Kapitel Sechsunddreissig

»Das Schicksal kann uns auf zwei Arten zerstören – indem es uns unsere Wünsche verweigert und indem es sie erfüllt.«

Henri F. Amiel

Langsam kehrten die Boote zurück, um den Schaden zu erfassen. Gruppen von Grigori setzten ihre unterschiedlichen Kräfte ein, um die vereinzelten Feuer zu löschen und die Gase einzudämmen, die vom Vulkan herüberwehten, während andere damit begannen, Erklärungen zu verfassen, die später den griechischen Behörden anonym übermittelt werden sollten.

Ich war erleichtert, dass der Kampf zwischen Verbannten und Grigori erfolgreich vor der Außenwelt verborgen wurde. Es war eine massive gemeinsame Anstrengung gewesen, und jetzt wo sich die Gruppen allmählich vermischten, entdeckte ich mehr als hundert Grigori auf der Vulkaninsel und in den Booten, und noch einmal so viele, als wir wieder in Santorin waren.

Aber es gab auch einige, die nicht überlebt hatten. Obwohl sie für die Sache gekämpft hatten, spürte ich unwillkürlich die Last der Verantwortung, während ich beobachtete, wie Grigori die leblosen Körper ihrer Partner an Bord der wartenden Boote brachten.

Lincoln erklärte uns, dass Griffin zahlreiche zusätzliche Grigori vom griechischen Festland sowie die Neuankömmlinge von der Akademie mitgebracht hatte, um unsere Armee aufzubauen. Die Abtrünnigen hatten auf Santorin gegen ankommende Verbannte Position bezogen und ihre Natur-Verwender strategisch platziert. Einige wurden auf die umliegenden Inseln geschickt, um sie vor eventuellen Auswirkungen des Tsunami zu bewahren.

Lincoln hatte wirklich an alles gedacht.

Trotz seiner Proteste humpelte ich vom Boot. Er wollte, dass ich an Bord blieb, damit er mich heilen konnte, aber ich bestand darauf, deshalb folgte er mir, nur um von den Grigori mit Glückwünschen zu seinem herausragenden Angriff überschüttet zu werden. Lincoln schüttelte die Komplimente ab und verwies stattdessen an die Dirigenten und Josephine.

Ich überließ ihn seinen Angelegenheiten, weil ich ein anderes Boot sah, das heransegelte – mit Steph, Dapper und Onyx an Bord. Sie mussten sich hinter der Schusslinie aufgehalten haben. Ich war erleichtert, sie in Sicherheit zu sehen, und erwiderte Stephs Winken.

»Vi! Alles okay?«, rief sie.

Ich nickte. Mir war nicht danach zurückzurufen, ich zeigte in Salvatores Richtung, als ich sah, wie ihr Blick die Insel absuchte. Sie lächelte erleichtert. Ich bemerkte, dass sie Irins Halskette trug, die ich unter ihrem Kopfkissen für sie zurückgelassen hatte. Ihr war heute nichts verborgen geblieben. Ich hoffte, das war etwas Gutes.

Während ich wartete, bis ihr Boot vor Anker ging, hörte ich ein Geräusch, bei dem sich mir die Haare am Arm aufstellten. Das Brüllen war unverkennbar: mein Löwe. Und plötzlich begriff ich noch mehr. Das war nicht einfach mein Löwe – das war der Engel, der mich gemacht hatte. Sie waren ein und derselbe, und irgendwie wusste ich – wenn er seine tierische Form annahm, war er hier, um mir zu helfen.

Ich folgte dem Geräusch, bis ich ihn fand. Er war größer als normale Löwen – fast so groß wie ich. Seine Mähne war von einem feurigen Bronzeton. Wie seine Augen in meinen Träumen. Er verfolgte mich, und ich wusste, dass ich Angst vor ihm haben sollte. Er näherte sich, zögerte dann aber auf den letzten Metern, ein Raubtier, das versuchte, seine wilde Natur zu bändigen.

Als er beinahe in Reichweite war, blieb er stehen und senkte den Kopf. Ich sah über meine Schulter nach hinten. Lincoln war weiterhin von Grigori umringt, Steph und die anderen saßen noch auf ihrem Boot fest. Ich wandte mich meinem Löwen zu und merkte, dass der Boden an der Stelle, wo er stand, glühend rot war, und trotzdem blieb er ruhig, geduldig.

Vorsichtig trat ich einen Schritt näher, froh, dass Phoenix mich wenigstens in Turnschuhen zurückgelassen hatte. Langsam streckte ich die Hand nach seiner Mähne aus. Gerade als ich ihn berühren wollte, fuhr sein Kopf nach oben, der Ausdruck in seinen Augen eine klare Warnung. Ich ließ die Hand fallen.

Schon kapiert. Streicheln verboten.

Er schüttelte seine Mähne aus, sein Schwanz raschelte von einer Seite auf die andere. Dann stellte er sich auf die Hinterbeine und brüllte, sein Atem wehte über mich hinweg. Die Linderung, die mein verletzter Körper dadurch erfuhr, war sofort zu spüren.

Er schüttelte erneut den Kopf und trottete wieder um den Fuß des Vulkans herum, wobei er sich um die heißen Stellen nicht scherte. Er blieb stehen und blickte zum Gipfel hinauf, bevor er aus meinem Blickfeld verschwand.

Ich brauchte das T-Shirt, das Lincoln mir geliehen hatte, nicht hochzuheben, um zu wissen, dass alle meine Wunden geheilt waren. Der Engel, der mich gemacht hatte, hatte soeben eingegriffen. Wieder.

Ich schaute zur Spitze des Vulkans hinauf und fragte mich, weshalb sich mein Engel die Zeit genommen hatte, so bewusst stehen zu bleiben.

Was ist da oben?

Hinter dem noch immer wabernden Rauch fiel mir etwas ins Auge. Etwas glitzerte dort in der Sonne. Silbern. Nein, gewiss nicht … Niemand wäre dort hinaufgegangen. Ich blinzelte wieder, bis sich der Rauch genug gelichtet hatte, und ich mir sicher war: Ich starrte eine Gestalt an, geschwärzt von Ruß und Asche, und während ich zusah, fiel sie am Rand des Kraters zu Boden.

Bevor ich mir dessen bewusst wurde, setzte ich mich in Bewegung und ging auf einen Ort zu, an den ich nie wieder gehen wollte. Meine Füße versanken in Lavapfützen, aber ich ging weiter. Da oben war jemand.

»Violet!«, hörte ich Lincoln brüllen, aber ich blieb nicht stehen. Ich musste nach oben, musste sehen, was dort war. Eine seltsame Energie trieb mich voran – nicht nur meine eigene, sondern auch die meines Engels. Er wollte, dass ich dorthin ging, er verlangte es von mir.

Ich ging schneller, wobei ich alle paar Schritte stolperte.

»Violet! Warte! Das ist nicht sicher!« schrie Lincoln.

Er war so schnell, dass er mich schon bald einholte, zurückhaltend blieb er jedoch ein paar Schritte hinter mir. Vielleicht glaubte er, ich wollte zu Ende bringen, was ich zuvor begonnen hatte.

»Alles okay«, sagte ich, ohne anzuhalten. »Ich habe da oben etwas gesehen.«

»Violet, niemand ist da hinaufgegangen, es ist zu gefährlich. Wir müssen zurück nach unten gehen. Du bist verletzt, ich muss dich heilen.«

Ich blieb stehen, hob hinten mein T-Shirt hoch und zeigte ihm meinen nackten Rücken. Er schnappte nach Luft.

»Wie?«, fragte er, während er die Tatsache verdaute, dass alle meine Verletzungen verschwunden waren.

»Der Engel, der mich gemacht hat.«

»Das … Das kann nicht sein.«

Ich streckte die Hände aus. »Und doch … Vertraust du mir?«

»Ja«, sagte er, ohne zu zögern.

»Dann versteh bitte, dass ich nach da oben gehen muss.«

Er wollte widersprechen, um mich in Sicherheit zu bringen, doch stattdessen seufzte er und nickte.

Als wir oben anlangten, ging ich rasch um den Krater herum zu der Stelle, an der ich die Person gesehen hatte. Zuerst fand ich nichts und zweifelte schon an mir selbst, aber dann, sah ich – gerade noch sichtbar vor dem glimmenden Untergrund – das Silber in der Sonne glitzern, das mir von unten ins Auge gestochen war. Ich rannte hinüber und ließ mich auf die Knie fallen. Es war eine Frau, die lediglich in eine dicke Schicht Asche gekleidet war. Sie hatte dunkles Haar, das so lang war, dass es sie vollständig bedeckte. An ihrem rechten Handgelenk befand sich etwas Silbernes. Ich hob ihren schlaffen Arm hoch. Sie stöhnte leise, aber es reichte aus, um zu wissen, dass sie noch am Leben war.

Gerade so.

Ich rieb mit den Fingern über ihr Armband.

Lincoln ließ sich neben mir auf die Knie sinken und strich der Frau das Haar aus dem Gesicht. »Sie ist kein Verbannter. Sie fühlt sich an wie … Kannst du sie wahrnehmen?«, fragte er und fing an, ihr die Asche aus dem Gesicht zu wischen.

»Sie ist eine Grigori«, sagte ich wie aus weiter Ferne, während ich gegen das Schwindelgefühl ankämpfte, das in mir aufstieg.

Ein einzelnes Armband.

»Wo kann sie hergekommen sein?«, fragte Lincoln verblüfft.

»Sie ist aus dem Vulkan gekommen«, sagte ich und wusste, dass ich recht hatte.

Lincoln zögerte, teils wegen meiner Antwort, teils weil er genug Asche aus ihrem Gesicht gewischt hatte, um sie zu sehen. »Sie sieht aus … Violet, sie sieht aus wie du.«

Just in dem Moment kam Griffin zu uns herübergestolpert. »Habe gehört, ihr habt euch noch mal hier hochgewagt.« Er war außer Atem – offensichtlich war er den ganzen Weg heraufgerannt aus Sorge, wir könnten in Schwierigkeiten stecken.

»Was? Wart ihr nostalgisch, oder was?«, witzelte er unbehaglich. Dann entdeckte er die Frau. »Wer ist das?« Er kauerte sich neben uns. Dann sah er das Armband, schaute sich die Gestalt, die vor ihm lag, wieder an und wandte sich dann fragend zu mir um.

Vollkommen ungläubig setzte ich mich nach hinten auf meine Fersen.

»Das ist meine Mutter.«