortrag über mich ergehen lassen, dann würde er schon gehen.
»Tut mir leid wegen gestern«, versuchte ich es.
»Violet, trotz allem, was du vielleicht über mich denkst, ich bin kein Idiot. Worin immer du verwickelt bist – jetzt ist Schluss damit.«
Ich stand wie gelähmt an der Kaffeemaschine. »Ich bin in nichts verwickelt.«
»Doch, das bist du. Ich weiß zwar nicht, was es ist, aber ich werde es noch herausfinden. Und bis du dich entschließt, ehrlich zu mir zu sein …« Er holte tief Luft, »hast du Hausarrest.«
Fast hätte ich das Milchkännchen fallen lassen. »Was?«, sagte ich und knallte den Krug auf die Theke.
Hatte er getrunken?
»Du … das kannst du nicht machen!« Wir hatten einfach nicht diese Art von Beziehung.
»Doch, kann ich. Du gehst in die Schule und dann direkt nach Hause. Jeden Tag. Am Wochenende kannst du hier oder in der Bibliothek lernen, aber um sechs bist du zu Hause. Das war’s. Kein bis spätabends Ausgehen mehr. Ich werde es so einrichten, dass ich in nächster Zeit viel von zu Hause aus arbeite, sodass ich an den meisten Tagen da bin, wenn du nach Hause kommst.«
Ich stand mit offenem Mund da, völlig erstarrt. Es gab eine ganze Menge von Dingen, die ich gern gesagt hätte, aber aus irgendwelchen Gründen brachte ich nichts heraus.
Dad betrachtete mein Schweigen fälschlicherweise als Zustimmung und nickte mir kurz zu, bevor er zur Tür ging. Bevor er sie öffnete, blieb er stehen und ließ die Schultern hängen. »Tut mir leid, Violet. Aber du lässt mir keine andere Wahl.« Leise schloss er dir Tür hinter sich.
»Ich habe Hausarrest«, sagte ich zu Steph in Geschichte, nachdem wir es endlich geschafft hatten, Lydia loszuwerden, indem wir schworen, dass wir Spence gute Besserung von ihr wünschen würden. Spence hatte beschlossen, nicht mehr in die Schule zu kommen. Er hatte vor, seine Entschuldigung wegen Pfeifferschem Drüsenfieber noch bis zum Abschluss nächsten Monat auszudehnen.
»Es ist, als hätten wir in eine Art Paralleluniversum gewechselt. Dein Dad ist plötzlich ganz väterlich und meine Eltern verlieren komplett den Faden.« Steph schüttelte den Kopf. Keine von uns konnte begreifen, was da passiert war.
Der Bluterguss auf Stephs Wange war unter einer Schicht Make-up kaum noch zu erkennen und sie schien in jeder Hinsicht wieder ganz die alte zu sein, auch wenn ich wusste, dass noch irgendwo Folgeschäden lauern konnten.
»Wie lief es gestern Abend noch mit Jase?«, fragte ich, weil ich wissen wollte, ob wir noch ein weiteres Problem hatten.
»Er kauft uns die Geschichte nicht ab. Auch wenn Griffin es geschafft hat, dass er sich nicht allzu sehr aufregt. Ich glaube, er denkt, dass du und ich in irgendetwas hineingeraten sind und es nicht zugeben wollen. Das Gute ist – er hat auch genug Mist gebaut, als er noch jünger war, deshalb hat er mit Mum gesprochen, die jetzt beschlossen hat, dass ich mich nur austobe.«
Sie zeichnete Spiralen auf ihr Papier. »Und als sie meine Eins in Chemie sah, war ihr sowieso wieder alles egal.«
»Na ja, Jase macht sich Sorgen um dich«, sagte ich.
Steph zog die Augenbrauen nach oben. »Nicht nur um mich. Er hat gestern Abend auch ein paarmal nach dir gefragt.«
»Oh. Na ja, ich habe wahrscheinlich ziemlich fertig ausgesehen.«
»Ja, ich glaube aber nicht, dass es daran lag. Ich glaube, mein großer Bruder ist verknallt …« Sie sah aus, als würde sie gleich anfangen zu lachen.
Vor ein paar Jahren schwärmte ich ein wenig für Jase. Er ist zwei Jahre älter als wir, und ich fand ihn absolut cool mit diesem ganzen Musik-Ding, das er da am Laufen hatte. Dann hatte ich Lincoln kennengelernt.
»Steph, das ist nicht lustig«, sagte ich warnend.
»Es ist aber so!«, sagte sie und fing an zu kichern. Dann sah sie mein Gesicht. »Ach, keine Panik. Er steht jede Woche auf ein anderes Mädchen. Das geht vorbei – mach einfach eine Weile einen Bogen um ihn.«
Das war sicher kein Problem, jetzt wo ich Hausarrest hatte.
»Hat dein Dad auch gesagt, dass ich nicht zu euch kommen darf?«, fragte Steph mit einem verschwörerischen Augenzwinkern.
»Nein. Noch nicht.«
»Gut, dann steht Recherche auf dem Plan. Ich weiß, dass ich ganz nah dran bin.« Sie klopfte mit ihrem Stift auf das Pult. »Wir können auf dem Weg bei Dapper vorbeigehen. Ich bin mir sicher, er lässt mich dieses Buch, das ich immer benutzt habe, für heute Abend mit zu dir nehmen. Ich fühle, dass ich kurz vor dem Durchbruch stehe.«
Ich lächelte. Eigentlich hätte ich lieber trainiert oder – noch besser – irgendetwas, was es wirklich verdient hatte, kurz und klein geschlagen, aber mein improvisiertes Fitnessstudio würde es wohl auch tun und der Rest konnte bis morgen warten.
»Recherche«, stimmte ich zu. Na, das war wenigstens etwas.
Dad war nicht gerade erfreut, als ich mit Steph im Schlepptau in die Wohnung kam, aber er hatte schon immer eine Schwäche für sie gehabt und sah ein, dass er nicht festgelegt hatte, dass sie nicht willkommen war. Ich glaube, er war einfach nur erleichtert, als er sah, dass ich überhaupt nach Hause gekommen war.
Steph und ich hatten auf dem Weg kurz bei Dapper angehalten. Widerstrebend hatte er eingewilligt, dass sie sich ein paar Bücher auslieh. Ihre neuesten gemeinsamen Kampferfahrungen hatten ihr wohl zu ein wenig Einfluss verholfen, woraus Steph ohne mit der Wimper zu zucken Kapital schlug. Wir machten uns also einen Kaffee und schlossen uns in mein Zimmer ein, so weit weg von Dad und seiner neuerdings erwachten väterlichen Wissbegierde wie möglich.
Das einzig Gute an dieser Situation war, dass Dad ein Amateur in Sachen Disziplin war. Er hatte keine Ahnung, was echter Hausarrest bedeutete. Ich hatte noch immer mein unverzichtbares Handy, deshalb war es ihm nicht wirklich gelungen, meine Kontakte nach draußen zu unterbinden. Und angesichts der Tatsache, dass sich neuerdings … meine an der kurzen Leine gehaltenen Gefühle regten, hatte die Gefangenschaft wenigstens einen Vorteil – ich musste Lincoln nicht begegnen.
Ich hatte mich bemüht, abzuschalten. Das Einströmen der sehr realen Gefühle, die er mir gestern Abend entlockt hatte, hatte bewirkt, dass mir das Blut kochte und außer Kontrolle geriet. Es sagte eine Menge aus, dass er wusste, dass meine Gefühle für ihn der Schlüssel dazu waren, mich aus der Hörigkeit zu befreien, die ich Phoenix gegenüber an den Tag legte.
Es ist zu grausam.
Während Steph ihren Kopf unter Büchern begrub, rief ich Griffin an, dann Spence, um sie über meinen Hausarrest zu informieren. Griffin war bereits bei Lincoln, deshalb bat ich ihn darum, Lincoln ebenfalls Bescheid zu sagen. Spence versprach, dass er mir morgen zum Trainieren zur Verfügung stehen würde, nachdem ich mich einverstanden erklärt hatte, Griffin nicht zu erzählen, dass er nicht in der Schule aufgetaucht war.
Als das erledigt war, ging ich zu einem kurzen Workout in mein Atelier, dann – nachdem ich geduscht und mich umgezogen hatte – machte ich es mir auf dem Boden neben Steph bequem und blätterte durch die Kopien der Schrift. Steph hatte mehrere davon angefertigt, auf manche davon schrieb sie etwas, andere hielt sie sauber. Dapper, der in Bezug auf alles, was alt war, besonders bewandert zu sein schien, hatte auch einen Satz davon, außerdem Griffin und die Akademie.
Ich starrte den ersten Teil an und einen geschriebenen Abschnitt – vielleicht waren es auch Symbole.
»Welche Sprache ist das?«
Steph schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nur eine Sprache. Es ist eher wie eine Sprache und ein numerischer Code. Es ist faszinierend und frustrierend. Die Sprache ist altes Hebräisch, was schwer zu übersetzen ist – vor allem, weil ich es nicht beherrsche und deshalb jedes Wort recherchieren muss. Die Zahlen, die im Grunde jedes zweite Wort ausmachen, beziehen sich auf das hebräische Alphabet, aber …«, ihre Augen leuchteten auf, »genau darin liegt der Durchbruch. Jedes sechste Wort. Es kehrt sich um, verändert den Fluss und dreht das Alphabet. Die Übersetzung von Eins steht also zum Beispiel sechs numerische Wörter lang für den ersten Buchstaben des Alphabets, in den nächsten sechs numerischen Wörtern steht sie allerdings für den letzten Buchstaben des Alphabets. Eigentlich ist es ganz einfach, aber verwirrend genug, um einen aus dem Konzept zu bringen.«
»Und was hast du mit dieser Methode bereits übersetzt?«
Steph leckte sich über die Lippen. »Okay. Also, es gibt zwei Haupttexte. Soweit ich das beurteilen kann, handelt es sich um Prophezeiungen – irgendwelche Richtlinien, die es zu beachten gilt. Bisher habe ich, glaube ich, eine davon geknackt.«
Sie reichte mir ein Blatt Papier. »Hat das irgendeine Bedeutung für dich?«, fragte sie.
Wenn es sich nicht um lauter Informationen gehandelt hätte, die direkt aus der Hölle stammten, hätte ich gesagt, dass Steph in ihrem Element war.
Ich blickte auf das Blatt Papier.
Erwache, Tartarus und bedecke den Tag,
verdunkle den Blick und der Sonne Strahl
Feuerregen und Aschefall,
einer erleidet unsägliche Qual.
Tosende Flammen durchbohren die Luft,
entzünden den Blick auf die steigende Flut.
Eine Woge des Todes, nur um die zu erlösen,
der keiner verzeiht – die Erweckung des Bösen.
»Das ist ein Gedicht«, sagte ich.
Steph nickte. »Aufmunternd, nicht war? Und es reimt sich so schön.«
»Ist das nicht komisch? Ich meine, sollte es sich überhaupt so reimen, wenn es aus einer anderen Sprache übersetzt ist?«
Sie blickte mich seltsam an. »Ja, das ist komisch. Alles ist komisch und ich mache mir ernsthaft Sorgen, dass das unsere erste Frage ist, aber wann ergibt irgendetwas von diesem Zeug überhaupt mal einen Sinn? Ich glaube, von der Art her, wie es verfasst ist, würde es sich in jede Sprache zu einer Art Synchronität und in ein Reimschema übertragen lassen. Aber ich persönlich würde mit dem Teil anfangen, in dem von »Feuerregen« und »unsäglicher Qual« die Rede ist.«
»Ist das andere genauso?«, fragte ich. Die übersetzten Worte verdrehten mir inzwischen den Magen.
»Ähnlich, glaube ich. Der Code ist ein wenig anders, aber ich glaube, ich habe das meiste davon herausbekommen.«
Steph und ich diskutierten noch stundenlang und machten nur eine Pause, um uns getoastete Sandwichs zum Abendessen zu machen und um ab und zu die Hand auszustrecken, um einen Löffel voll geschmolzenes Pfefferminz-Schokosplitter-Eis zu essen. Sie erklärte mir, wie der Code funktionierte, und ich war überrascht, dass ich nicht völlig nutzlos war und tatsächlich ein paar der Wörter selbst entschlüsseln konnte.
Am Ende des Abends hatten wir die erste Zeile des zweiten Textes übersetzt.
Am südlichsten Punkt verbirgt eine Insel die Pforte.
Was eine ganze Reihe von Dingen bedeuten konnte.
Nachdem Steph gegangen war, ging ich in die Küche, um mir noch eine Tasse Kaffee zu machen. Ich war noch nicht bereit zu schlafen. Dad war in seinem Zimmer, wahrscheinlich arbeitete er noch und ging mir aus dem Weg. Ich ging in mein Atelier, machte die Tür zu und machte einen weiteren koffeingeladenen Workout, den ich nur unterbrach, um das Fenster zu öffnen und meine Sinneswahrnehmungen nach außen zu schieben. Heute Abend waren keine Verbannten in der Nähe.
Das war leider kein Trost. Eher ein weiterer Hinweis darauf, dass Phoenix bereits hatte, was er wollte. Indem er keine Verbannten auf mich hetzte, sandte er mir eine arrogante Botschaft. Wahrscheinlich lachte er, wo immer er gerade war.
Meine einzige Hoffnung bestand darin, dass auch er vielleicht Zeit brauchen würde, um die Schrift zu entziffern, und ich kannte Phoenix gut genug, um zu wissen, dass er den Inhalt nicht vielen – wenn überhaupt jemandem – anvertrauen würde. Das konnte uns womöglich auch weiterhelfen.
Ja, so bin ich – immer sehe ich das Positive.