Kapitel Dreissig
»Die menschliche Seele befindet sich stets zwischen einer Hemisphäre des Lichts und einer Hemisphäre der Dunkelheit; auf der Grenze dieser beiden ewigen Reiche stehen Notwendigkeit und freier Wille.«
Thomas Carlyle
Lincoln kam nicht zum Abendessen ins Restaurant. Josephine sagte uns, er hätte beschlossen, mit Mia und Hiro in Fira Patrouille zu laufen. Es war das einzige Mal an diesem Abend, dass sie mich überhaupt wahrnahm, und sie war ganz erpicht darauf, meine Reaktion zu sehen, weil sie es genoss, mich zu quälen. Aber die Genugtuung verschaffte ich ihr nicht – alle wechselten sich beim Patrouillieren ab, Lincoln hatte offenbar beschlossen, eine Extraschicht einzulegen, um mich zu meiden. Ich war erleichtert, auch wenn ich nicht voll und ganz ignorieren konnte, dass sich mein ganzer Körper schmerzlich nach ihm sehnte.
Das war so, seit wir uns in Jordanien näher gekommen waren. Vielleicht hatte es auch schon früher angefangen. Der Schmerz, den ich verspürte, wenn ich in seiner Nähe war, wurde immer stärker. Doch manchmal, so wie jetzt, war getrennt voneinander zu sein sogar noch schlimmer. Ich spürte ein so starkes Verlangen, dass es sich anfühlte, als würde es mich von innen heraus zerreißen.
Ich bemühte mich, meine Schutzbarrieren aufrechtzuerhalten, und ich wusste, er würde dasselbe machen, wo immer er auch war. Doch ich bezweifelte, dass jemals etwas unsere »Verbindung« trennen konnte. Falls ich schon sonst nichts erreicht hatte, so hatte ich wenigstens dafür gesorgt, dass er mich für den Rest des Abends meiden würde. Und das war für mein Vorhaben nur gut.
Ich schob mein Essen auf dem Teller herum und nickte ab und zu bei den Gesprächen. Ich lachte sogar, als Spence die Hälfte seines gegrillten Tintenfischs auf sein T-Shirt fallen ließ. Ich verhielt mich normal, wenn auch ein wenig distanziert, aber das bemerkte niemand. Nicht einmal Steph, die zu sehr damit beschäftigt war, an einer Ecke des Tischs mit Salvatore zu plaudern, wobei sie hin und wieder ins Italienische verfielen, um süße Belanglosigkeiten auszutauschen.
Als der Nachtisch kam, stocherte ich in meinem Eis mit Mandelgebäck herum, während ich mich am Tisch umsah und mir einredete, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Ich hatte niemand anderes mit hineingezogen, niemand brauchte die Verantwortung für meine Taten zu übernehmen. Ich beschloss, Phoenix gegenüberzutreten, und wenn ich ihn davon abhalten konnte, die Pforten der Hölle zu öffnen, dann würde ich das tun. Das Wichtigste war, dass er meinen Freunden nichts tun würde.
Ich sah wieder auf meine Uhr, und als ich aufblickte, starrte Onyx mich an, als würde er mich geradewegs durchschauen.
»Du hast immer noch Kräfte, nicht wahr?«, fragte ich ihn. Ich hatte diesen Verdacht schon seit einiger Zeit, aber jetzt war ich mir sicher, dass er Dinge sah, die ein normaler Mensch nicht sehen konnte.
»Mich selbst mit Leuten zu umgeben, die Kräfte haben, scheint tatsächlich eine bestimmte Stärke in mir wiederaufleben zu lassen, aber nein, ich werde nicht wieder so mächtig wie früher. Nicht annähernd.«
»Deshalb wolltest du mitkommen, oder? Um in der Nähe zu sein?« Als er nicht antwortete, fuhr ich fort. »Hast du dich nach dem Angriff der Verbannten selbst geheilt?« Ich war noch nicht dahintergekommen, wie er sich so schnell hatte erholen können.
Seine Hand wanderte zu seinem inzwischen verheilten Gesicht und seinem Hals, als wäre er selbst auch überrascht darüber.
»Ich fürchte, das ist auch für mich ein Rätsel.« Er zuckte mit der Schulter, und ich merkte, dass er mir nicht die ganze Wahrheit sagte. »Was du wahrnimmst ist die Zeit. So viel Zeit und so viele Dinge, die ich gesehen habe. Es gibt nicht viele Gesichtsausdrücke oder Gedanken, die ich noch nicht kenne.«
Ich nickte – das ergab einen Sinn, aber das wollte ich nicht vor ihm zugeben, deshalb hielt ich meinen Gesichtsausdruck möglichst unbewegt.
»Zu spät.« Er schenkte mir ein breites Lächeln.
Nervös schaute ich mich um. Mein Instinkt riet mir, mich von ihm abzuwenden, aber aus irgendeinem Grund konnte ich nicht reagieren.
»Du hast Schmerzen – und zwar nicht nur seelische.«
»Nur Muskelschmerzen«, sagte ich und konzentrierte mich wieder auf mein Eis.
»Die Seele.« Er zog die Augenbrauen nach oben, als ich aufblickte. Ich hielt den Atem an.
»Was ist damit?« Immer wieder stach ich in mein Eis.
»Manchmal ist sie wie ein Tier in uns – sie ruft uns, füttert uns, führt uns. Aber das Tier ist wild, und wenn es sein Ziel gefunden hat und auf den Geschmack gekommen ist, dann wird es sich nicht beruhigen, bis es hat, wonach es verlangt. Deine Seele kämpft gegen dich, Violet. Du kannst sie nur so lange in Schach halten, bis …«
Ich schüttelte den Kopf und schnitt ihm das Wort ab. »Ich weiß, was du damit sagen willst, aber du irrst dich. Wir haben nie … Meine Seele hat sich nie mit seiner vereint.« Wir hatten dagegen angekämpft, hatten uns voneinander ferngehalten.
»Wenn Seelen zu lange verleugnet werden, können sie einen eigenen Kopf entwickeln. Sex ist die offensichtliche Form, sich zu vereinen, aber wenn eine Verbindung stark genug ist, kann sie auch durch andere Dinge zum Ziel kommen. Ein Blick, ein Kuss, eine Berührung, Worte – Erklärungen. Wenn die Seele durch sie angeregt wird, kann sie alles durchdringen. Vielleicht bist du nicht vollkommen mit ihm verbunden, aber der Prozess hat begonnen und deine Seele kratzt von innen an dir.« Ich beugte den Kopf, weil mir stille Tränen massenhaft über die Wangen liefen. Was er sagte, hatte Hand und Fuß.
»Und wenn ich sterbe?« Ich brachte die Worte kaum heraus.
Onyx dachte über die Frage nach. »Nein, er würde überleben.
Um euch vollkommen zu vereinen, müsstet ihr die Verbindung vollkommen und willentlich vollziehen, aber bis dahin musst du damit rechnen, immer mehr Schmerzen erdulden zu müssen, weil deine Seele nach mehr verlangt.«
Na, immerhin etwas. Ich sah wieder auf die Uhr.
»Musst du noch wohin?«
Mein Kopf fuhr nach oben, und meine nächsten Worte überraschten mich selbst, da mir bewusst wurde, dass ich meine endgültige Entscheidung getroffen hatte. »Ich muss sichergehen, dass mir niemand folgt.«
Onyx zuckte mit den Schultern, aber ich sah an seinen Augen, dass er schockiert war, weil ich ihm vertraute. »Ablenkungen sind meine Spezialität.«
Ich nickte dankbar. Er beugte sich zu mir vor, ergriff meine Hand, wobei sein Griff nicht einfach nur fest, sondern seltsam mitfühlend war.
»Ich wäre enttäuscht, wenn du nicht erfolgreich wärst.«
»Vorsicht, Onyx. Das klingt ja gerade so, als würdest du mich mögen.«
»Würdest du es vorziehen, wenn ich hoffen würde, dass du versagst? Dass die Hölle über uns alle hereinbricht, während deine Freunde um dich trauern und sich selbst die Schuld dafür geben? Oder sollte ich vielleicht sagen, dass ich, wenn ich Phoenix wäre, jeden Vorteil, den ich habe, ausnutzen und dich und alle deine Freunde sowieso umbringen würde?«
Es dauerte einen Moment, bis ich mich von seiner Ehrlichkeit erholt hatte, aber wieder überraschte ich mich selbst, indem ich lächelte. »Wie wäre es mit einem einfachen ›viel Glück‹?«
Prüfend ließ er seinen Blick über den Tisch schweifen, ich ebenfalls. Niemand hatte unsere gedämpfte Unterhaltung mit angehört.
»Wie wäre es damit?« Er senkte die Stimme, sodass ich ihn kaum noch hörte. »Du stammst von den Einzigen ab.«
»Das ist nichts Neues, Onyx.« Ich wollte mich auf meinem Stuhl zurücklehnen, aber sein Griff wurde fester.
»Die Einzigen haben das oberste Kommando.«
Ja … Das haben sie.
Warum war mir das bisher nicht aufgefallen? Wunschdenken …
Jetzt weiß ich wenigstens, warum Phoenix mich braucht und … wann er mit mir fertig sein wird.
Onyx stand auf, schnappte sich eine Flasche Wein vom Tisch, warf eine andere dabei um und fing an, sie wild herumzuschwenken, und dabei Trunkenheit vorzutäuschen. Ich fragte mich, wie oft er uns schon auf diese Weise getäuscht hatte.
Als er auf Steph zuging und die Flasche so herumwirbelte, dass der Inhalt auf ihrem Schoß landete, schlüpfte ich aus dem Zimmer. Onyx hatte seine Rolle perfekt gespielt. Steph wäre mein Verschwinden am ehesten aufgefallen. Jetzt würde sie eine Weile beschäftigt sein.
Als ich draußen war, rannte ich los. Durch die schmalen, gepflasterten Gassen von Santorin rannte ich vor der Wahrheit davon, vor meiner Seele und – was noch schlimmer war – vor meinem Herzen. Ich könnte nie die Wahrheit vor mir verbergen. Dass ich nicht mit Lincoln verbunden war. Es war nicht so, dass wir nur chemisch betrachtet Seelenverwandte waren und gegen irgendeine unüberlegte Verbindung ankämpften. Jetzt, wo Onyx es mir erklärt hatte, fühlte ich es umso mehr.
Meine Seele kratzte von innen an mir, verzehrte sich nicht nur nach dem, was sie sich ersehnte und wünschte … sondern nach dem, was ich liebte.
Es war schmerzhaft darüber nachzudenken, dass das vielleicht nicht für Lincoln zutraf und dass das vielleicht besser so war. Aber für mich würde der Schmerz, ohne ihn zu sein, niemals vorbeigehen, sondern nur größer werden. Wir könnten für alle Ewigkeit nebeneinanderstehen, aber wenn er nicht in jeder Hinsicht mir gehörte, würde das keinen Unterschied machen. Ich schaffte es zum Hotel und erhaschte einen Blick auf mich selbst im Spiegel des Foyers. Ich merkte, dass ich nicht aufgehört hatte zu weinen.
»Hast du es eilig?«, sagte eine Stimme. Ich wirbelte herum und bemerkte den Grigori mit der Lederjacke, den ich auf dem geheimen Meeting gesehen hatte. Er lehnte an der Wand.
»Du bist Gray, nicht wahr?«, fragte ich, während ich versuchte, mich zusammenzureißen.
Er zog die Augenbrauen nach oben. »Gelegentlich. Und du bist die, die ihre Leute so in Atem hält.«
»Du bist einer der Abtrünnigen, nicht wahr?«
»Ich bin genau wie du, Süße – ich lese das Kleingedruckte. Wo willst du denn hin?«
Ich wischte mir die Tränen ab. »Bist du mir gefolgt?«, fragte ich, fast vorwurfsvoll.
Er machte einen Schritt auf mich zu. »Du siehst aus wie jemand, der Ärger sucht.«
»Nein. Ich muss nur wohin.« Ich musste ihn loswerden. »Du bestimmt auch.«
»Ist das deine Art, mir mitzuteilen, dass ich abhauen soll?«
Ich warf einen Blick auf die Uhr, dann sah ich Gray an. Ich hatte keine Zeit mehr. »Soll ich es dir lieber auf eine andere Art sagen?«
Er warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Du glaubst wohl, du kannst es mit mir aufnehmen? Oh, wie amüsant, Süße. Aber es ist, wie du gesagt hast – ich muss auch wohin, vielleicht können wir dieses Gespräch irgendwann anders weiterführen.« Er machte noch einen Schritt auf mich zu, sodass wir uns fast berührten. »Und nur damit du es weißt – ich freue mich schon darauf.«
Er schenkte mir ein breites Grinsen und schlenderte aus dem Hotel hinaus.
Ich stürzte zur Treppe.
Als ich auf dem Dach ankam, krümmte ich mich vor Schmerzen. Ich stolperte zur Dachkante. Dad würde es gut gehen. Phoenix würde sein Wort halten und ihm nichts tun. Und selbst wenn ich es nicht zurückschaffte … vielleicht wäre er ohne mich, die ständige Erinnerung an Mum, besser dran. Endlich zeigte er die ersten Anzeichen dafür, dass es weiterging – vielleicht würde das zwischen ihm und Caroline funktionieren.
Steph hatte durch unsere Freundschaft bereits zu viel durchgemacht. Ich konnte nicht noch mehr von ihr verlangen. Jetzt war es für mich an der Zeit, auch mal die Vernünftige zu sein. Ich hatte ihr ein Geschenk unter das Kopfkissen gelegt, bevor ich heute Abend das Zimmer verlassen hatte. Sie würde wissen, was ich ihr wünschte, und wenn nicht, würde es zumindest zu ihrer Sicherheit beitragen.
Dann war da noch Griffin. Armer Griffin, er würde sich selbst die Schuld an allem geben, er würde denken, er hätte hier sein sollen, um mich aufzuhalten. Aber er war unser Anführer und er würde bis zum Ende seine Pflicht tun. Wenn mir etwas passierte, würde Griffin dabei helfen, Phoenix aufzuhalten.
Onyx hatte bereits verstanden, was seltsamer war als alles andere. Dapper würde so lange tun, als wäre ihm das alles egal, bis es ihm tatsächlich egal war. Spence wäre wütend auf mich, so wütend, dass er wieder in Ordnung kommen würde.
Und Lincoln. Ein Schrei entfuhr meinen Lippen. Er würde mich suchen. Aber ich musste akzeptieren, dass er mehr als jeder andere von uns ein Opfer wäre. Ich hätte ihn so oder so geliebt, auch ohne dieses ganze Seelen-Dings, aber er … Er fürchtete sich vor mir. Wenn Phoenix die Sache zu Ende führte und mich umbrachte, würde Lincoln eine neue – eine bessere – Partnerin zugeteilt werden. Er könnte endlich sein, was er schon immer sein wollte – ein großer Krieger. Und er würde Phoenix zurückschicken.
Phoenix.
Ich klammerte mich an das Geländer am Rand des Daches und schaute nach unten. Ich konnte es leugnen, so viel ich wollte – das hielt mich nicht davon ab, Angst zu haben. Dann rief ich mir wieder ins Gedächtnis, was werden würde, wenn ich nicht mit ihm ginge.
Er wird rasend sein und es an den Leuten auslassen, die ich liebe.
Ich konnte sie jetzt wahrnehmen. Sie kamen beide auf mich zu. Ich hatte meine Schutzmauern durch den Schmerz fallen lassen, meine Seele war ausgebrochen und meine Kraft hatte sich ausgedehnt. Lincoln rannte, ich konnte seinen Herzschlag spüren. Irgendwie wusste er, dass ich an einem Scheideweg angelangt war, aber er war zu weit weg, um zu helfen. Ich fragte mich, wo er war, warum er so weit weg war. Phoenix war näher, und er bewegte sich mit Lichtgeschwindigkeit.
Ich umklammerte meinen Dolch, um meinen zitternden Händen einen Halt zu geben, aber das half nicht viel.
Meine Gedanken rasten. Phoenix konnte jeden Augenblick hier sein und Lincoln lag nur Sekunden hinter ihm.
Lincoln wird unvorbereitet sein. Phoenix ist im Vorteil.
»Was machst du da bloß, Liebling?« Phoenix’ Stimme war leise. Er war nah, aber nicht nah genug. Noch hatte ich die Oberhand. Ich hielt meinen Dolch, die Spitze nach oben.
»Keine Bewegung, Phoenix.«
Er rührte sich nicht. Das zeigte mir nur, wie sehr er mich brauchte, damit sein Plan funktionierte.
Gressil und Olivier, seine beiden Verbannten-Generäle, sprangen hinter mir auf das Dach. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Phoenix Unterstützung mitbringen würde, aber ich war nicht die Einzige, die von ihrem Erscheinen überrascht wurde. Phoenix verbarg seine Reaktion rasch und streckte die Hand aus, damit sie blieben, wo sie waren. Beide taten, wie ihnen befohlen, aber Gressil kostete das Überwindung – er hatte eindeutig Hunger. Er wollte kämpfen.
Ich zwang meinen Blick zurück zu Phoenix. »Du wirst jeden auf dieser Insel töten, wenn du diesen Vulkan zum Ausbruch bringst. Das letzte Mal, als sie versuchten, die Pforten zu öffnen, wurde alles zerstört.«
Phoenix streckte die Hände aus, die Handflächen nach oben. »Ich möchte noch nicht mit dir kämpfen. Das werde ich später tun. Ich brauche dich, ja – aber ich habe dich früher schon einmal geheilt, und das kann ich wieder tun.«
»Es gibt Kinder hier, Phoenix, Babys, Tausende von Menschen haben hier ihr Zuhause. Ob du es zugeben willst oder nicht, ich bin mir sicher, dass der Mensch in dir das weiß. Ich kann nicht zulassen, dass du das tust.«
Seine Augen wurden schmal und sein Blick huschte zu Gressil und Olivier hinüber.
Ist dieser Blick für mich gedacht?
Er wirkte fast wie eine Warnung.
»Wie wäre es mit einem Kompromiss?«, bot er an. Er sah mich jetzt eindringlich an.
Ich spürte Lincolns Entschlossenheit, seine Kraft wuchs und suchte nach mir. Er wusste, wo ich war, er würde gleich hier sein.
»Schnell«, sagte ich.
Phoenix zögerte nicht. Vielleicht spürte er auch, dass Lincoln sich näherte. »Ich werde dafür sorgen, die Zerstörung so gering wie möglich zu halten. Ich kann nicht versprechen, dass ich alle retten kann, aber ich kann verhindern, dass die Massen mit dem Vulkan zugrunde gehen. Ich werde Tausende retten, wenn du mit mir kommst.«
Etwas an der Art, wie er das sagte, ließ mich glauben, dass er zufrieden war.
Ich konnte nicht klar denken.
Er bietet mir einen Handel an: Wenn ich mit ihm gehe und ihm helfe, die Pforte zu öffnen, wird er dafür Leben retten. Aber wenn es funktioniert und Lilith zurückkehrt, würden dann nicht ohnehin Tausende sterben?
Phoenix machte einen Schritt auf mich zu.
»Nicht«, warnte ich ihn. Er war klug genug, stehen zu bleiben.
Die Tür zum Treppenhaus flog auf und Lincoln kam herausgestürzt. Als er Phoenix vor sich sah, erstarrte er. Drei der tödlichsten Verbannten, die es gab, standen nur ein paar Meter von ihm entfernt.
»Nun, sind wir nicht das perfekte Dreieck?«, sinnierte Phoenix. Seine Worte trafen einen wunden Punkt – ich hatte mir gerade erst die Dreiecke angeschaut, die ich gezeichnet hatte.
Lincoln erfasste die Szene rasch. Wir hatten nur eine geringe Chance, Phoenix, Gressil und Olivier zu überwinden, vor allem angesichts der Macht, die Phoenix über mich hatte.
»Violet, nicht … Nicht …«, sagte er leise.
Aus den Augenwinkeln konnte ich Gressil sehen. Sein Gesicht war wild, er konnte sich kaum zügeln, und jetzt starrte er mit tödlichem Blick in Phoenix’ Richtung. Phoenix würde ihn nicht mehr lange in Schach halten können.
»Ich habe Violet einen Kompromiss angeboten: Sie kommt mit mir, um die Menschen auf dieser Insel zu retten.«
»Wenn ich nicht mit dir komme, wird es sowieso nicht funktionieren!«, hielt ich dagegen. Ich bemühte mich immer noch, alle Seiten dieser Entscheidung abzuwägen.
Phoenix Augen wurden so schmal, dass ich merkte, dass er die Geduld verlor. »Ich kann den Vulkan auch ohne dich zum Leben erwecken, und wenn du nicht mit mir kommst, dann überlasse ich Gressil und Olivier die Grigori-Schrift, damit sie damit tun können, was sie wollen.«
Gressil lächelte.
Mir lief es kalt den Rücken runter. Ich wusste, es würde ihm großes Vergnügen bereiten, jeden Menschen, dem es bestimmt war, ein Grigori zu werden, zu jagen und zu töten. Ich erinnerte mich daran, wie ich mich gefürchtet hatte, als ich Phoenix zum ersten Mal begegnet war und entdeckt hatte, dass er ein Verbannter war. Ich konnte mir nicht vorstellen, mit jemandem konfrontiert zu werden, der so brutal wie Gressil war.
»Violet«, sagte Lincoln ruhig. »Sieh mich an.«
Doch ich konnte nicht. Es kostete mich meine gesamte Kraft, den heftigen Schmerz abzuwenden. In seiner Nähe zu sein hatte noch nie so wehgetan.
»Ich komme mit«, sagte Lincoln zu Phoenix.
Phoenix lachte. »Ich fürchte nein. Entweder sie oder keiner, aber ich werde dafür sorgen, dass du gute Chancen hast, sie in einem Stück zurückzubekommen …« Er verstummte. »Ihre Handlungen habe ich allerdings nicht unter Kontrolle. Oder deine. Ich habe mein Angebot gemacht, und dafür habe ich mehr als genug Zeugen«, sagte er und drehte sich zu Olivier um. Dann sah er wieder Lincoln an, und ein anderer Ausdruck huschte über sein Gesicht, bevor er sich an Gressil wandte. »Ich werde keine lebensbedrohlichen Verletzungen bei ihr verursachen.« Er wandte sich wieder an Lincoln, und ich war mir sicher, dass irgendwelche Botschaften ausgetauscht wurden. Lincoln nickte.
Ich wagte einen weiteren Blick in Lincolns Richtung. Schweiß tropfte ihm von der Stirn und sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt. Fühlte er es auch? Nein, er war von Gott weiß wo den ganzen Weg hierher gerannt und war einfach nur erschöpft. Ein Grund mehr für mich, mitzugehen – es würde nicht gut ausgehen, wenn er so gegen Phoenix kämpfen müsste.
»Nein. Nein, Violet, hör mir zu!« Lincoln merkte, wohin meine Gedanken gingen. »Komm hier rüber. Du musst zu mir kommen.« Unbewegt stand er da.
Alles hing von mir ab. Ich musste näher zu Lincoln, sonst konnte er nicht versuchen, mich zu verteidigen. Und Phoenix würde sich mir erst nähern, wenn er wusste, dass ich kooperieren würde.
»Bitte, Violet. Das fällt nicht in unsere Verantwortung. Bitte sieh mich an.« Lincoln klang so erschöpft, dass schon ein einziger Blick mir zu sehr wehgetan hätte. Ich konnte ihn nicht mehr anschauen, ohne in Stücke gerissen zu werden.
Er seufzte. Das war ein so trauriges Geräusch, dass es sich wie ein Messer in meinem Herzen anfühlte. »Schon gut. Ich … ich verstehe. Dann hör einfach zu. Du, Violet Eden, wirst das nicht tun. Du wirst nicht den einfachen Weg wählen, denn das tust du nämlich gerade. Du hörst nie auf zu kämpfen. Wir hören nie auf zu kämpfen. Wir werden einen anderen Weg finden, dies zu beenden. Vi, ich kann nicht …«, aber er wurde unterbrochen, denn wieder flog die Tür zum Treppenhaus auf.
Gray.
»Entscheide dich!«, forderte Phoenix.
Gray zögerte und versuchte, die Situation zu erfassen. Sein Blick ruhte auf mir und ich merkte, dass er sich hier nicht einmischen würde.
Er hat Lincoln zu mir geführt.
Plötzlich wurde mir klar, dass sie zusammenarbeiteten – ich wusste nur nicht, was für einen Plan sie hatten.
Er trat einen Schritt zurück, griff beiläufig nach der Treppenhaustür und lehnte sich dagegen.
Gerissen.
Er versperrte sie.
Lincoln hatte recht. Ich laufe nicht weg. Violet Eden gibt nicht auf. Und sie träumt keine dummen Träume, die wie im Bilderbuch enden. Ich umklammerte meinen Dolch fester. Die Zeit war abgelaufen. Ich musste eine Entscheidung treffen und eigentlich hatte ich schon mehr erreicht als erwartet. Phoenix war ein Empath. Er konnte besser als jeder andere, sogar als Lincoln, meine Gefühle wahrnehmen. Er wusste bestimmt schon seit einer Weile, dass meine Entscheidung gefallen war und wie es sich für mich angefühlt hatte, sie treffen zu müssen. Und doch hatte er meinen Köder geschluckt, mir einen Handel angeboten, fast als hätte er die ganze Zeit dasselbe gewollt …
Genau das ist es! Er will nur Lilith. Er wird tun, was immer er tun muss, um sie zurückzuholen. Aber er kann wohl kaum zu den anderen sagen, dass er nicht völlig begeistert ist von der Idee eines Massenmordes. Meine einzige Option war, mit ihm zu gehen.
»Gressil, du kannst hierbleiben, wenn du möchtest. Olivier, ich brauche deine Anwesenheit«, befahl Phoenix und lächelte, als er spürte, dass ich mich entschieden hatte.
Ich wandte mich Lincoln zu. »Es tut mir leid«, flüsterte ich, während ich meinen Dolch zurück in die Scheide steckte und die Arme weit ausbreitete.
Sie bewegten sich beide, aber Phoenix hatte mich schon in seinen Fängen, noch bevor Lincoln auch nur einen Schritt gemacht hatte.
Ich schloss die Augen und wehrte mich nicht. Als er sein Gesicht in meinem Haar vergrub und mir sanft »schlaf jetzt« ins Ohr murmelte, wusste ich, dass ich widerstehen könnte, aber stattdessen unterdrückte ich diesen Impuls und erlaubte mir, in einen sanften Schlummer zu fallen.