Kapitel Zwölf
»Die Versuchung ist für den Menschen wie ein Messer – es kann sein Brot oder seinen Hals durchschneiden. Sie kann seine Nahrung oder sein Gift sein, seine Stärkung oder seine Zerstörung.«
John Owen
Phoenix machte einen entspannten Eindruck. Er saß zurückgelehnt da, hatte die Beine ausgestreckt und sie an den Knöcheln übereinandergeschlagen, als hätte er absolut keine Sorgen. Es sah aus, als würde er allein am Tisch sitzen, aber ich wusste von vorhin, als ich das Café beobachtet hatte, dass da noch etwas sein musste.
Ich ging langsam, aber selbstbewusst, betrachtete die anderen Gäste eingehend und nahm das Personal genau unter die Lupe. Heute Abend wollte ich keine Überraschungen erleben.
Phoenix beobachtete, wie ich näher kam, er hatte einen amüsierten Gesichtsausdruck, der mich die Hände zu Fäusten ballen ließ. Ich quetschte mich zwischen ein paar Stühlen hindurch und erreichte schließlich den Tisch ganz hinten. Er hatte bereits den Platz, von dem man den besten Überblick hatte, reserviert. Ich setzte mich nicht.
»Guten Abend, Liebling«, sagte er grinsend. Sein Haar schien fast lebendig, wie schwarze und lilafarbene Flammen mit silbriger Asche. Ich fragte mich, ob andere Leute das genauso sahen wie ich und ob es sie genauso ablenkte.
»Schön, dich zu sehen«, sagte er, und sein Lächeln wurde noch breiter. »In Fleisch und Blut.«
Also hatte er mich zuvor gesehen.
Nun, gut.
Wenigstens wusste er jetzt, dass ich gerade lernte, es zu steuern – was immer es war.
»Wo ist sie?«, fragte ich, wobei ich meine Gefühle unter Kontrolle hielt und nur ein wenig von meiner Geringschätzung für ihn nach außen sickern ließ.
»Gleich hier«, sagte er und blickte zur Seite. Er tätschelte den Stuhl zu seiner Linken. »Wie wäre es, wenn du dich setzt und ich zeige sie dir.« Sein Blick wanderte umher, als würde ihn das alles nichts angehen. »Die Leute schauen schon.«
Ich setzte mich, nicht weil er das so wollte, sondern weil ich unbedingt Steph sehen wollte. »Zeig sie mir!«, forderte ich und bereute es sofort.
Er genoss es, Macht über mich zu haben, und es reichte schon, dass er hiermit bewiesen hatte, dass er sie vor mir versteckt halten konnte.
»Bitte, Phoenix«, fügte ich hinzu, wobei meine Stimme um einiges sanfter wurde.
Meine veränderte Stimme traf ihn unvorbereitet. Er fuhr mit der Hand durch die Luft, als wäre er enttäuscht darüber, dass die Dinge nicht anders verlaufen waren, und enthüllte Steph.
Ich schnappte nach Luft.
Sie war bewusstlos und hatte einen großen blau-grünen Bluterguss auf der Wange, ihre Adern traten an der Seite ihres Gesichts deutlich hervor. Ich warf Phoenix einen hasserfüllten Blick zu und war schon halb aufgestanden, um meine Faust in ihn zu rammen, doch dann hob er die Hand, sah mir geradewegs in die Augen und sagte: »Das war ich nicht.«
Das hielt mich lange genug auf, dass er hinzufügen konnte: »Sie haben es getan, bevor ich zu ihr gelangen konnte. Ich gab dir mein Wort, dass ich sie nicht verletzen würde, und von dem Moment an, in dem sie bei mir war, wurde sie nicht angerührt oder auf irgendeine Weise verletzt.«
»Warum ist sie dann bewusstlos?«, fauchte ich. Aber ich setzte mich wieder hin.
»Sie ist nicht bewusstlos – sie schläft. Nur bis wir den Handel abgeschlossen haben. Ich dachte, so wäre es besser für alle.« Er zog die Augenbrauen nach oben. »Sie weiß nicht immer, wann sie besser die Klappe halten sollte.«
»Wie hast du das gemacht? Hast du sie unter Drogen gesetzt?«
»Das war nicht nötig.« Er beugte sich ein wenig vor und senkte die Stimme.
»Ich bin weit mächtiger, als du mir zutraust.«
Der Kerl log mehr, als er die Wahrheit sagte, und unsere gemeinsame Geschichte war alles andere als gut verlaufen, und doch ertappte ich mich dabei, dass ich ihm glaubte.
Aber ich kann mich in seiner Gegenwart nicht auf meine Instinkte verlassen.
Er zog die Augenbrauen nach oben, weil er meine Verwirrung bemerkte.
»Wird sie wieder in Ordnung kommen?«, fragte ich. Mein starkes Äußeres erbebte ein wenig, auch wenn ich versuchte, meine Gefühle auszuschalten. Steph sah so zerbrechlich aus, ihre zarte Gestalt – die für gewöhnlich über ihren Witz und ihre Frechheit hinwegtäuschte – hing über dem Stuhl. Ich kämpfte gegen das Bedürfnis an, zu ihr zu gehen. Ich wusste, dass das momentan nicht möglich war.
»Abgesehen von dem Bluterguss im Gesicht ist sie unversehrt. Sie wird schon wieder.«
Wieder wollte ich ihm glauben. Dann bemerkte ich etwas Seltsames. Er beeinflusste mich nicht, indem er seine Kräfte in mich schob. Ich sah ihn misstrauisch an.
»Ich möchte das nur schnell über die Bühne bringen«, sagte er. Wieder hatte er meine Gefühle durchschaut.
Ich nickte. Doch dieses Mal hatte ich nicht dasselbe Vertrauen in seine Worte. »Versprich mir, dass ich sie sicher hier rausbringen kann.«
Er blickte sich im Café um und hatte offensichtlich kein Interesse an diesem Gespräch. »Ich habe hinterher keine Verwendung mehr für sie.«
Mehr würde ich wohl nicht aus ihm herausbekommen.
Da er gerade nicht an meinen Gefühlen zog und zerrte, sah ich etwas, was mich daran erinnerte, wer er einmal gewesen war.
»Warum gibst du mir nicht einfach die Grigori-Schrift? Du weißt, dass sie nicht für Verbannte gedacht ist.«
Er lachte, ehrlich amüsiert, und schüttelte den Kopf. »Eure dumme Grigori-Schrift ist mir gleichgültig. Ich habe sie mir nicht einmal angeschaut.«
Ungläubig und verächtlich starrte ich ihn an.
Er zuckte die Schulter, als gäbe er einen Dreck darauf, was ich dachte. »Das ist wahr. Auch von den anderen Verbannten hat sie sich keiner angeschaut. Sie ist gut versteckt und ich kenne bereits die Namen und Gesichter der Grigori, die ich vernichten möchte. Ich habe nicht vor, den Rest meines Lebens Mischlinge zu jagen, aber …« Er schien sich zu entspannen und gleichzeitig anzuspannen, während er mich anstarrte, als wollte er, dass ich die Bedeutung dessen, was er gerade sagte, verstand. »Ich musste einen Preis dafür bezahlen, dahin zu gelangen, wo ich heute bin. Die, die mir folgen, glauben, dass es sehr wichtig ist, Grigori zu jagen. Ich kann mich nicht ohne guten Grund erfolgreich gegen sie wenden. So ist es eben.«
»Du hast also nicht vor, sie gegen uns zu verwenden?«, fragte ich verwirrt.
»Nicht, wenn es sich vermeiden lässt. Vielleicht wirst du später einmal etwas finden, das es wert ist, es dagegen einzutauschen.« Er ließ seinen Blick vertraulich über mich wandern. »Mir würde da schon eine Sache einfallen, gegen die ich sie eintauschen würde …«
»Mistkerl! Ich komme jetzt rein«, hörte ich Lincoln in mein Ohr sagen.
»So weit wird es nicht kommen«, sagte ich rasch zu beiden.
Phoenix lächelte. »Aber bis dahin sollte es in meinem besten Interesse sein, sie auszunutzen …«
Er brauchte nicht zu Ende zu sprechen. Ich wusste bereits, worauf das hinauslief. Phoenix war in erster Linie und vor allem eigennützig.
Mit angehaltenem Atem wartete ich ab, aber Lincoln kam nicht durch die Tür gestürmt.
»Was denkst du, was passieren wird, wenn du sie zurückholst?«, fuhr ich fort. Ich hatte die Zeitleiste aus den Verbanntenprotokollen gesehen, zu denen Griffin Zugriff erlangt hatte. Bevor Lilith zurückgeschickt wurde, hatte Phoenix bereits Hunderte von Jahren in menschlicher Form gelebt und war ihr kaum einmal begegnet. Im Grunde schien es sehr wahrscheinlich, das einer von beiden – oder beide – nichts mit dem anderen zu tun haben wollte.
»Manchmal weiß man erst, was man hat, wenn man es verliert.«
Ich musste meinen Blick abwenden. Ich spürte die Spur eines intensiven Gefühls, von dem ich mir sicher war, dass er es nicht hatte preisgeben wollen.
»Jedenfalls«, sagte er und kam zurück von wo immer er gerade gewesen war und schloss was immer für eine Tür da gerade aufgeweht worden war. »Ich war damals ein anderer Verbannter. Verwirrt. Ich stelle meinen Platz nicht länger in Frage.«
»Ein wenig spät im Leben, um Mamas Anerkennung zu suchen, nicht wahr?«
»Vorsicht …«, flüsterte mir Lincoln ins Ohr.
Phoenix’ Gesicht wurde hart – es zeigte eine Furcht einflößende Entschlossenheit, die jeden Zweifel bei mir ausschloss. Er würde vor nichts haltmachen, wenn es darum ging, Lilith zurückzuholen.
Mein Blick huschte zu Steph, die angefangen hatte zu sabbern. Ich fragte mich, ob der Schlafzustand, in den Phoenix sie versetzt hatte, ihr schaden würde, wenn sie noch länger darin verharrte.
»Lass es uns hinter uns bringen«, sagte ich.
Er machte eine Kopfbewegung in Richtung meines Rucksacks. »Ist sie da drin?« Er war jetzt angespannt.
Ich schüttelte den Kopf. »Sie ist in meiner Jacke.«
Ich begann, den Reißverschluss aufzumachen, aber er ergriff meine Handgelenke.
»Au!«, sagte ich, noch bevor ich mich zurückhalten konnte. Aber ich erholte mich rasch, drehte meine Hände, um sie seinem Griff zu entwinden, konnte aber nur eine frei bekommen. Mein rechtes Handgelenk – das, das in Jordanien in den Kelch geblutet hatte – umklammerte er weiterhin. Dann schob er meine Armreifen nach oben und fuhr mit dem Daumen fest über die schwache Narbe, die dort zurückgeblieben war. Ich wusste nicht, warum sie nicht vollständig verheilt war – vielleicht wollte ich das gar nicht wirklich. Sie war eine Art Mahnung. Ich zog meinen Arm wieder von ihm weg, und dieses Mal ließ er mich frei, sodass ich aufstehen konnte.
»Violet? Ist alles okay?« Lincoln sprach mir eindringlich ins Ohr.
»Was zum Teufel soll das?«, fauchte ich Phoenix an, wobei ich die Stimme senkte. Die Leute schauten schon her.
»Setz dich«, sagte er mit distanzierter Stimme.
Ich setzte mich, schob aber den Stuhl zurück, um den Abstand zwischen uns zu vergrößern.
»Ich bin nicht dumm, Violet. Ich lasse dich nicht in deinen Mantel greifen, um etwas herauszuholen, was ich nicht sehen kann. Ich habe um das Café herum Verbannte postiert. Einer ist auf dem Dach und der andere beobachtet uns durch das hintere Fenster.«
Das war beides nicht gelogen.
Er seufzte, aber ich konnte sehen, dass er alles in allem nicht besonders beunruhigt war. »Wenn du etwas aus deiner Jacke ziehst, werden sie hereinkommen. Wenn dieser Austausch stattfinden soll, dann öffne ich deine Jacke und hole die Schrift heraus.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
Himmel.
»Violet, hör mir zu, er spielt mit dir. Wenn er dich erst mal berührt, hat er die ganze Macht. Lass das nicht zu«, sagte Lincoln hastig.
»Versprich mir, dass du sie frei lässt und dass sie gehen darf, sobald du die Schrift hast«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »In dieser Reihenfolge, und dann verschwindest du durch die Hintertür«, fügte ich hinzu, weil ich Lincoln einen Hinweis darauf geben wollte, welchen Bereich wir abdecken mussten. Mit ein wenig Glück würden sie ihn ausschalten, wenn er hinausging.
»Ganz wie du willst.«
»Wie schön, dass du auf mich hörst«, sagte Lincoln, er klang wütend.
Oh, na ja, mit ihm würde ich mich später herumschlagen.
Phoenix beugte sich vor. »Du wirst ein bisschen näher kommen müssen, Liebling.«
Ich konnte fast hören, wie Lincoln am anderen Ende vor Wut schäumte.
Unbedingt merken: Nächstes Mal Griffin mithören lassen.
Ich rückte auf meinem Stuhl näher.
»Hände auf den Tisch«, sagte Phoenix, der es sichtlich genoss.
»Beeil dich einfach«, sagte ich, weil ich mir ins Gedächtnis rief, dass ich das konnte, weil ich es für Steph tat. Ich machte meinen Kopf frei und konzentrierte mich darauf, meine Schutzfunktionen aufrecht zu erhalten.
Phoenix machte langsam den Reißverschluss meiner Jacke auf.
»Ich erinnere mich daran, dass du es nicht magst, wenn es zu schnell geht.«
Ich erwiderte nichts. Ich sah ihn nicht einmal an. Was er nicht wusste: Dieses Verhalten rief nur Erinnerungen hervor, die meinen Hass ihm gegenüber nährten. Das heißt, bis seine Hände in meine Jacke glitten und ich die vertrauten widersprüchlichen Gefühle verspürte, die mich immer überkamen, wenn er in der Nähe war – dieses starke Verlangen und gleichzeitig Ekel und Hass, die einen heftigen Hunger hervorriefen. Die Schrift befand sich eng eingerollt in einer schmalen Blechdose, die diagonal über meiner Brust lag.
Er fand sie sofort, nahm die Hand jedoch nicht weg, sondern ließ sie stattdessen an der Dose entlang zu meiner Hüfte wandern, strich flüchtig über mein Oberteil und dann über den Streifen nackter Haut gleich darunter. In dem Moment, in dem seine Haut meine berührte, überwältigte mich ein Sturm der Gefühle, aus berauschender, verlockender Lust, aus der es kein Entkommen gab und die das Verlangen entfachte, das ich so mühsam zu ignorieren suchte. Eine Welle lief durch meinen Körper, als Funken aus seinen Fingerspitzen stoben.
Es war mir egal, dass Griffin sagte, es läge an mir, ich müsste wollen, dass er aufhört – nichts hätte diesen Güterzug aufhalten können.
Bevor ich mich beherrschen konnte, stöhnte ich auf. All meine Sorgen, mein Schmerz wurden durch etwas Einfaches, durch etwas Köstliches ersetzt. Etwas, was sowohl leidenschaftlich als auch egoistisch war.
Weil er spürte, dass er die Kontrolle übernommen hatte, rückte Phoenix mit seinem Stuhl näher, seine Finger bewegten sich um meinen Rücken, während sich seine andere Hand um mein Gesicht legte. In seinen dunklen braunen Augen wirbelte ein Hunger, den ich nicht beschreiben konnte, den ich aber … verstand.
»Violet«, flüsterte mir Lincoln ins Ohr. Ich konnte nicht antworten.
»Violet«, sagte er wieder, aber niemand war zu Hause. Ich war woanders. An einem Ort, wo alles leicht war.
»Violet, schau über den Tisch. Da ist Steph.« Seine Worte schmolzen in mich hinein.
Honig, er ist wie Honig.
»Steph braucht dich, Violet«, flüsterte die Honigstimme wieder.
Ich konnte ihn hinten in meiner Kehle spüren, als würde ich das Paradies schlucken. Er sagte etwas Wichtiges, aber seine Worte entglitten mir zu schnell, versickerten im Sand.
Phoenix war so nah, sein Haar funkelte wie ein winziges Feuerwerk.
»Du kannst immer noch mit mir kommen«, sagte er, während er immer mehr Gefühle in mich hineinströmen ließ. Dabei löschte er alles, was wehtat, und ersetzte es durch Verlangen – sein Verlangen.
Alles ist hier so einfach.
»Violet!«, sagte Lincoln, dann seufzte er. »Du liebst ihn nicht. Das ist nicht real. Du weißt, was real ist, es ist schwierig und es tut weh und wir können nicht … Verdammt, Vi – wir sind real! Jetzt reiß dich verdammt noch mal los und hol deine beste Freundin da raus!«
Eine andere Art von Blitzen durchzuckte die Lust. Eine schreckliche, herzzerreißende, tiefe seelische Not, die niemals gelindert werden würde, die schmerzhaft war anstatt köstlich und sehr viel schwieriger als alles, was Phoenix mir zu bieten hatte. Ich spürte, wie eine Träne von meiner Wange tropfte.
Phoenix war so nah. Ich konnte die Schweißperle sehen, die an seiner Stirn herunterlief. Es bereitete ihm große Mühe, mich zu halten. Doch meine Gefühle für Lincoln waren zu stark, sie brannten sich weiterhin durch Phoenix’ Verführung und lösten alles, was er zu mir schickte, auf.
Ich biss mir fest auf die Lippe und schmeckte Blut. Auch das half.
»Zurück auf deinen Platz, oder ich schwöre bei Gott – Kräfte hin oder her –, ich werde dir meinen Dolch ins Herz rammen, denn ich würde lieber sterben als deine Gefangene sein.«
Phoenix’ Augen wurden groß und er wich zurück, wobei er die Schrift mit sich nahm.
»Braves Mädchen«, sagte mir Lincoln ins Ohr.
Phoenix war eindeutig überrascht von meiner Reaktion, schien aber gleichermaßen von seinem eigenen Verhalten schockiert zu sein. »Ich würde dich nie zu etwas zwingen«, sagte er fast mehr zu sich selbst als zu mir.
»Jedes Mal, wenn du dieses Zeug mit mir machst, hasse ich dich nur noch mehr.«
Phoenix erlangte seine Fassung wieder und lümmelte sich wieder auf seinen Stuhl, aber er war außer Atem und war offensichtlich kalt erwischt worden von meiner Fähigkeit, ihn von mir zu stoßen.
»So ist es für uns beide leichter, findest du nicht auch?«.
Ich funkelte ihn an. »Du hast jetzt die Schrift. Weck sie auf und verschwinde von hier.«
Er stand auf. Steph bewegte sich, sie war noch etwas schwach und öffnete langsam die Augen.
Phoenix zeigte mit der Schrift auf mich. »Ich bin mir sicher, die hier brauche ich nicht zu überprüfen, aber ich bin mir auch sicher, dass ihr eine Kopie davon angefertigt habt. Wir sehen uns bald, Liebling.« Er ging durch die Hintertür hinaus.
Ich rappelte mich von meinem Stuhl auf und ging zu Steph hinüber. Ich kniete mich neben sie, strich ihr das Haar aus dem Gesicht.
»Hier draußen sind Verbannte unterwegs. Hast du sie?«, flüsterte mir Lincoln ins Ohr.
»Ja, ja – hilf mir. Steph, Süße, kannst du mich hören? Ich bin es – Vi«, sagte ich, wobei ich mich bemühte, nicht in Tränen auszubrechen. Aber es gelang mir nicht. Die Tür wurde aufgerissen. Ich blickte auf und sah Lincoln, der über ausgestreckte Beine und herumstehende Stühle sprang.
Steph schlug die Augen jetzt ganz auf und schluckte mühsam. »Vi?«, murmelte sie.
»Du bist in Sicherheit. Du bist zurück. Verzeih mir, Steph, es tut mir so leid.«
Sie lächelte ein wenig. »Weniger Entschuldigungen, mehr Wasser.«
Lincoln erreichte den Tisch. »Wie geht es ihr?«
»Sie hat Durst!«, sagte ich, als hätte sie blutende Schusswunden.
Lincoln lächelte, aber er schnappte sich rasch einen Krug Wasser vom Kellnertisch.
Er reichte mir ein volles Glas mit Strohhalm.
»Hier.« Ich steckte Steph den Strohhalm in den Mund.
»Danke«, sagte sie, als sie einen Schluck davon genommen hatte. »Es geht mir gut. Weggetreten, aber okay.« Dann fuhr ihr Kopf nach oben. »Dapper und Onyx? Samuel und Kaitlin?«
Ich atmete aus. »Es geht ihnen gut. Onyx ist noch im Krankenhaus, aber alle anderen sind schon wieder entlassen worden.«
»Sie … sie haben versucht, sie aufzuhalten. Sie haben um mich gekämpft.«
»Ich weiß, Liebes, Samuel und Kaitlin sind toll.«
Sie schüttelte matt den Kopf. »Nicht nur sie. Onyx und Dapper auch.«
Wow. Das mit Kaitlin und Samuel überraschte mich nicht – sie waren Grigori – aber Dapper und – was noch erstaunlicher war – Onyx, der besser als jeder andere wusste, dass er keine Chance gegen ihre übernatürliche Stärke hatte. Ich hatte mir ausgemalt, dass es sie kalt erwischt hatte, nicht dass sie sich ihnen tatsächlich in den Weg gestellt hatten. Jetzt ergab es auch einen Sinne, dass Onyx im Flur gewesen war – er hatte Steph verteidigt.
»Wir müssen hier weg«, sagte Lincoln. Er stand noch immer da, hatte den Blick auf die Gäste gerichtet und beschützte uns. Für die anderen Restaurantgäste war Steph irgendwo aus dem Nichts aufgetaucht und es ging ihr offensichtlich nicht gut – sie waren inzwischen mehr als nur neugierig.
»Steph, kannst du gehen? Nur bis zur Straße.«
Lincoln nickte zustimmend.
Steph versuchte aufzustehen. Ich stützte sie, legte ihr so vorsichtig ich konnte den Arm um die Taille.
»Wie sehe ich aus?«, fragte sie, sobald wir standen. Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen, vielleicht war es nur das Delirium. Typisch Steph, gleich nach einem Spiegel zu verlangen.
»Es gibt nichts, was nicht durch ein wenig Make-up wieder ausgebügelt werden könnte.« Tatsächlich würde ich mehrere Flaschen davon nehmen, aber das musste sie ja nicht unbedingt wissen.
Wir gingen hinaus, die Leute machten Platz für uns.
»Geht es ihr gut?«, fragte eine Kellnerin. »Wir haben sie gar nicht hereinkommen sehen. Sollen wir einen Krankenwagen rufen?«
»Nein. Aber vielen Dank, wir bringen sie jetzt einfach nach Hause«, sagte Lincoln glatt.
Steph humpelte, wurde aber mit jedem Schritt kräftiger. Unter was für einem Bann sie auch immer gestanden hatte – er löste sich auf, und wie es schien, hatte Phoenix die Wahrheit gesagt. Wenn man mal von dem Bluterguss im Gesicht absah, schien es ihr relativ gut zu gehen.
Wir schafften es nach draußen und Griffin fuhr mit Lincolns Wagen an der Bordsteinkante vor. Lincoln griff nach der hinteren Tür. Dapper saß schon im Wagen.
»Wie gut, dich zu sehen, Kleine«, sagte er und sah Steph erleichtert an.
Steph kletterte auf den Rücksitz, dicht gefolgt von mir. Lincoln sprang auf den Beifahrersitz und wir fuhren los. Steph warf ihre Arme um Dapper und er zog sie an sich. Dabei strich er sanft mit der Hand über ihre blau geschlagene Gesichtshälfte.
»Danke«, sagte sie, bevor sie sich wieder an mich lehnte.
Dapper erwiderte nichts, er richtete sich nur ein wenig auf und sah aus dem Fenster, als wäre gar nichts gewesen. Es war aber nicht gar nichts. Sie waren da gewesen und hatten versucht, Steph zu verteidigen, als ich es nicht tat. Mir wurde klar, dass mir Dapper überhaupt nichts schuldig war, sondern umgekehrt, und zwar gewaltig. Und bei Onyx war es ebenso.