Kapitel Neunzehn
»Abschied zu nehmen, wenn man stirbt, ist ein kleineres Übel, als Abschied nehmen zu müssen und weiterzuleben; darin liegt die wahre Qual.«
George Lansdowne
Ich ließ mich von der Bewegung des Flugzeugs einlullen und döste ein. Lincoln saß still neben mir.
Schließlich wachte ich durch das Geräusch von Stimmen auf.
»Oh, mach dich mal locker, du bewachst sie schon seit Stunden. Wenn sie wüsste, dass du sie nicht mit uns reden lässt, würde sie dir eine knallen«, sagte Steph genervt.
Ich hielt die Augen geschlossen, lauschte Lincolns Lachen und unterdrückte das Bedürfnis, die Augen aufzuschlagen.
Mein ganz persönlicher Bodyguard.
»Wahrscheinlich«, sagte er.
»Sie ist meine beste Freundin, weißt du? Ich könnte sie einfach so lange anschreien, bis sie aufwacht.«
»Du könntest es ja mal versuchen«, sagte Lincoln, und seinem Tonfall nach konnte ich mir seinen herausfordernden Blick vorstellen.
Steph gab ein schnaubendes Geräusch von sich. »Wir landen sowieso bald.« Ich hörte sogar, wie sie ihr Haar nach hinten warf. »Und glaub bloß nicht, dass ich nicht merke, wie du sie die ganze Zeit rehäugig angaffst.«
Lincoln sagte nichts weiter, aber er musste irgendetwas gemacht haben, denn ich hörte, wie sich Steph eilig entfernte und mit schriller Stimme »ich geh ja schon, ich geh ja schon« rief.
Ich wartete, bis ich hörte, wie sie mit den anderen plauderte.
»Das war gemein«, sagte ich und schlug die Augen auf.
Er warf mir einen Blick zu, sah dann aber schnell weg. »Du brauchtest Ruhe.«
»Landen wir jetzt?« Ich spürte, wie das Flugzeug an Höhe verlor.
»Es muss aufgetankt werden.«
Ich setzte mich eilig auf und schaute aus dem Fenster. »Auf dem Ozean?«
Lincoln lachte und beugte sich über mich, schlang mir den Arm um den Körper und drückte seine Brust an meinen Rücken. Er zeigte aus dem Fenster auf ein riesiges Schiff. Es sah aus wie ein Schiff der Marine, oben ganz flach, und als wir näher kamen, entdeckte ich, dass darauf Hubschrauber und andere kleine Flugzeuge aufgereiht waren. Ich konnte nicht sprechen und Lincoln sagte auch nichts, als hätte er ohne nachzudenken gehandelt, und jetzt berührten wir uns und waren uns so nah, dass keiner von uns wusste, was er tun sollte.
Das Brennen, das immer kam, wenn wir einander nahe waren, kam einem Fieberanfall gleich und ich rang nach Atem. Mein Herz schlug so schnell, dass ich die Möglichkeit eines Herzinfarkts in Betracht zog. Das war nicht ich, das war kein dummes Verknalltsein, das war nicht einmal Liebe. Es war mehr – viel, viel mehr. Es übertraf alles, was er und ich je allein sein konnten, und zeigte, was wir gemeinsam waren. Meine Seele schrie nach ihm, verlangte nach seiner.
Und ich will sie hingeben. Oh, so sehr.
Lincoln rückte näher, sein Körper bebte, und ich konnte nicht anders, als mich zurückzulehnen, mich in seine Arme sinken zu lassen.
Ich muss mich umdrehen. Ich muss ihn küssen. Ich muss…
Ich bewegte mich, wollte mich umdrehen, aber seine Arme, die jetzt angespannt waren, hielten mich an Ort und Stelle. Er sprach mir direkt ins Ohr.
Ich kann ihn riechen. Sonnenschein und Honig.
»Zieh deine Schutzmauern hoch.«
Ich wusste, was er meinte, aber ich atmete noch einmal tief ein.
Mmm … mehr Honig.
»Rieche oder schmecke ich für dich nach irgendetwas?«, murmelte ich.
»Was meinst du damit?«, fragte er, aber mir war klar, dass er genau wusste, was ich meinte.
»Du riechst nach heißen Tagen am Strand, nach Sonne – als wärst du die Sonne. Und du riechst süß wie Honig, wenn du deine Kraft einsetzt, wie cremiger Honig, der auf einem Toast schmilzt – ich kann es schmecken.«
Er zögerte, seine Finger streichelten meinen Arm und sandten Schauer durch meinen Körper. Aber er fasste sich wieder und räusperte sich. »Violet, zieh deine Schutzmauern nach oben.«
»Du wirst es mir nicht sagen, oder?«
»Das ist nicht das, was du gerade von mir brauchst. Zieh deinen Schutz hoch, vertrau mir.«
Ich wollte widersprechen, mich gegen seinen Griff wehren, damit ich mich zu ihm umdrehen konnte, aber wenn mich dieser Mann darum bat, ihm zu vertrauen – was sollte ich da sonst machen? Ich aktivierte meine Schutzfunktionen.
Es war das, was ich tat, um Phoenix in Schach zu halten, nur anders. Phoenix Kraft sickerte wie Gift in mich hinein. Wenn ich meine Kraft einsetzte, um Lincoln zu blockieren, war es, als würde ich die Fenster zumauern und die Türen verbarrikadieren. Es war harte Arbeit und … es fühlte sich falsch an.
Ich sperre die Sonne aus.
Jede Faser meines Daseins, meiner Seele, flehte mich an, sagte mir, dass das falsch war, dass es einen anderen Weg geben müsste. Aber ich kannte ihn nicht und er auch nicht, deshalb zwang ich meine Schutzmauern nach oben und drückte die Sonne weg.
Nach ein paar Minuten nahm ich wieder meine Umgebung wahr, hörte das Surren der Klimaanlage und Stimmengewirr hinter uns. Lincolns Griff lockerte sich, und als ich mich nicht rührte, ließ er mich langsam los und rutschte zurück auf seinen Platz.
»Tut mir leid, Vi«, sagte er so leise, dass ich es fast nicht gehört hätte.
»Mir auch.« Ich schlang meine Arme um mich und rieb sie, wodurch ich versuchte, mich an die einsame Kälte zu gewöhnen, die in mir emporkroch.
Er nickte. »Auf dem nächsten Flug werde ich neben Spence sitzen.«
Ich nahm einen beruhigenden Atemzug und versuchte zu sprechen, ohne dass meine Stimme zitterte. »Wie lange setzt du deine Kraft schon gegen mich ein?«
»Seit der Nacht im Park, als du diesen Verbannten gejagt hast. Ich … Als wir uns gegenseitig heilten, hatte ich das Gefühl, ich könnte meine Beine nicht mehr dazu bringen, mich wegzubewegen. Ich schöpfte aus meiner Kraft, ohne genau zu wissen, was ich da tat, bis ich diese Mauer zwischen uns errichtet hatte.«
Ich nickte. »Das ist gut.«
Und schrecklich zugleich.
Griffin, Nathan und Becca waren die Einzigen, die während der Zwischenlandung das Flugzeug verließen. Auf sie wartete ein anderer Jet, der sie direkt nach Athen bringen sollte.
Bevor Griffin von Bord ging, rief er Lincoln und mich nach hinten zu sich und Josephine. Lincoln blieb dicht bei mir, aber nicht zu dicht, und wir taten unser Bestes, uns so normal wie möglich zu verhalten.
Josephine beobachtete uns mit einem Flackern in den Augen, als wüsste sie genau, wie schwierig es für uns war, einander nah zu sein, als würde sie das auf gewisse Weise genießen.
»Josephine, ich habe allen erklärt, dass du die Operation leiten wirst, solange ich in Athen bin.«
»Und wenn du zu uns nach Santorin kommst«, sagte sie liebenswürdig.
Griffin nickte. »Natürlich.«
Ja, klar. Sobald Griffin zurück ist, gibt es nur noch eine Person, von der irgendeiner von uns Befehle entgegennimmt.
»Wir sollten in ein paar Tagen nachkommen, aber hoffentlich kann ich die Unterstützung der griechischen Grigori gewinnen und ein paar Soldaten für unsere Sache akquirieren.«
»Ich bin überaus zuversichtlich, dass du jede Menge davon für uns gewinnen wirst, mein Freund«, sagte Josephine.
Griffin lächelte. »Danke – und in meiner Abwesenheit würde ich darum bitten, dass Lincoln an meiner Stelle als Sprecher meiner Grigori und auch vor dem Rat fungieren darf.« Doch das sagte er ebenso zu mir wie zu Josephine. Fragte er mich, ob ich Lincoln als Anführer akzeptieren würde?
»Soso, Lincoln – du hast es weit gebracht«, sagte Josephine abfällig, als würde sie etwas ganz anderes meinen, aber dann fügte sie rasch hinzu: »Ich freue mich darauf, deinen Rat zu hören.«
»Danke«, sagte Lincoln.
Griffin küsste Josephine auf die Wange, schüttelte Lincoln die Hand und umarmte mich, wobei er sich so positionierte, dass er mir ein unbemerktes »Sei vorsichtig!« zuflüstern konnte.
Ich setzte mich wieder auf meinen Platz, und nachdem Lincoln Griffin aus dem Flugzeug begleitet hatte – ich nehme an, um letzte Anweisungen entgegenzunehmen –, blieb er weg und setzte sich zu Samuel und Kaitlin. Sobald wir nach dem Auftanken wieder in der Luft waren, quetschte ich mich neben Spence und wir spielten die nächsten paar Stunden lang »Arschloch«, unser Lieblingskartenspiel. Nach der ersten Runde verbot Zoe Salvatore, weiter mitzuspielen. Wegen unfairem Vorteil.
Schließlich kam Spence dahinter, weshalb Steph dauernd gewann, er nahm ihr ebenfalls ihr Blatt ab und zählte die Karten. Das war ihr egal – glücklich rutschte sie auf den anderen Sitz und schmiegte sich an Salvatore.
»Also, wie habt ihr es geschafft, aus der Akademie wegzukommen?«, fragte ich Zoe, nachdem ich mich umgeschaut hatte, um mich zu vergewissern, dass wir ungestört waren.
Zoe stellte einen Fuß auf den Sitz vor ihr und warf sich ein paar M&Ms ein – ihre Lieblingssüßigkeit. »Wie sich herausgestellt hat, ist es ganz praktisch, einen Lügendetektor auf einer Mission mit dabeizuhaben. Was der Junge alles herausfinden kann, wenn er sich konzentriert. Sagen wir mal, es war ein Fehler, ihm zu sagen, dass die Prüfung unseres Falls auf unbestimmte Zeit verschoben wurde. Romeo hier entwickelte eine völlig verruchte Entschlossenheit.«
»Mr Carven?«, fragte Spence
Zoe lächelte. »Meine Lippen sind versiegelt. Aber … wenn es tatsächlich etwas mit Carven zu tun hätte, dann wäre wohl auch Ms Trindle darin verwickelt.«
»Oh!« Er verzog das Gesicht und lachte. »Das wird mir jetzt wochenlang Albträume bereiten.« Er senkte die Stimme und wandte sich an mich. »Glaub mir, du willst gar nicht, dass ich dir das erkläre.«
»Schon gut – ich glaube, ich habe genug gehört. Also, wie lange könnt ihr bleiben?«
Zoe ließ sich in ihrem Sitz zusammensacken und schlug einen Trommelwirbel auf ihren Oberschenkeln. »Wenn wir Sal darauf ansetzen? Ich würde sagen, dann gilt unser Rückflugticket unbegrenzt.«
Ich lächelte und blickte hinüber zu Steph und Sal. Beide strahlten. Steph zeigte ihm gerade die Übersetzung und redete leise aber angeregt auf ihn ein, um ihn auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen. »Ihr habt euch also …?«
Zoe zuckte mit den Schultern. »Seit Jordanien … Du weißt schon.« Sie fing an, an ihren Fingernägeln herumzupulen. »Wir sind Partner. Eines Tages werde ich ihn verstehen, und bis dahin kümmern wir uns um die Dinge, die wichtig sind, zum Beispiel, dass wir uns gegenseitig Rückendeckung geben.«
Nyla hatte recht gehabt.
Sie hatte immer gesagt, sie würden sich schon noch zusammenraufen. Ich erinnerte mich an das letzte Mal, als ich sie gesehen hatte. Hohl – als ob ihre Seele überhaupt nicht mehr in ihr wäre, als wäre sie für immer verloren.
»Habt ihr Nyla gesehen?«
Spence wurde totenstill neben mir. Ich wusste, das war für ihn das Schwierigste gewesen, als er beschloss, nicht zurückzukehren. Er liebte Nyla. Sie und Rudy waren das für ihn, was einer Familie am nächsten kam.
»Unverändert«, sagte Zoe.
Wir beließen es dabei und spielten weiter »Arschloch«. Das heißt, bis wir dahinterkamen, dass Spence die Hälfte seiner Karten mit einer Blendung versehen hatte.