Kapitel Sechs

»Meine Liebe liegt in ihrem eigenen Blut.«

Thomas Campbell

Ich zog Leggings und einen grauen Rollkragenpulli an und setzte eine Mütze auf. Ich war mir ziemlich sicher, dass Dad schlief, aber wenn ich durch die vordere Tür des Gebäudes hinausgehen würde, könnte der Portier am nächsten Morgen etwas zu ihm sagen, deshalb ging ich stattdessen auf den Balkon vor dem Wohnzimmer.

Der zwölfte Stock ist ziemlich weit oben. Zum Glück gab es auf dieser Seite des Gebäudes auf jedem Stock einen Balkon an der gleichen Stelle. Leise ließ ich die Tür aufgleiten, gerade weit genug, damit ich mich hinausschlängeln konnte. An einer Stelle quietschte sie, aber ich hatte sie oft genug zugemacht, um zu wissen, wann ich sie ein wenig anheben musste, um das verräterische Geräusch zu vermeiden. Hinunter zu kommen war knifflig, wieder herauf … war eine Herausforderung.

Ich schwang mich auf das Geländer und ließ die Beine nach unten baumeln.

Komm schon, Vi, du kannst das.

Wenn sich Zoe von einem Baum hier heraufkatapultieren lassen und Spence an Wänden hinaufklettern konnte, dann konnte ich ja wohl hinunterspringen. Ich streckte meinen kaputten Arm aus und ballte meine Hand ein paarmal zur Faust, wobei ich beschloss, dass er mich halten würde. Ich ließ mich hinuntergleiten, sodass meine Füße auf einem schmalen Absatz balancierten, dann drehte ich mich zur Wand und ließ mich fallen.

Mit einem Klatschen fing ich mich am Geländer des Balkons darunter auf, dann scharrte ich mit den Füßen, bis ich Halt fand. Mir klopfte das Herz bis zum Hals, aber ich hatte es geschafft.

Nur noch zehn!

Jedes Mal, wenn ich losließ und mich ein weiteres Stockwerk hinunterfallen ließ, schoss mir das Adrenalin in die Adern. Doch als ich im fünften Stock angelangt war, hatte ich den Dreh raus. Als ich unten auf dem Gehweg landete, hätte ich fast einen armen Kerl, der seine abendliche Joggingrunde drehte, ausgeknockt. Er wich aus und sah mich an, als wäre ich irgendeine Spinnerin, aber dann lief er weiter.

Ich klopfte mich ab, was aber nicht viel brachte – die Außenwand des Gebäudes sollte wirklich mal gereinigt werden, Spinnweben sind schwer von der Kleidung zu entfernen. Wenigstens war ich grau angezogen.

Als ich wieder einigermaßen vorzeigbar aussah, tastete ich nach meinem Dolch und ging in Richtung Park. Trotz meinen Patzern im Kunstunterricht war ich immer besser darin geworden, meine Schutzmechanismen aufrechtzuerhalten. Wenn ich es nicht wollte, konnten mich Verbannte nicht mehr so leicht wahrnehmen wie früher.

Ich brauchte nicht lange, um mit meinen engelhaften Sinnen in Verbindung zu treten. Ein Verbannter war in der Nähe und gab sich keine Mühe, sich zu verbergen. Aufgrund der Energie, die er freisetzte und die jetzt durch meinen Körper pulsierte, hatte ich den Verdacht, dass er auf der Jagd war.

Ich hielt meine Schutzbarrieren oben, während ich mich ihm näherte, weil ich meinen Gegner abschätzen wollte, bevor ich zuließ, dass er mich wahrnehmen konnte. Ich schlängelte mich zwischen den Bäumen hindurch, anstatt den Weg zu nehmen, und benutzte die Schatten als Deckung. Die Vorahnung einer Auseinandersetzung weckte die Kriegerin in mir, und ich ertappte mich dabei, dass ich mich auf die Konfrontation freute.

Es dauerte nicht lange, ihn zu finden, und als ich ihn entdeckte, war ich überrascht. Ich hatte angenommen, dass es jemand aus Phoenix’ Truppe war, aber jetzt war ich mir da nicht mehr so sicher. Phoenix hielt seine Gefolgschaft an der kurzen Leine. Wenn er diesen Verbannten zu mir geschickt hätte, würde dieser nicht eine schreckensstarre Frau hinten in den Park schleppen.

Ich blieb hinter einem Baum stehen und überprüfte noch einmal meinen Arm, streckte ihn aus, um mich zu vergewissern, dass er keine Probleme machen würde, wenn ich ihn brauchte. Er schmerzte, weil er durch die neuerliche Kraftanstrengung wieder schlimmer geworden war, aber er funktionierte. Ich schloss die Augen und setzte ein klein wenig Kraft ein, um zu sehen, was alle anderen sahen. Manchmal war es umgekehrt. Manchmal war der Verbannte so stark, dass ich sah, was er der menschlichen Vorstellung vorgaukelte, und dann musste ich meine Kraft einsetzen, um dieses Bild zu brechen, um die Wahrheit zu erkennen, aber wenn es sich um einen schwächeren Verbannten handelte, so wie diesen, dann funktionierte es umgekehrt. Ein leichter Nebel meiner Kraft stieg in den nächtlichen Himmel auf, das violette Schimmern wurde rasch von der Dunkelheit absorbiert und ermöglichte mir, die Blendung zu sehen, die er benutzte.

Was jeden normalen Menschen betraf, so war der Verbannte lediglich ein gut gekleideter Typ, der mit einer Frau durch den Park schlenderte, als würden sie einen mitternächtlichen Spaziergang machen. Ich schloss die Augen und öffnete sie wieder, um die Realität zu sehen. Er hatte sie an den Haaren gepackt und zerrte sie hinter sich her, wobei sie sich am Boden festkrallte und um Hilfe schrie.

In wenigen Minuten wird sie tot sein.

Besorgt tastete ich nach meinem Dolch. Die einzige Möglichkeit, den Verbannten wegzulocken, bestand darin, ihm etwas Besseres zum Spielen zu geben. Ich hatte nicht direkt geplant, heute Nacht noch loszuziehen. Aber was soll’s.

Ich trat aus dem Schutz der Bäume heraus und spürte ihn sofort. Ich erstarrte und biss mir auf die Lippe, als ich meinen Fehler erkannte. Ich hatte mich von dem Verbannten ablenken lassen und nicht wahrgenommen, dass er sich genähert hatte. Jetzt überkam mich seine Nähe, ließ mich erstarren und gab mir gleichzeitig das Gefühl, ich wäre ein Wackelpudding.

Ich glaube, der ursprüngliche Plan wird trotzdem funktionieren.

»Du solltest nicht hier sein«, sagte Lincoln. Seine Stimme war leise und rau. Ich konnte nicht verhindern, dass sie in meinem ganzen Körper vibrierte und mich unglaublich reizte.

Ich drehte mich nicht um. Ich musste den Verbannten im Auge behalten, der mich noch immer nicht wahrgenommen hatte. Und es war leichter, ihn nicht anzusehen.

»Das sagt genau der Richtige«, erwiderte ich leise. »Schläfst du überhaupt noch?«

Der Verbannte stieß die Frau an einen Baum und sie fiel zu Boden.

»Ich halte mich nur fit«, sagte er.

»Das habe ich gehört.«

Er seufzte und sagte dann leise etwas Böses, das Spence’ Namen enthielt.

»Gib nicht Spence die Schuld«, sagte ich.

»Tu ich auch nicht«, sagte er. Ich war mir nicht ganz sicher, was er damit meinte. Vielleicht gab er ja mir die Schuld. Er erfasste die Situation vor uns und sagte: »Sie ist von Schatten bedeckt. Er jagt sie schon seit langem.« Jetzt war er wütend.

Lincoln war ein Schattenfinder. Er konnte die Male sehen, von denen Menschen gezeichnet waren, nachdem Verbannte in ihre Gedanken eingedrungen waren. Die Rückstände. Aus diesem Grund gehörte er zu den Besten, wenn es darum ging, Verbannte zu verfolgen. Wenn man die Menschen mit den Schatten fand, konnte man darauf wetten, dass man kurz danach Verbannte aufstöberte. Aber das hatte seinen Preis – er trug die Last, die das Wissen um die Schmerzen des Opfers mit sich brachte.

Der Verbannte beugte sich über die Frau, gleich würde er sie schlagen. Plötzlich kam mir Claudia in den Sinn, ich erinnerte ich daran, wie schutzlos meine ehemalige Mitschülerin gewesen war, als ein Verbannter sie angriff und ermordete.

Jetzt oder nie.

Ich ließ meine Schutzbarrieren fallen.

»Violet!«, knurrte Lincoln, der nicht glücklich war über meine Entscheidung.

Das war mir egal, ich war nicht bereit zuzulassen, dass diese Frau verletzt wurde, und er genauso wenig. Ich war nur schneller gewesen.

Der Verbannte fuhr hoch wie ein Hund, der einen Knochen gewittert hatte. Er wandte sich um, sein Interesse an seinem Opfer war vollkommen erloschen. Er stürzte auf mich zu, während sein Opfer eilig davonkroch.

Kluge Frau.

Der Verbannte, der groß war wie die meisten von ihnen, trat in den Lichtschein der Straße hinaus. Er war auffallend gut aussehend, auch das waren sie meistens. Er trug einen gut sitzenden Anzug, hatte perfekt gestylte Haare und sah wie ein moderner metrosexueller Mann aus. Es war leicht zu erkennen, wie er diese arme Frau in seine Fänge gelockt hatte.

Er zögerte, weil er meine Macht spürte.

»Was? Brauchst du erst noch eine Einladung?«, fragte ich und klang dabei so zornig, wie ich tatsächlich war.

Dass diese Art von Macht zu haben nicht bedeutete, dass sie davonliefen und sich vor mir versteckten, war eine Schande. Nein, stattdessen sprang er mit irrsinniger Geschwindigkeit in schwindelerregende Höhe und kam mit absolut bösartiger Entschlossenheit – anders konnte man das nicht ausdrücken – direkt auf mich zu.

Ich wich ihm gerade rechtzeitig aus und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, noch bevor er mit beiden Füßen wieder auf dem Boden landete. Natürlich hielt ihn das nicht auf. Er wirbelte herum und peilte das offensichtliche Ziel an – meinen Hals. Ich ließ ihn – ich war im Vorteil, wenn er nur eine Hand frei hatte –, dann stieß ich ihm schnell das Knie in den Schritt. In diesem Bruchteil einer Sekunde, als sein Kopf sank und sich sein Griff um meinen Hals lockerte, schlug ich ihm mit Schwung die flache Hand auf die Nase – präzise und wirkungsvoll. Ich hatte ihn.

»Entscheide dich«, forderte ich ihn auf, ich hielt meinen Dolch, der sanft in meine Hand geglitten war.

Er taumelte nach hinten und lachte. »Ich weiß, wer du bist.«

»Gut, dann weißt du auch, dass du dich schnell entscheiden musst«, sagte ich und machte mich bereit.

Sie entscheiden sich nie für das Menschsein. Keiner von ihnen glaubte, dass sie wirklich geschlagen werden konnten, narzisstisch wie sie waren. Und selbst wenn sie es glaubten, konnten sie nicht ohne die Macht leben, die ihr Status als Verbannte mit sich brachte.

Er spuckte auf den Boden. Blut. Ich betrachtete es als Kompliment. Es brauchte einiges, um einen Verbannten zum Bluten zu bringen. Ich hatte ihm die Nase wahrscheinlich geradewegs in die Kehle geschmettert.

»Du bist Phoenix’ Hure«, sagte er und lachte wieder.

Ich schreckte schockiert zurück. Ein Teil von mir wollte weglaufen und sich verstecken, ein anderer wollte dafür sorgen, dass sich seine Nase auf den Weg zu seinem Magen machte. Lincoln legte mir die Hand auf die Schulter.

»Violet?«

»Es ist nur eine Frage der Zeit. Wir sind zahlreicher, als ihr euch träumen lasst. Nicht mehr lange, und ihr Grigori gehört der Vergangenheit an!«

Ich nickte nur und beobachtete mit glasigen Augen, wie sich Lincoln, der mir rücksichtsvoll den Vortritt gelassen hatte, rasch vorwärts bewegte – von seiner Verletzung keine Spur –, dem Verbannten gegen den Kopf trat und das Ganze zu Ende brachte, indem er seinen Dolch in dessen Brust stieß. Und damit war der Verbannte weg, verschwunden.

»Nicht vor euch«, sagte Lincoln.

Aber Worte bleiben.

»Gehörte er zu Phoenix’ Leuten?«, fragte ich, wobei ich noch immer auf die Stelle blickte, an der der Verbannte gestanden hatte. Wenn Phoenix ihn geschickt hatte, um mich anzugreifen, hätte er nicht durch diese Frau abgelenkt werden sollen.

Lincoln nickte. »Phoenix hat nicht so viel Kontrolle, wie er dich glauben machen will. Viele werden ihm niemals folgen, egal was sie ihm versprechen und egal aus welchen Gründen.« Er kam auf mich zu, und plötzlich war ich in der Defensive.

»Du kannst mich nicht vierundzwanzig Stunden am Tag sieben Tage die Woche beschützen!«, sagte ich und benutzte meinen Zorn, um alles andere zu verbergen.

Eine Zeitlang erwiderte er nichts. Schließlich machte er einen weiteren Schritt auf mich zu. Näher, als gut war.

»Violet«, begann er leise. »Alles in Ordnung?«

»Ob alles in Ordnung ist?«, wiederholte ich kopfschüttelnd. Ich machte den letzten Schritt, um den Abstand zu schließen, und er zuckte zusammen, als wollte er zurückweichen.

Einfach perfekt.

Ich legte meine Hand auf seine Brust und ließ meine Kraft von mir zu ihm fließen. Sie wäre fast aus mir herausgaloppiert, so froh war sie, ihn zu finden. Sein körperlicher Widerstand ließ etwas nach, er schmiegte sich an meine Hand und seine Brust hob sich. Seine Hand wanderte instinktiv zu meinem Arm und gab diesen Gefallen zurück. Ich spürte den warmen Honig seiner Kraft durch mich hindurch sickern und strengte mich an, mich davon abzuhalten, vor Erleichterung aufzuschreien.

Dumme Kräfte, sie verraten mich.

»Du solltest nicht allein auf die Jagd gehen«, sagte ich, meine Stimme war voller Verlangen, meine Hand ruhte noch immer auf seiner Brust. Ich spürte seinen Atem, seine festen Muskeln bewegten sich auf und ab, jeder Atemzug wurde tiefer und immer, wenn er einatmete, folgte am Ende ein leichtes Erschauern. Ich konnte meine Augen nicht daran hindern, über seinen perfekten Oberkörper zu wandern, die Konturen, die durch seinen schwarzen Baumwollpulli hindurch zu sehen waren.

»Genau wie du«, sagte er und klang so, als würde er genau dasselbe empfinden wie ich. Seine Hand lag noch immer auf meinem Arm und schickte züngelnde Flammen durch meinen Körper.

Ich ließ meine Hand herunterfallen, weil ich mich vor dem fürchtete, was ich tun würde, wenn ich sie auch nur einen Augenblick länger dort ließe.

»Ich wusste, dass du irgendwo hier draußen bist«, sagte ich zu meiner Verteidigung. »Ich bin nicht bereit, dich jede Nacht rausgehen zu lassen wie einen einsamen Rächer, nur um mich zu beschützen.«

Lincoln ließ ebenfalls seine Hand fallen und trat einen kleinen Schritt zurück, bevor er wieder Spence’ Namen knurrte. Ich spürte, wie seine Kraft wieder zunahm, Honig und Sahne, die einzigartig an ihm waren und in denen der berauschende Duft des frühen Morgens eines heißen Tages lag. Ich wusste nicht, was diese Kraft zu so großer Anstrengung antrieb, aber bevor ich mich danach erkundigen konnte, stellte er mir selbst eine Frage.

»Was wollte Phoenix?«, fragte er leise.

Ich hätte wissen müssen, dass er uns gesehen hatte. Dass er mir gefolgt war und den verborgenen Beschützer spielte.

»Er hat das Brighton-Gebäude, wir haben das Maddox.«

Er nickte und blickte an mir vorbei. »Noch etwas?«

Unbehaglich zuckte ich die Schulter.

Er erstarrte. »Er kommt immer noch an dich heran, nicht wahr?«

Ich hatte Lincoln nie voll und ganz erklärt, wie sehr mich Phoenix’ Kraft beeinflusste, aber ich hatte den Verdacht, dass er eine ziemlich gute Vorstellung davon hatte.

»Ich kann damit umgehen. Wir haben keine andere Wahl, oder?« Das war die Bedingung für die Verhandlungen. Wir hatten die Schrift der Verbannten, Phoenix hatte die Grigori-Schrift, und die einzige Möglichkeit, dass er sich auf den Handel einließ, bestand darin, dass ich mit ihm verhandelte. Nur ich. Das war boshaft von ihm, aber wir wussten alle, dass er mich nicht umbringen würde, solange er die Schrift der Verbannten noch nicht in seinem Besitz hatte.

Das würde er erst danach tun.

Deshalb würde es morgen Abend auch so gefährlich werden.

Lincoln beobachtete mich.

»Fragst du dich, ob ich daran zerbreche?«, fragte ich bitter, aber gleichzeitig auch prüfend.

»Nein, ich weiß nur, dass es da etwas gibt, was du mir nicht sagst. Und ich frage mich, was dich dazu gebracht hat, ihn zu schlagen.«

Ich hasste, dass er mich so gut kannte, dass er mich wie kein anderer durchschaute. Ich glaubte jetzt, dass es einen Sinn ergab, weshalb er vor allen anderen diese Fähigkeit hatte – ich wünschte, das wäre der einzige Nebeneffekt, wenn man seelenverwandt war. Ich überlegte, ob ich ihm sagen sollte, was ich herausgefunden hatte – dass Phoenix dafür gesorgt hatte, dass Rudyard umgebracht wurde, damit wir Zeugen davon werden würden, was mit Nyla geschah – aber das hätte ihn nur verletzt und noch wütender gemacht.

»Nichts«, sagte ich.

»Wenn du das sagst«, sagte er, wobei er mich noch immer genau im Auge behielt. »Ich weiß, du würdest es mir sagen, wenn du denken würdest, dass ich es wissen muss. Und … Was dieser Verbannte über Phoenix und dich gesagt hat …« Er seufzte frustriert, und ich fragte mich, ob es meinetwegen war, aber dann überraschte er uns beide, indem er den Arm ausstreckte und mit den Fingern über meine Stirn am Rand meiner Mütze entlangstrich.

»Es ist nicht wahr.«

Ich nickte, mein Herz klopfte bei seiner Berührung, aber er ließ seine Hand sinken, als seine Kraft wieder aufflammte und noch mehr seidigen Honig schickte.

»Soll ich dich nach Hause begleiten?«, fragte er, ohne sich aufzudrängen.

Am liebsten wäre ich in Tränen ausgebrochen. Es war schon schlimm genug, wenn man Hure genannt wurde, aber als die Hure von jemandem bezeichnet zu werden, der Leute umbrachte, die einem am Herzen lagen – und das auch noch in Gegenwart der einen Person, von der man am meisten fürchtete, sie könnte so von einem denken …

»Ich würde lieber allein gehen, ich muss ja nur die Straße runter«, sagte ich, während ich darum kämpfte, die Beherrschung zu behalten, bis ich weg von ihm war.

Er nickte. »Ich sollte ohnehin mal zurückgehen und nachschauen, ob die Frau gut entkommen ist.«

Ich wollte gerade gehen, als mir etwas einfiel. »Linc, du hast mich heute gespürt, nicht wahr?«

Er war gerade dabei, sich umzudrehen, und hielt mitten in der Bewegung inne. »Als du dich verletzt hast? Ja.«

»Nein, das meine ich nicht. Ich meine, du hast gespürt, dass ich darauf reagiert habe, als würden wir uns gegenseitig nicht nur bemerken, sondern eher so, als würden wir kommunizieren.«

Er dachte einen Augenblick darüber nach. »Ja …«, sagte er unbehaglich.

Soweit ich wusste, hatte er das bisher nicht gekonnt. Nichts davon.

»Seit wann?«, wollte ich wissen.

Er zögerte wieder, bevor er antwortete. Mehr Honig kam in Bewegung. Warum schöpfte er so viel Kraft?

»Seit heute.«