Kapitel Dreiunddreissig

»Unsere Taten, unsere Engel – gut und böse –
begleiten uns wie schicksalhafte Schatten.«

John Fletcher

Der Engel, der mich gemacht hatte, ging zu seinem Fenster. Mein Atelier fühlte sich anders an, und mir wurde klar, dass ich nicht mehr wusste, ob das überhaupt noch mein Atelier war – mein Zuhause. Der gleiche trostlose Regen, der immer in meinen Träumen fiel, prasselte gegen die Scheibe. Mein Kopf schmerzte an der Stelle, auf die mich Phoenix gerade geschlagen hatte.

»Du musst uns helfen«, sagte ich. Ich fühlte mich orientierungslos und fehl am Platz. »Du musst ihn aufhalten!«, bekräftigte ich und stützte mich mit der Hand auf dem Arbeitstisch auf.

»Wir können nicht eingreifen«, sagte er schlicht.

Wut auf ihn stieg in mir auf. Kümmerte es ihn überhaupt, was mit uns passierte?

»Aber er gehört zu euch! Ihr habt ihn gemacht!«

»Haben wir das?«, erwiderte er und blickte mich jetzt an. »Ich glaube, dieses Recht fällt mehr als nur einem zu.«

»Was soll ich tun?«, flehte ich. »Ich weiß nicht, wie ich ihn aufhalten soll. Er ist stärker als ich.«

Der Engel war schnell, schneller als ich ihm folgen konnte, aber jetzt stand er vor mir und in seinen Augen glühte ein goldenes Feuer. »Du bist ich! Er ist nicht stärker als du!«

Mein ganzer Körper schüttelte sich vor Schmerz und Angst. Er war nicht einfach nur Furcht einflößend, er war so viel mehr – er war wie Leben, Tod und alles darüber hinaus. Ich konnte mich in keiner Weise gegen ihn wehren.

Dann war er fast ebenso schnell wieder zurück am Fenster, ausdruckslos betrachtete er die Wassertropfen, die am Glas hinunterliefen.

»Deine Mutter …« Er zögerte, versunken in eine plötzliche Erinnerung. »Du bist wie sie. Schwierig. Ihr wagt zu fordern, was nicht sein kann. Wenigstens war sie weise genug, etwas zu haben, womit sie verhandeln konnte.«

»Wovon redest du?«

»Semangelof hätte eine solche Aufgabe nicht einem einzigen anvertrauen sollen. Er war leichtsinnig, aber … sie hatte trotzdem Erfolg. Sie wurde immer wertvoller und ihr Opfer verlieh ihr noch mehr Stärke. Wenn das nicht so gewesen wäre …« Er sah mich merkwürdig an. »Dann hätte ihr Kind es nicht überlebt, eine Essenz wie meine zu erhalten.«

»Ihr brauchtet sie«, sagte ich. Obwohl ich immer benommener wurde, drängte ich ihn weiterzureden.

»Ja. Sie allein war schon einzigartig, und ihr Kind zeigte Anzeichen, es umso mehr zu sein.«

»Ich war also der Gegenstand ihres Handels!« Die Wahrheit war gnadenlos, als ich sie voll erfasste. Bis zu diesem Moment hatte ich nicht geglaubt, dass ich noch schlechter von meiner Mutter denken konnte. »Wogegen hat sie mich eingetauscht? Gegen den Himmel?«

»Sie hatte zwei Bedingungen. Eine davon für ihr Leben und eine für dein Schicksal. Eine Abmachung wurde getroffen.«

»Was waren das für Bedingungen?«

»Das kann ich nicht verraten, ich kann nur sagen, worum ich sie gebeten habe – dass sie bei ihrem Ende eines der Armbänder tragen sollte.«

»Das kann nicht stimmen«, sagte ich, weil ich nicht wollte, dass irgendein Teil dieses Gesprächs wahr wäre. Ich hätte es gewusst, wenn sie ein Armband getragen hätte, als sie starb – Dad hätte etwas gesagt, wenn er das andere, das sie mir hinterlassen hatte, gesehen hätte.

»Doch, es ist wahr. Als sie von uns ging, blieb das Band bei ihrem Geist, nicht bei ihrem Körper.«

»Warum erzählst du mir das jetzt?«, fragte ich frustriert.

»Weil ich glaube, dass es jetzt an der Zeit ist, sich vorzubereiten.«

Ich schüttelte den Kopf und hätte fast gelacht – er würde es mir nicht sagen.

»Wie auch immer, es ist mir egal, was meine Mutter gemacht hat. Sie ist tot – gut, dass wir sie los sind.«

Mein Engel sah mich an, in seinen Augen blitzte immer noch goldenes Feuer.

»Du hast das Gefühl, nichts zu haben.« Das war keine Frage.

Ich legte eine Hand an meinen Kopf, der unter seinem prüfenden Blick brannte. Meine andere Hand streckte ich weit aus.

»Schau gut hin, Engel-dessen-Name-ich-nie-erfahren-werde! Siehst du um mich herum viele glückliche Gedanken?«

»Vielleicht hast du alles und kannst es nur nicht sehen.«

Ich ging einen Schritt auf ihn zu, und in meinem Blick loderte jetzt mein eigenes Feuer. »Klar. Und was verstehst du schon davon? Du hast keine Ahnung, was es bedeutet, menschlich zu sein. Denn wenn es so wäre, würdest du etwas tun.« Ich forderte ihn heraus.

Etwas huschte über sein Gesicht und veranlasste mich, seinem Blick zu folgen. Ich schnappte nach Luft. Blut sickerte durch mein Oberteil. Ich konnte es zwar nicht fühlen, aber es war real.

»Er bringt mich um.«

»Umbringen, ja. Aber nicht dich.«

Er kam auf mich zu, dieses Mal langsamer. Bevor ich mich selbst daran hindern konnte, hatte ich schon einen Schritt zurück gemacht. Eigentlich wusste ich es besser, diese Art von Schwäche sollte ich vor ihm nicht zeigen.

Er machte einen weiteren Schritt – dieses Mal rührte ich mich nicht vom Fleck. Um seine Mundwinkel zuckte es. Zuerst dachte ich, ich würde ihn amüsieren, aber es war etwas anderes – Faszination vielleicht oder gar … Stolz.

»Wir gaben den Menschen vor langer Zeit ein Mantra. Das gebe ich dir jetzt, denn, Kind eines Soldaten, Kind eines Menschen, Kind eines Engels – es ist nicht nötig, die Schlacht zu gewinnen, wenn du am Ende den Krieg gewinnen kannst.«

»Dann hilf uns!«, bat ich, meine Hände zitterten, als ich auf das Blut hinunterblickte. Ich verstand nicht.

Seine Hand wanderte zu meinem Bauch, wo er sie mit tropfendem Blut bedeckte. Dann zog er meinen Dolch aus seiner Scheide und schmierte mein Blut auf die Klinge, bevor er den Dolch wieder zurücksteckte.

»Das habe ich bereits«, sagte er. Dabei streckte er wieder die Hand aus, wobei sein Arm jetzt wie die Tatze eines Löwen aussah. Bevor ich reagieren konnte, zog er sie mir mit solcher Wucht durch das Gesicht, dass ich auf die hintere Wand meines Ateliers zu flog. Ich machte mich schon darauf gefasst, geradewegs durch sie hindurchzubrechen.

Stattdessen … schlug ich die Augen auf.