Kapitel Sechzehn
»Gebt dem Herrn, eurem Gott, die Ehre, ehe es finster wird und ehe eure Füße sich an den dunklen Bergen stoßen und ihr auf das Licht wartet, während er es doch finster und dunkel machen wird.«
Jeremia 13, 16
In den folgenden drei Tagen kam ich besser klar. Teilweise wegen Lincolns Worten und teilweise, weil ich Hausarrest hatte, was bedeutete, dass ich nicht mehr jeden Abend draußen war, um zu jagen. Stattdessen holte ich zum ersten Mal seit langem meine Farben heraus, und mir wurde klar, wie sehr ich das Malen vermisst hatte.
Dad hatte mir – vermutlich aus Gewissensbissen – neue Pinsel gekauft und sie mir ins Atelier gelegt. Das Seltsame war – alles, was ich malte, schien auf die eine oder andere Weise einen Regenbogen darzustellen. Erst als ich drei Leinwände bemalt hatte und vor ihnen stand, erkannte ich das nervtötende Muster.
Griffin hatte recht. Es gab noch so vieles, was wir nicht über meine Fähigkeiten wussten. Die Verbannten nannten mich Regenbogen, aber was hatte das zu bedeuten? Der Regenbogen stellte eine Verbindung zwischen den Reichen dar. Doch was das für mich hieß, war noch immer ein Rätsel, und ich war nicht gerade erpicht darauf, mich nach einem Gewitter in einen Zauberbogen zu verwandeln.
Ich hatte mich an Lincolns Anweisungen gehalten und es in den letzten paar Nächten sogar geschafft, ein paar Stunden Schlaf zu finden. Ich aß einigermaßen regelmäßig und trainierte noch immer hart, aber wenn es sein musste, ruhte ich mich auch aus. Ich merkte bereits den Unterschied. Mein Kopf war klarer und ich fühlte mich in jeder Hinsicht stärker.
Es war Mittwoch, und Wochentage hatten sich als schwierig herausgestellt, da ich direkt von der Schule nach Hause kommen sollte, aber ich hatte es ein paarmal geschafft, auf dem Nachhauseweg zusammen mit Steph kurz im Hades vorbeizuschauen, um mehr Recherchematerial zu holen und nach Dapper zu sehen … und Onyx.
Griffin hatte noch immer rund um die Uhr Grigori im Hades postiert. Offiziell wegen der Sicherheit. Inoffiziell, um ein Auge auf Onyx zu haben. Bisher hatte es noch nichts Auffälliges gegeben, aber Onyx hatte mich beiseitegenommen und gesagt, dass er mit mir sprechen wollte. Ich hatte versprochen, am nächsten Morgen wiederzukommen, was bedeutete, dass ich morgen die Hausarrestregeln brechen müsste und die Schule schwänzen würde.
Ach, na ja, »zum Wohle aller« und so weiter.
Steph hatte ein paar Nachmittage bei mir verbracht – wie heute auch – und an manchen Tagen hatte sie mit Dapper an der Übersetzung gearbeitet. Dapper schien bereitwilliger denn je, sein Wissen zu teilen. Ich hatte es aufgegeben, dabei helfen zu wollen – Steph kam nicht wegen meiner Fähigkeiten, Codes zu knacken, sie mochte nur lieber bei uns arbeiten anstatt bei sich zu Hause. Soweit ich wusste, hatte sie seit Tagen nicht mehr mit ihrer Mutter gesprochen, und das Letzte, was sie von ihrem Vater gehört hatte, war, dass er nicht vorhatte, demnächst nach Hause zurückzukommen. Steph hatte die ganze Zeit an dem Code der Schrift gearbeitet und versucht zu entschlüsseln, was das alles bedeutete.
Ich gab die Arbeit an meiner Leinwand auf und ging zurück in mein Zimmer, wo sich Steph auf dem Boden ausgebreitet hatte. Den dunklen Ringen unter ihren Augen nach zu urteilen und der Tatsache, dass sie fast so viel Kaffee trank wie ich, hatte sie in letzter Zeit wohl nicht viel Schlaf bekommen.
»Hast du etwas von Salvatore gehört?«, fragte ich von der Tür aus.
»Vor ein paar Tagen. Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass er und Zoe irgendeinen verrückten Plan schmiedeten.« Sie warf ihren Stift weg. »Wahrscheinlich kommt er nie mehr zurück.«
Ich ließ mich neben ihr zu Boden gleiten und zog sie in eine Umarmung. »Doch, das wird er. Und wenn er keinen Weg findet, wie er hierher zurückkehren kann, dann finden wir einen.« Und das meinte ich von ganzem Herzen. Momentan war meine einzige Meinung zum Thema Akademie: Die können sich ihre dummen Regeln sonst wohin schieben!
Steph umarmte mich fest, dann löste sie sich von mir und nahm ihren Stift und ihre leere Tasse.
»Kaffee?«, fragte sie lächelnd. »Ich bin kurz davor, es herauszukriegen, das schwöre ich.«
Ich verdrehte die Augen und schnappte mir die Tasse. Wenn irgendjemand kurz vor einem Durchbruch stand, dann war es Steph, aber das sagte sie mir schon seit Tagen und ich hatte die Nase voll davon, ihre Kellnerin zu spielen.
Als ich auf dem Weg in die Küche war, klopfte es an der Tür. Ich machte auf und Jase stand – lässig in den Türrahmen gelehnt – vor mir. Er hatte Jeans und ein blau gemustertes Hemd an. Der lässige DJ-Look stand ihm wirklich gut. Er war normal groß, nur ein wenig größer als ich, und ziemlich gut gebaut, sodass er – obwohl er nicht trainierte – alles andere als schmächtig wirkte. Das Beste an ihm war sein Haar. Es hatte das gleiche Blond wie Stephs, und zusammen mit den blauen Augen und den dunkleren Augenbrauen sah es einfach umwerfend aus.
»Hey, Jase«, sagte ich lächelnd.
»Hi. Ist Steph fertig?«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie ist gerade mitten in irgendeine Sache vertieft. Sie hat mich um einen Kaffee gebeten. Hast du es eilig?« Wenn Steph tatsächlich kurz vor einem Durchbruch stand, dann wollte ich ihr noch ein paar Minuten Zeit geben.
Jase zuckte mit den Schultern und betrat die Wohnung. »Ich habe ein wenig Zeit. Aber nur, wenn du mir auch einen Kaffee machst.« Er warf mir ein unbeschwertes Lächeln zu, ging geradewegs in die Küche und nahm an der Küchentheke Platz. »Wie läuft die Schule?«
Ich fing an, Kaffee zu kochen.
»Gut. Fast fertig. Die letzten Prüfungen sind nächsten Monat und dann mache ich den Fenton-Kurs.«
»Nach allem, was man so hört, ist dieser Fenton-Kurs ziemlich exklusiv – du musst wirklich talentiert sein.«
Ich zuckte verlegen mit den Schultern.
»Ich nehme an, du bist froh, wenn du die Schule hinter dir hast. Was für Pläne hast du für danach? Uni?«
Seine Frage brachte mich vollkommen durcheinander. Ich hatte aufgehört, über meine Zukunft nachzudenken. Auch wenn Dad neulich ewig darauf herumgeritten hatte – ich hatte es einfach ausgeblendet. Jase musste meinen Gesichtsausdruck gesehen haben.
»Hey, kein Stress. Das soll keine Fangfrage sein. Viele Leute nehmen sich nach der Schule ein wenig Zeit, um herauszufinden, was sie tun wollen.«
»Ist es das, was du im Moment machst?«
»Vielleicht«, sagte er und lächelte wieder.
Dann sagte er nichts mehr, bis der Kaffee fertig war. Ich reichte ihm einen Latte und hoffte, dass er seinen Kaffee mit Milch trank.
Er nahm einen Schluck.
»Nun, Steph hat erwähnt, dass euer Abschlussball nächsten Monat stattfindet.«
»Ja.« Ich hatte nicht vor, hinzugehen.
»Sie ist immer noch ganz verrückt nach diesem Typen, der vor ein paar Monaten hier war. Irgendein Austauschschüler oder so …«
Offensichtlich war das Stephs Geschichte, wenn es darum ging zu erklären, wer Salvatore war. Ich nickte.
»Jedenfalls …« Er nahm einen weiteren Schluck. »Es wäre doch schade, wenn sie nicht auf den Ball gehen würde. Du weißt doch, wie sie ist. Sie würde es wahrscheinlich nur bereuen.«
»Wahrscheinlich.«
Steph träumte schon seit ich sie kenne von unserem Abschlussball. Sie hatte für dieses Ereignis ungefähr vier Kleider am Start.
»Deshalb habe ich darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn wir zu dritt dorthin gehen könnten«, schlug Jase vor, wobei sein Blick hin und her huschte. »Es sei denn, du gehst schon mit jemand anderem.«
Ah …
Warum kam es mir so vor, als würde er mich um mehr bitten als nur um Hilfe wegen Steph? Ich wollte antworten, irgendetwas sagen, aber mir fiel absolut nichts ein.
»Also?«, fragte Jase.
Ah …
»Wie?«, erwiderte ich schließlich und tat, als wäre ich verwirrt, ich wollte Zeit gewinnen.
»Gehst du schon mit jemand anderem?«, wiederholte Jase.
»Oh.«
Ah …
»Nein. Ich meine … ich wollte eigentlich gar nicht hingehen.« Ich blickte nach unten und schnappte mir Stephs Kaffee. »Ich sollte …« Ich schlurfte in Richtung Flur und deutete auf mein Zimmer. »Ich bringe … das hier mal Steph.«
Ich ging zu meinem Zimmer, stürzte hinein und zog rasch die Tür hinter mir zu. »Steph!«, flüsterte ich eindringlich. »Ich glaube, dein Bruder hat mich gerade gefragt, ob ich mit ihm zum Abschlussball gehe!«
Steph starrte auf ein Blatt Papier.
»Steph! Hilfe!«, sagte ich wieder, wobei ich versuchte, meine Stimme nicht zu erheben. »Es ist ernst!«
Sie blickte zu mir auf, und ich hätte fast den Kaffee fallen lassen, als ich ihr Gesicht sah.
»Ich habe es geschafft, Vi.« Sie hielt das Blatt Papier hoch.
Plötzlich spielte alles andere keine Rolle mehr. Ich stellte die Tasse auf dem Schreibtisch ab und setzte mich neben Steph. »Ist das noch ein Gedicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher.«
Ich nahm das Blatt Papier und las, was darauf stand.
Am südlichsten Punkt verbirgt eine Insel die Pforte.
Was einst die Heimat von Atlas und auch Kallisto,
Ist eine brodelnde Öffnung, die niemals mehr ruht.
Drei für das Wasser, um die Strömung zu locken,
Drei für das Feuer, um ihr Schicksal zu wecken,
Drei von der Hand der obersten Herrschaft,
Drei von der Hand eines Herzen von Mann,
Sechs auf den Grund, im Austausch für einen.
Ein Opfer aus Schmerz für den Fluss des Feuers
Und das Wogen des Wassers, um den Strom zu wiegen.
Einer kann herbeigelockt werden,
Wenn die Rechnung beglichen.
Der Obolus rot und die Klinge
Von der Hand des Verehrers
Mit nur schrecklichem Verlangen.
»Das klingt nicht gut.«
Steph sah ernst aus. »Na ja, wir wussten ja schon, dass es nicht die Schrift der Glückseligkeit ist.«
Wir saßen beide auf dem Boden und starrten auf die Prophezeiung, die wir nicht verstanden, bis es an der Tür klopfte.
»Steph, wenn ich dich nach Hause bringen soll, dann müssen wir jetzt los. Ich muss in einer Stunde arbeiten.« Jase klang ein wenig unsicher, wie er so aus dem Flur rief.
»Oh nein«, sagte ich und ließ den Kopf in meine Hände sinken.
Steph stand auf. »Vertrau mir, Süße. Du hast gerade größere Probleme als das. Sag ihm einfach, dass wir alle zusammen auf den Ball gehen, und wenn du tatsächlich noch am Leben sein solltest, wenn der Ball stattfindet, dann lassen wir uns etwas einfallen.«
»Steph!«
»Ich bin nur realistisch.«
Die Dinge standen alles andere als gut, und Stephs Bemerkung war vollkommen richtig, um nicht zu sagen verzweifelt. Aber sie stand an der Tür, die eine Hand auf der Hüfte, und etwas in mir machte »klick«. Steph muss sich ebenso gefühlt haben oder sie hatte meine Augen aufleuchten sehen, denn wir brachen beide gleichzeitig zusammen.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob wir lachten oder weinten. Vielleicht beides. Als wir wieder Luft bekamen, hielten wir uns die Bäuche, ich lag auf dem Boden und Steph war halb an der Wand zusammengebrochen.
Jase klopfte erneut. »Sollte ich fragen, ob da drin gerade jemand stirbt?«
Steph machte die Tür auf, während wir noch immer von den Nachbeben unseres Gelächters geschüttelt wurden.
»Sorry. Es ist nur … Violet kann so komisch sein.«
Jase sah mich an und steckte seine Hände in die Hosentaschen.
Verdammt.
Er dachte, ich lache über ihn.
»Ich … ich hoffe, du hast einen Smoking«, sagte ich verlegen.
Jase entspannte sich ein wenig und setzte wieder sein lässiges Lächeln auf.
»Natürlich.«
Immerhin war er Stephs Bruder und ein Morris. Formelle Anlässe gehörten in seiner Welt zum Alltag.
»Also …«, sagte Steph, die sich inzwischen auch beruhigt hatte. »Was willst du jetzt damit machen?« Sie hielt die Übersetzung hoch.
»Ich werde sie morgen mitnehmen«, sagte ich, wobei ich das nicht genauer ausführte. Steph wusste, dass ich die Schule schwänzen würde, und das wollte ich Jase nicht erklären müssen.
Sie sah mich scharf an. »Dann treffen wir uns morgen früh.«
Ich wollte widersprechen – sie hasste es, Unterricht zu verpassen, aber weil Jase dastand und eindeutig wusste, dass wir absichtlich in Rätseln sprachen, konnte ich wenig tun.
Ich lächelte unbehaglich. »Okay, dann bis morgen früh.«
Nachdem ich mich von Jase und Steph verabschiedet hatte, ließ ich mich auf das Sofa fallen. Etwa eine Stunde später verschwammen mir die Buchstaben vor den Augen. Ich hatte die Schrift Hunderte von Malen gelesen, konnte aber nur wenig Sinn darin erkennen.
Als ich die Tür hörte und Dad leise durch die Wohnung ging, war es schon spät. Zweifellos rückte bei ihm irgendeine Frist näher, die er einhalten musste.
»Ich dachte, du schläfst schon«, sagte er erschrocken, weil ich immer noch auf war und still im Wohnzimmer saß. Er ging zur Kaffeemaschine und schaltete sie ein.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Kommt nichts im Fernsehen?«
»Nein.« Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal einfach nur dagesessen und ferngesehen hatte.
Dad holte tief Luft und kam herüber, um sich gegenüber von mir an den Couchtisch zu setzen. »Ich weiß, dass dieses Hausarrest-Ding neu ist.«
Ich konzentrierte mich auf meine Hände, verschränkte die Finger ineinander und hoffte, dass Dad nicht irgendwelche tiefschürfenden Gespräche mit mir führen wollte.
»Was ist das?«
Ich blickte auf. Er hatte die Prophezeiung in der Hand und las sie.
»Oh. Gar nichts. Nur … nur eine Aufgabe aus dem Englischunterricht.«
»Hm.« Er las weiter, und ich setzte mich etwas auf, wobei ich das Bedürfnis unterdrückte, es ihm aus der Hand zu reißen.
»Dad, kann ich es wiederhaben?«
»Hm«, sagte er wieder, er studierte immer noch den Text. »Wer hat das geschrieben?«
»Ich … ich bin mir nicht sicher, ich kann mich nicht daran erinnern.«
»Es überrascht mich, dass sie euch so etwas an einer ›katholischen Schule‹ überhaupt zum Lesen geben.« Dad zog die Augenbrauen zusammen, während er die Worte in sich aufzusaugen schien. Er sah aus, als würde er sie … verstehen.
Ich klemmte mir ein paar Haarsträhnen hinter das Ohr und probierte es mit Lässigkeit. »Weißt du …, was es bedeutet?«
Dad grinste. »Willst du mich jetzt dazu bringen, deine Hausaufgaben zu machen?«
Ich spielte mit und lächelte verlegen. »Gedichte sind nicht gerade meine Stärke.«
»Deine Mutter hasste Gedichte.« Sein Lächeln gewann an Tiefe. »Aber mir haben sie immer Spaß gemacht. Lass mich mal sehen.« Er sah sich die Worte wieder an.
Ich drückte unter der Decke, in die ich mich gewickelt hatte, die Daumen.
»Okay«, sagte er schließlich. »Am südlichsten Punkt verbirgt eine Insel die Pforte – einst die Heimat von Atlas und auch Kallisto und so weiter. Das beschreibt einen Ort, der das Szenario festlegt. Wenn du das Wort Kallisto recherchierst, dann findest du vielleicht etwas.«
Aufmunternd nickte ich ihm zu.
»Eine brodelnde Öffnung, die niemals mehr ruht.« Dinge, die niemals ruhen, also niemals enden, sind Dinge, die für die Existenz wesentlich sind. Du weißt schon – Natur, Leben, Tod, Gut und Böse. So etwas in der Richtung, aber das Wort ›brodeln‹ ist normalerweise nicht positiv belegt, deshalb würde ich annehmen, dass diese Sache nichts Gutes ist.«
»Ja, das macht Sinn«, erwiderte ich und verschleierte die Bemerkung dann mit einem Lächeln.
»›Drei für das Wasser, um die Strömung zu locken, drei für das Feuer, um ihr Schicksal zu wecken, drei von der Hand der obersten Herrschaft, drei von der Hand eines Herzen von Mann, sechs auf den Grund, im Austausch für einen.‹ Hier geht es um Opfer an die Elemente. Es klingt fast wie eine Anleitung. Und diese Teile – die ›oberste Herrschaft‹ und ›ein Herz von Mann‹ beschreiben, wer diese Opfer bringen wird. Ich bin mir nicht sicher, aber ›ein Herz von Mann‹ könnte etwas mit Liebe zu tun haben oder vielleicht … mit Hass.«
Ich nickte, während ich mir fest auf die Innenseite der Wange biss.
»›Ein Opfer aus Schmerz für den Fluss des Feuers‹ – hier geht es um die Gefühle des Moments, die Investitionen, die gemacht werden. Und ›Wogen des Wassers, um den Strom zu wiegen‹ – ich bin mir nicht sicher, aber in der Geschichte war Wasser immer der Weg für die Reise zwischen Welten oder Leben. Wasser ist eine Art Übergang, deshalb hat es vielleicht mit Veränderung zu tun. Liebes, das ist kein Gedicht für eine katholische Schule.«, sagte er. Allmählich schien er misstrauisch zu werden. »Bist du sicher, dass man von dir verlangt hat, dich damit zu beschäftigen?«
»Ja, wir sollten uns aus mehreren eines aussuchen. Vielleicht habe ich ein schlechtes erwischt.«
»Nicht schlecht … aber definitiv verstörend.« Er räusperte sich. »Okay, sehen wir mal weiter. ›Einer kann herbeigelockt werden, wenn die Rechnung beglichen, der Obolus rot und die Klinge von der Hand des Verehrers mit nur schrecklichem Verlangen.‹ Hier geht es darum, dass jemand gerufen wird und dass ein Verehrer etwas bezahlen muss. Rot … Nun, du kannst dir sicherlich denken, dass es hier um eine Art Blutopfer geht. Die letzte Zeile deutet an, dass der Verehrer nur schlechte Absichten haben kann. Es ist fast so, als ob …« Er sah mich vorsichtig an und ich ertrug seinen Blick so ruhig es ging. »Wenn ich raten sollte, würde ich sagen, dass es in dem Gedicht darum geht, dass etwas … Böses erweckt werden soll.«
Ich spürte, wie die Farbe aus meinem Gesicht wich. Ich hätte mich am liebsten in Dads Arme geworfen und ihm alles erzählt. Doch in diesem Moment war ich mir auch so sicher wie nie, dass er es nicht wissen konnte. Ich zwang mich zu atmen. Dann fuhr ich mir mit der Hand über das Gesicht und gähnte.
»Wow. Hart.« Ich streckte mich. »Vielleicht suche ich mir ein anderes Gedicht aus.« Ich stand auf und versuchte zu ignorieren, dass meine Beine unter mir zitterten. »Aber danke, Dad. Ich gehe dann wohl mal schlafen.«
Ich spürte, wie Dad mich beobachtete, als ich in Richtung meines Zimmers ging.
Ich machte die Tür hinter mir zu und war mir sicher, dass ich heute Nacht keinen Schlaf finden würde.