Kapitel Acht

»Mich jammert von Herzen, dass mein Volk so ganz zerschlagen ist; ich gräme und entsetze mich.«

Jeremia 8, 21

Als ich sieben war, fuhren Dad und ich mal von einem Wochenendausflug nach Hause. Ich erinnere mich noch daran, wie aufgeregt ich war, weil ich dachte, dass Dad und ich jetzt zwei ganze Tage Zeit haben würden, herumzuhängen und an den Strand zu gehen. Die Fahrt dorthin dauerte drei Stunden, die zu den glücklichsten meiner Kindheit gehörten. Die ganze Zeit hing ich Tagträumen nach, in denen ich mir ausmalte, was wir alles machen würden – die Gegend erkunden, plaudern, lachen. Ich glaubte wirklich, dass das Wochenende alles ändern würde, und ich war mir sicher: Wenn ich Dad ganz für mich allein hätte, dann würde ihm klar werden …

Aber so war es nicht.

Ich war diejenige, der etwas klar wurde.

Wir fuhren nur weg, damit sich Dad mit ein paar neuen Kunden treffen konnte. Sobald wir angekommen waren, wurde ich mit Eimer und Schaufel bei der Hotel-Nanny abgesetzt. Ich sah ihn erst wieder, als wir ins Auto stiegen, um nach Hause zu fahren.

Ich war am Boden zerstört. Dad merkte das gar nicht. In den ersten beiden Stunden unserer Rückfahrt schwiegen wir. Ich verbrachte die ganze Zeit damit, Mut zu sammeln, um ihm zu sagen, was ich von diesem sogenannten »Wochenendausflug« hielt. Ich war kurz davor gewesen, den Mund aufzumachen, als es passierte.

Wir waren auf der Autobahn. Hier ist man so schnell unterwegs – wenn irgendetwas schiefgeht, nimmt es meistens ein schlimmes Ende.

Ich erinnere mich daran, wie ich ihn eindringlich anstarrte und ihn mit dem Blick einer Siebenjährigen dazu zu bringen versuchte, zu mir herzuschauen, als es plötzlich einen lauten Knall gab, dann noch einen – wie Explosionen. Sie waren so nah, so unmittelbar, so gefährlich. Bevor ich irgendetwas sehen konnte, fuhren wir direkt in einen Kombi. Mein ganzer Körper machte einen Ruck nach vorne, der Sicherheitsgurt nützte nicht viel, um mich – schmächtig, wie ich war – an meinem Platz zu halten. Wenn Dads Hand mich nicht nach hinten gedrückt hätte, wäre ich geradewegs durch die Windschutzscheibe geflogen. Bis heute habe ich keine Ahnung, wie er so schnell reagieren konnte.

Unsere Motorhaube wurde zerdrückt wie ein Stück Papier. Dampf und Qualm kamen aus dem Auto und verschmolzen mit der erhitzten Luft dieses heißen Sommertages, sodass die Realität unwirklich flimmerte.

Dad schrie mich an. Zuerst dachte ich, er wäre wütend auf mich, aber dann merkte ich, dass er vor Angst außer sich war. Ich nickte ängstlich, und das schien ihn zu beruhigen, die starre Anspannung in seinem Gesicht ließ etwas nach. Dann blickten wir nach vorne.

Wir waren nicht der Hauptunfall. Wir waren gerade mal das hintere Ende.

Drei oder vier Autos waren vor uns, alle unterschiedlich stark zusammengedrückt. Und vor ihnen konnte man einen Lastwagen sehen und möglicherweise ein weiteres Auto. Da war ich mir nicht sicher.

Dad stieg aus und ging um unser Auto herum. Ich weiß nicht, wonach er suchte, auslaufendes Benzin vielleicht. Was immer er sah, es stellte ihn so weit zufrieden, dass er mir befahl, im Auto zu bleiben und mich nicht vom Fleck zu rühren, bis er zurückkam. Ich beobachtete, wie er zu dem Kombi ging, in den wir gefahren waren. Den Insassen in den Fahrzeugen vor uns ging es gut, merkte ich, denn Dad blieb nicht lange bei jedem Auto stehen, als er die Reihe abschritt.

In der Ferne hörte ich Sirenen, aber als ich mich umschaute, sah ich, dass der Verkehr zum Stillstand gekommen war. Offenbar würde es einige Zeit dauern, bevor sich ein Krankenwagen den Weg durch die stehenden Autos würde bahnen können.

Um mich herum kamen die Menschen in Bewegung, sie rannten nach vorne zur Unglücksstelle.

Plötzlich war ich auch draußen und wurde von der Welle der Menschen erfasst. Ich konnte Dad weiter vorne rennen sehen. Er erreichte den Lastwagen als Erster, und ich dachte, er würde jemandem helfen. Aber als ich näher kam, sah ich ihn in der Lücke zwischen den Autos. Er bückte sich.

Ich hastete auf ihn zu, weil ich dachte, er wäre verletzt. Ich hatte ihn nicht einmal gefragt, ob er okay war, als er aus dem Auto stieg. Ich schlängelte mich zwischen den Zuschauern hindurch und wich Wrackteilen aus, aber als ich die freie Fläche erreichte, auf der Dad stand, erstarrte ich abrupt.

Er war nicht dabei, jemandem zu helfen. Er wusste nicht, wie.

Der Lastwagen war geradewegs über ein kleines Familienauto gefahren. Es war vollkommen zerquetscht. Der Lastwagenfahrer lebte. Er saß noch immer auf dem Fahrersitz. Er schien überhaupt nicht verletzt zu sein. Zumindest nicht äußerlich.

Aber ich sah sein Gesicht.

Er blickte mich direkt an. Hinter seinem Gesicht war keine Spur von Leben zu erkennen, und als er mich ansah, wusste ich – obwohl ich nur ein Kind war –, dass er sich verzweifelt wünschte, er hätte dasselbe Schicksal erlitten.

Es war seine Schuld.

Als Lincoln durch die Tür hinter mir gestürzt kam, riss ich mich von meinen Erinnerungen los und sah nur noch die Szene, die sich mir bot. Dapper lag auf dem Boden neben der Minibar, blutend und verstümmelt. Seine Wohnung war auseinandergenommen worden, als wäre eine Herde Elefanten hindurchgetrampelt und hätte dann noch mal eine zweite Runde gedreht, um ganz sicherzugehen, auch alles erwischt zu haben.

Ich war kaum ein paar Schritte hineingegangen, als ich wie erstarrt stehen blieb.

Lincoln kam hinter mir hinein und schnappte nach Luft. Ich wandte ihm meinen Blick zu und wusste, dass es genau der gleiche war, den dieser Lastwagenfahrer mir vor zehn Jahren zugeworfen hatte.

Es war meine Schuld.

Lincoln zögerte nicht. Er warf einen Blick auf die Szene und dann auf mich, und genau wie mein Vater mir damals befohlen hatte, im Wagen zu bleiben, wies er mich an zu bleiben, wo ich war. Und das tat ich auch eine Weile.

Tot. Tot. Sie sind alle tot. Es ist meine Schuld. Phoenix wusste es, er kannte mich. Meine Schuld.

Ich beobachtete, wie Lincoln Dapper zu Hilfe eilte, wie er sich durch all das Blut und die schrecklichen Verletzungen tastete und nach Lebenszeichen suchte. Ich erkannte Dapper nur an seinem diamantenbesetzten Gürtel – er war um seinen Hals geschlungen und schnitt tief in sein Fleisch.

Lincoln entfernte ihn schnell, aber vorsichtig.

Und dann sah ich etwas, was alles veränderte, etwas, was dieser Lastwagenfahrer nie zu sehen bekommen hatte.

Dappers Finger … er bewegte sich.

»Er lebt«, keuchte ich. Und mehr brauchte es nicht.

Vielleicht, nur vielleicht. Oh, bitte, bitte, bitte.

Ich setzte mich in Bewegung, stürzte an Dapper und Lincoln vorbei, weil ich wusste, dass ich hier nichts tun konnte, um zu helfen. Ich rannte durch den Wohnbereich in den Flur, wo ich stehen blieb und dabei fast über mich selbst stolperte.

Onyx.

Ich kauerte mich neben ihn. Genau wir Lincoln versuchte ich, das Blut zu ignorieren, die massive Schwellung in seinem Gesicht. Sein Hemd war völlig zerrissen, und er war so schlimm geschlagen worden, dass seine Rippen gebrochen waren und eine davon aus seiner Brust ragte.

Ich schluckte das Bedürfnis, mich zu übergeben, hinunter und versuchte, durch den Mund zu atmen. Jetzt, wo ich klarer war, überkamen mich die Sinneswahrnehmungen. Forderten, dass ich Bescheid wusste.

Apfelgeschmack durchströmte meinen Mund, vermittelte mir die Illusion, dass er durch meine Luftwege flutete und ich nicht mehr schlucken konnte. Trotzdem war es besser, durch den Mund zu atmen – der Duft von Blumen war so überwältigend und hatte die Luft so dick gemacht, dass es unmöglich war, durch die Nase zu atmen.

Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Onyx lebte, so viel wusste ich. Das Atmen fiel ihm unvorstellbar schwer, er nahm nur kurze, flache Atemzüge.

Nicht annähernd genug, war alles, was ich denken konnte. Das ist nicht annähernd genug Luft.

Dann sah ich mir noch einmal seine Rippen an, die vermutlich seine Lungen durchbohrt hatten.

Ich legte ihm leicht die Hand auf die Brust. Ich wusste nicht, was besser wäre – die Augen zu schließen oder offen zu halten. Es war praktisch unmöglich, sich bei den blendenden Blitzen von Morgen und Abend zu konzentrieren, die so stark waren, dass sie zwischen gleißendem Sonnenlicht und stockfinsteren, mondlosen Nächten hin und her wechselten.

»Onyx«, stieß ich erstickt hervor.

Seine verschwollenen Augen öffneten sich zu blutunterlaufenen Schlitzen. Sein Arm bewegte sich ein wenig und ich ergriff seine Hand.

»E-er …«

»Es ist okay, alles wird gut«, log ich. Denn als ich ihn angeschaut hatte, als ich gesehen hatte, was sie ihm und Dapper angetan hatten, glaubte ich keineswegs, dass sie wieder in Ordnung kommen würden.

Mein Blick schweifte ab, wanderte durch den Flur.

Nur noch das Bad und das Schlafzimmer. Ich muss nachschauen.

Doch ich konnte ihn nicht einfach allein lassen.

Er drückte meine Hand ein wenig fester. Ich sah ihn an, und dann kam mir etwas in den Sinn: Vielleicht wollte er das? Er hatte gewollt, dass ihn jemand umbringt. Es beendet. Er hatte sogar mich darum gebeten, als wir ihn betrunken auf der Straße gefunden hatten. Er wollte nie nur ein Mensch sein. Vielleicht lief das alles ganz gut für ihn.

Er versuchte wieder zu sprechen.

Ich beugte mich vor und versuchte, nirgends hinzufassen, wo es wehtun könnte. Was praktisch unmöglich war.

»H-hilf mir.«

Ich betrachtete seine zugeschwollenen Augen, er versuchte krampfhaft, sie richtig zu öffnen, um mir die Wahrheit hinter seinen Worten zu zeigen. Onyx wollte leben.

Meine Hand, die noch immer seine umklammerte, regte sich. Ich legte meine andere Hand sanft auf sein Gesicht. Dann ließ ich meine Kraft los, ließ sie von mir zu ihm fließen, weil ich ihn heilen, weil ich ihm diese Chance auf Leben geben wollte. Doch ich stieß auf eine Mauer und wäre fast ohnmächtig geworden.

Ich hörte mehr Leute kommen, Befehle wurden gebrüllt. Griffin.

Spence kam in den Flur gerannt. »Großer Gott«, sagte er.

Ich stand auf. »Ich kann ihm nicht helfen.« Ich schüttelte den Kopf. »Er will leben«, sagte ich. Doch mein Blick fixierte wieder eindringlich das Ende des Flurs.

Spence ließ sich neben Onyx zu Boden sinken. »Ich bleibe bei ihm. Geh!«

Ich war am Ende des Flurs, noch bevor er fertig war, mir zu sagen, dass ich gehen konnte. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verstrichen war, seit ich die Wohnung betreten hatte, vielleicht weniger als eine Minute. Weniger als eine Minute, in der sich alles verändert hatte. Und doch wusste ich, dass in ein paar Sekunden … alles noch schlimmer werden konnte.

Steph. Bitte nicht! Es ist meine Schuld, nicht ihre.

Das Bad war leer. Im Schlafzimmer fand ich Kaitlin und Samuel. Kaitlin war bewusstlos, aber ihre Grigori-Stärke hatte sie beschützt, und obwohl sie verletzt war, war sie in einem weit besseren Zustand als Dapper oder Onyx. Samuel versuchte bereits aufzustehen.

Ich lief zu ihm und legte ihm die Hand unter den Arm, um ihm zu helfen.

»Samuel, Samuel! Was ist passiert?«, schrie ich, auch wenn ich es bereits wusste.

»Soweit ich sehen konnte, waren es acht. Sie haben uns kalt erwischt.«

Und ich verstand warum. Wir hatten damit gerechnet, dass sich das ganze Geschehen heute Abend draußen auf den Dächern abspielen würde.

Samuel sah zu Kaitlin hinüber und griff sich mit den Fingern an eine Kopfwunde, aus der das Blut tropfte, bevor er sich wieder mir zuwandte. »Wir sollten tot sein.«

Er hatte recht.

Aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich konnte mich jetzt nicht mit all den anderen Details befassen. Ich hörte, wie auf der Straße Sirenen losgingen. Griffin hatte den Notarzt gerufen. Onyx war ein Mensch, Dapper war zwar nicht vollkommen menschlich, brauchte aber eindeutig medizinische Hilfe.

»Du solltest sie von hier wegbringen. Bestimmt willst du nicht, dass die Sanitäter versuchen, sie mitzunehmen«, sagte ich wie in Trance zu Samuel. Das Letzte, was wir jetzt brauchen konnten, war, dass irgendwelche Ärzte bei einer Grigori Hand anlegten, wenn sie im Schnellheilungsmodus war. Das würde viel zu viele Fragen aufwerfen.

Samuel nickte, hob Kaitlin hoch und ging zur Tür.

Ich folgte ihm nach draußen. Er hielt nicht einmal an, um nach Onyx oder Dapper zu sehen. Er musste seinen Job erledigen, und momentan bestand dieser ausschließlich darin, Kaitlin in Sicherheit zu bringen. Er war ein guter Partner.

Spence redete immer noch mit Onyx und sprach ihm Mut zu. Onyx umklammerte seine Hand. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sich Spence auf ihn gestürzt und die Informationen, die wir brauchten, aus ihm herausgeprügelt hatte. Damals hatte ich nicht gedacht, dass sich die beiden einander auf weniger als fünf Meter nähern würden. Doch das war in mancherlei Hinsicht für Onyx der Anfang gewesen. Sein wahrer, sein menschlicher Anfang. Spence hatte ihn dazu gezwungen zuzugeben, dass er sein Leben schätzte, und jetzt half er ihm dabei, es zu behalten.

Griffin hatte Lincoln bei Dapper abgelöst, und als mich Lincoln zurück ins Zimmer kommen sah, blickte er mich verzweifelt an. Griffin wandte sich ebenfalls um.

Offensichtlich hatten sie gesehen, dass Samuel mit Kaitlin weggegangen war und Onyx im Flur lag. Alle schauten mich aus einem einzigen Grund an.

Ich wollte aufwachen. Oder die Zeit zurückdrehen.

Meine Schuld.

Ich wollte die Zeit bis zu dem Tag zurückdrehen, an dem ich es ihr erzählt hatte – an dem ich sie davon überzeugt hatte, dass diese andere Welt existierte, an dem ich sie eingeladen hatte, ein Teil davon zu sein. Warum? Weil ich sie brauchte. Ich wollte meine menschliche Welt nicht loslassen und sie auch noch verlieren.

Meine Schuld.

»Violet?«, sagte Lincoln.

Ich zuckte zusammen. Er stand direkt vor mir. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass er auf mich zugekommen war. Er ergriff meine Arme. Ich dachte schon, er wollte mich schütteln, aber er tat es nicht.

Ich hätte es kommen sehen sollen. Phoenix hatte mich durchschaut. Er wusste, dass ich ihm die Schrift nicht einfach überlassen konnte. Er kannte mich und spielte mit mir und ich … bin geradewegs darauf hereingefallen.

Ich hörte, wie die Notärzte unten durch die Türen stürmten, dann ihre Schritte auf der Treppe. Sie riefen etwas, kündigten sich an, während sie heraufrannten. Ich fragte mich flüchtig, ob die Bar immer noch voller Menschen war, die tanzten und tranken, während über ihnen …

Ich sah Lincoln an, dann Griffin, der sich immer noch über Dapper beugte.

Auf ihren Gesichtern zeichneten sich ähnliche Schuldgefühle ab wie auf meinem. Aber nicht annähernd so starke.

Lincoln drückte meine Arme und versuchte dadurch, mich zu ihm zurückzuholen. Ich blinzelte.

»Steph ist weg. Sie haben sie mitgenommen.«