Kapitel Fünfunddreissig

»Die furchterregenden Geräusche, die aus ihren Vulkanen drangen, hielt man bestimmt für die Schreie gequälter Seelen in den Feuern der Hölle darunter.«

Haraldur Sigurdsson

Spence ging voraus, um die Verbannten aufzuhalten, die sich uns näherten. Es war wie in »Die Nacht der Lebenden Toten«, alle waren mit Asche und Blut bedeckt. Kein schöner Anblick.

»Griffin«, sagte ich. Mir stockte die Stimme, weil ich so froh war, ihn zu sehen. »Phoenix sagt, wir sollen den Natur-Verwendern sagen, dass der Wind auf ihrer Seite ist, aber ich weiß nicht, was genau das bedeutet.«

»Wir können nichts von dem, was er sagt, glauben«, sagte Griffin abweisend.

»Doch, können wir«, sagte Lincoln. »Das war Teil des Handels. Er wird sich daran halten.«

Ich nickte, Lincoln stützte mich und trug fast mein ganzes Gewicht, während ich mich an ihn lehnte. »Er will nicht, dass alle sterben, er will sie nur zurückhaben.«

Griffin sprach in ein Walkie-Talkie. Ich hörte Josephine sprechen und er gab die Neuigkeiten weiter.

»Da ist noch etwas«, sagte ich, während ich versuchte, mein Gewicht selbst zu halten. »Ich habe die drei dem Wasser geopfert. Wenn drei Opfer an den Vulkan diesen zum Ausbruch bringen, kann es nicht gut sein, drei Opfer dem Wasser dargebracht zu haben.«

Griffin lächelte. »Darauf sind wir vorbereitet. Kommt, wir müssen uns beeilen.«

Das war ein Befehl und wir befolgten ihn. Hinter uns begann der Vulkan zu grollen. Er war kurz davor, auszubrechen.

Wir gingen schneller, und als wir uns dem Schlachtfeld am Fuß des Vulkans näherten, drehte ich mich um und sah, wie er flüssiges Feuer aus seiner Öffnung in den nachmittäglichen Himmel spie, der dunkel wurde wie die Nacht.

»Tosende Flammen durchbohren die Luft«, sagte ich.

Lincoln blickte über seine Schulter und drängte mich weiter. Wir sprangen in das Gewimmel aus Verbannten und Grigori, und ich weiß nicht, woher es kam – vom Adrenalin, von Lincoln oder dem Engel, der mich gemacht hat –, aber ich beschwor meine letzten Kraftreserven herauf. Lincoln und ich kämpften Seite an Seite, flankiert von Griffin und Spence, und schalteten Verbannte aus, die uns im Weg standen.

Wir bahnten uns unseren Weg mitten durch das Schlachtfeld und fanden Samuel, Kaitlin, Nathan und Becca, die erbittert kämpften. Als wir einander sahen, taten wir uns zusammen und bildeten einen Kreis, in dem wir Rücken an Rücken kämpften, um gegenüber unseren Feinden einen Vorteil zu erringen.

Lincoln übernahm die Hauptlast des Angriffs, und ich schaffte es, diejenigen zu Fall zu bringen, die durchkamen, bevor er eingreifen konnte, um sie zurückzuschicken. Einige Male versuchte ich, meine Kraft einzusetzen, um ihnen Einhalt zu gebieten, aber das schaffte ich nur hin und wieder, bis Lincoln übernahm.

Jede Bewegung riss an der Wunde auf meinem Rücken, und ich kämpfte gegen das aufkommende Gefühl, ohnmächtig zu werden. Die ganze Zeit über beobachtete ich die Lava, die sich am Vulkan herunter auf uns zuwälzte. Wir hatten nicht mehr viel Zeit.

Ich suchte überall nach ihm, ich wusste, dass meine Entscheidung, ihn zu vernichten, noch vor meinem Entschluss stand, am Leben zu bleiben. Doch Phoenix war längst weg. Dieses ganze Schlachtfeld war arrangiert worden, um von seiner Flucht abzulenken.

»Leute, wir müssen hier raus!«, wiederholte Griffin seinen Befehl noch mal.

Da bemerkte ich, dass alle Grigori außer uns schon auf den Booten waren.

»Los, gehen wir!«

Wir behielten als Team unseren Kreis bei und kämpften gegen wütende Verbannte. Sie sahen die Lava ebenfalls kommen, und genau wie wir spürten sie, dass sich noch etwas anderes zusammenbraute, aber trotzdem kämpften sie verbissen, sie brauchten das Töten, mussten unbedingt die Grausamsten sein und daran glauben, dass sie überleben würden.

»Geh!«, brüllte mir Lincoln zu, als wir uns dem Boot näherten. Aber ich wich nicht von seiner Seite. Er warf mir einen Blick zu, während er den Verbannten schlug, den er gerade fest im Griff hatte.

»Griffin!«, rief Lincoln. »Wir gehen jetzt an Bord!«

Er packte den Verbannten, gegen den er gerade kämpfte, und rammte ihm den Dolch in die Brust, dann wirbelte er herum und ergriff mich mit derselben Bewegung, wobei er meinen Schmerzensschrei ignorierte. Dann sprang er auf das Boot. Als er mich absetzte, lächelte er. »Musst du immer so schwierig sein?«

Ich atmete schwer und musste mich anstrengen, um mich aufrecht zu halten, aber unwillkürlich lächelte ich zurück. Wir drehten uns beide um und beobachteten, wie die letzten unserer Gruppe, Griffin und Spence, an Bord sprangen. Dann legten wir ab und ließen die Verbannten auf ihre eigenen Boote klettern.

Josephine drängte sich mit erhobenen Händen nach vorne zum Bug. Sekunden später explodierte eines der Boote, Verbannte stürzten mit rudernden Armen ins Wasser und ertranken.

»Sie hassen das Wasser«, sagte ich, als Josephine auf dem Rückweg an uns vorbeiging. Eine Frau auf einer Mission.

Sie blickte mich kurz an, ein kleines Lächeln durchbrach ihr stahlhartes Äußeres. »Ich weiß.«

Unsere Boote waren jetzt zwischen dem Vulkan und Santorin in einer Reihe positioniert. Die übrigen Boote, die wahrscheinlich mit den verbliebenen Verbannten gefüllt waren, fuhren rasch auf Santorin zu.

Ich hasste es, dass sie davonkamen, aber dann sah ich die Reihe von Menschen am Ufer. Nicht Menschen, Grigori. Sie warteten auf sie.

»Wer sind die alle?«, fragte ich ungläubig.

»Die Abtrünnigen«, antwortete Lincoln.

»Da kommt sie!«, rief Josephine, und wie bei einem Domino-Effekt wiederholte eine Person von jedem Boot das, was sie sagte, für das nächste, damit alle es hörten.

Lincoln schlang einen Arm um mich. Ich schrie auf, weil er den Baumwollstoff meines T-Shirts in die ungeschützte Wunde auf meinem Rücken drückte, sodass es einschnitt wie Klingen aus Feuer.

»Tut mir leid, aber wir müssen zurückweichen«, sagte er.

Ich nickte, aber bei jedem Schritt weinte ich. Jetzt wo ich aufgehört hatte zu kämpfen, wurde der Schmerz nur noch schlimmer.

»Was wollen sie unternehmen?«, fragte ich, als wir aufgehört hatten, uns zu bewegen, und ich wieder atmen konnte.

»Sieh einfach zu. Es wird entweder das Faszinierendste sein, was du je gesehen hast, oder das Letzte, was du je sehen wirst.«

»Das warst du.«

Er sah mich an und etwas Neues lag in seinem Gesichtsausdruck. »Du wusstest es?«

Ich verdrehte die Augen und spielte die Überraschte. »Welchen Teil meinst du? Dass du mir vorsätzlich nicht gesagt hast, wie der Plan ist, weil du wusstest, dass ich mit Phoenix gehen würde? Oder dass du wusstest, dass mit der obersten Herrschaft‹ ich gemeint bin und mit dem Herz von Mann‹ du?«

Auf Lincolns Gesicht zeichnete sich Überraschung ab, aber dann nickte er. »Eigentlich war das nicht alles ich. Nachdem du mit Phoenix weggegangen warst, sagte ich zu Steph, dass du die oberste Herrschaft sein musst, und sie kam dahinter, dass ich ein Kandidat für das andere sein könnte. Griffin bestätigte das.«

»Und der Rest?«

»Ich konnte nicht sicher sein, was Phoenix im Schilde führte. Aber ich wusste, er würde zu dir kommen.« Er zögerte. »Und ich wusste auch, dass es nicht Kaitlin war, die dir von diesem Ginseng-Getränk erzählt hat.«

Ich schnitt eine Grimasse, aber er lächelte nur.

»Mir wurde erst in dieser Nacht auf dem Dach klar, dass er es nicht auf menschliche Opfer anlegte – wir wissen, dass jeder andere Verbannte das als vorrangig betrachten würde –, aber als er mich darum bat, Gressil zu töten, wusste ich, dass es nicht nur darum gehen konnte, dich zu beschützen.«

»Und du warst dir sicher, dass ich mit ihm gehen würde?«, fragte ich.

Er zog mich näher zu sich heran, zögerte aber, als er sah, dass sich mein Körper vor Schmerz verkrampfte. »Ich kenne dich. Und Phoenix kennt dich auch. Durch deine Reaktion, als er Steph entführt hat, wusste er, dass er diese Drohung wieder bei dir einsetzen konnte. Du würdest alles tun, um die Leute zu schützen, die du liebst.«

»Und warum hast du mir das dann nicht einfach gesagt?«

»Weil er dann alles herausgefunden hätte, selbst wenn er es nur durch dich gespürt hätte – das Risiko konnten wir nicht eingehen.«

Ich erinnerte mich daran, wie wütend Phoenix gewesen war, als er nicht mehr Informationen aus mir herausholen konnte.

»Wenn er gewusst hätte, was wir vorhaben und es nicht mit seinen eigenen Plänen übereingestimmt hätte, dann hätte er es vielleicht an dir oder an Steph oder an irgendjemand anderem ausgelassen und du hättest es dir nie verziehen. So wusstest du nichts, was gegen sie hätte eingesetzt werden können, etwas, wofür du dir später die Schuld hättest geben können. Aber …« Er ließ den Kopf hängen und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Ich hatte keine Ahnung, dass er dich so lange bei sich behalten würde. Ich … ich habe überall gesucht, Vi. Das hat mich fast um den Verstand gebracht. Es tut mir so leid … ich darf mir gar nicht vorstellen …« Ich legte meine Hand auf seine nackte Brust und schnitt ihm das Wort ab. »Ich habe fast die ganze Zeit bis zu den Opfergaben geschlafen. Er hat mich nicht angerührt – nur als ich in angegriffen habe.«

Erleichterung breitete sich auf Lincolns Gesicht aus, er ergriff meine Hände und drückte sie. Neben uns kam es zu Bewegungen, Leute rannten am Deck auf und ab. Lincoln deutete auf den Vulkan, der jetzt endgültig ausbrach. Wir würden nicht mehr lange sicher sein, aber Flucht kam auch nicht infrage.

Er drückte wieder meine Hand. »Es geht los.«

Während wir den Vulkan beobachteten, dachte ich über die Tatsache nach, dass Lincoln die ganze Situation kontrolliert hatte, seit wir in Santorin angekommen waren. Griffin hatte recht gehabt, ihm die Verantwortung zu übertragen.

Der Vulkan erleuchtete den Himmel, blutrotes Feuerwerk explodierte an seinem Gipfel, Feuer regnete herunter und sprang vom Rand des Kraters, Lava wälzte sich an den Hängen herunter. Fast die ganze Insel war jetzt von Flüssen aus Feuer bedeckt, während sich darüber hinaus bestimmt auch noch eine Kraft gebildet hatte wegen meiner drei ersten Opfer. Jetzt konnten wir den Preis dafür erkennen: eine Welle im Meer, so riesig, dass sie nicht wie Wasser aussah, sondern so, als würde sich das Ende der Welt auf uns zu bewegen.

Trotz der Schmerzen klammerte ich mich fest an Lincoln.

»Eine Welle des Todes … Ein Tsunami!«

»Jetzt!«, schrie Josephine.

Zoe breitete mit Schwung ihre Arme weit aus und warf den Kopf in den Nacken. Auf dem Boot neben ihr taten ein paar Grigori, die ich nicht kannte, genau das Gleiche. Im Wasser um die Ufer der Insel entstanden Strudel. Andere Grigori fingen an, etwas in diese Strudel zu werfen.

Der Tsunami kam näher und wurde größer.

Wenn uns dieses Ding trifft, sind wir alle tot.

»Griffin!«, brüllte Josephine.

Plötzlich explodierten die Strudel, aus den Tiefen des Meeres schossen von links nach rechts Wasserfontänen nach oben, formierten sich und wurden zu einem neuen Tsunami.

Als ich wieder zu Griffin hinüberschaute, sah ich, dass er so etwas wie eine Fernbedienung in der Hand hielt. Sie hatten Sprengstoff verwendet.

Die neue Woge saugte das Wasser in der Umgebung von Santorin auf und bewegte sich von dort auf das offene Meer und den herannahenden Tsunami zu, der aussah, als würde er unsere selbst gemachte Welle als Snack verspeisen.

Hinter unserer Welle blitzte etwas in Lichtgeschwindigkeit auf, das sich so schnell hin und her bewegte, dass es kaum zu erkennen war. Der Wind nahm zu und machte den Wellenkamm noch höher.

»Phoenix«, flüsterte ich.

Aber das reichte nicht.

»Hiro!«, schrie Josephine.

Ich sah zu, wie er und zwei andere Grigori – genau wie die anderen es getan hatten – ihre Kräfte koordinierten und riesige Felsbrocken von hinten auf ihren Booten in Bewegung versetzten und auf unsere Welle zuschleuderten, die jetzt sowohl mit der schmelzenden Insel als auch mit dem heranrückenden Tsunami auf Kollisionskurs ging.

Als würde er die Bedrohung wahrnehmen, brüllte der Vulkan in einer weiteren Explosion auf, Lava floss jetzt in das brodelnde Wasser und färbte den Meeresboden rot.

Der Tsunami schlug mühelos über dem Vulkan zusammen, als wäre er kein Hindernis. Ich klammerte mich an Lincoln.

Das war’s.

Als unsere Welle, die im Vergleich so winzig aussah, nur noch Meter von einem Aufprall entfernt war, rief Josephine wieder: »Jetzt!«

Die Felsbrocken flogen nacheinander in die Welle, während der Tsunami daraufkrachte. Wie bei einem perfekt ausgeführten Finale ließ Josephine die Felsen in Milliarden von Atomen zerspringen und zwang dadurch den ganzen Tsunami nach oben in Richtung Himmel.

Unsere schwache Wolke – David gegen Goliath.

In diesem Moment kam der Wind wieder, dieses Mal aus Richtung Santorin. Er blies stark und schnell. Zoe und die anderen Natur-Verwender vergrößerten seine Stärke noch, bis er auch die Regenwolken mitnahm, die über der Insel hingen. Der Wind wehte den Tsunami zurück aufs Meer, schoss nach unten, um den Vulkan zu besänftigen, und verwandelte dabei das noch verbleibende rote Glühen in glimmendes Schwarz.

Die Sonne durchbrach die Dunkelheit, während wir im Platzregen standen. Griffin blickte auf, wässriger Ruß lief an seinem Hals herunter. »Ich denke, jetzt sind alle Augen weit geöffnet.«

»Kein Wunder, dass sie weinen«, sagte ich leise, denn ich konnte es bereits fühlen. Etwas anderes, etwas, das nicht dazugehörte, war bei uns.

Aber ich konnte es auch nicht abstreiten: Phoenix hatte uns geholfen, Santorin zu retten.