Kapitel Einundzwanzig

»Jedes Süße hat sein Bitteres, jedes Bittere sein Süßes, jedes Böse sein Gutes.«

Ralph Waldo Emerson

Die Akademie gab es schon sehr lange. Unter anderem hatte die Organisation eindeutig Geld. Kein Wunder, dass es ihr nichts ausmachte, dass wir mit »Königin« Josephine unterwegs waren. Diese würde sich wohl kaum für den Charme irgendwelcher heruntergekommenen Pensionen begeistern können. Da auf Santorin keine Grigori dauerhaft wohnten, gab es keine sicheren Grigori-Unterkünfte wie in Jordanien, die wir hätten benutzen können.

Das Hotel, in dem wir abgestiegen waren, lag hoch über Fira, der Hauptstadt der Insel, und war deshalb gut zu verteidigen. Man blickte von dort auf Hunderte weißer Gebäude hinunter. Weiß war die einzige Farbe hier – abgesehen von sporadischem Blau oder einem goldenen Kuppeldach. Die Architektur der Gebäude ahmte die natürlichen Kurven der Landschaft nach. Ich bemühte mich, nicht so lange hinzuschauen – versuchte, nicht an Dad zu denken. Aber es war schwierig, nicht wie gebannt zu sein von dieser Stadt, die sich so aufsehenerregend schön über dem Wasser erhob.

Meine Aufmerksamkeit driftete über das unmittelbar vor mir Liegende hinaus – zum nächtlichen Meer und dem Vulkankrater. Es sah so harmlos aus, eine winzig kleine Insel, die durch nichts erleuchtet wurde, kein hoch aufragender Gipfel, der ihr Stärke verlieh – sie schien ganz und gar trügerisch leblos.

Steph war bereits verschwunden, und ich hatte noch eine Stunde Zeit, bis Lincoln und ich uns unten treffen sollten. Ich starrte mein Handy an und fragte mich, ob ich es einschalten und Dad anrufen sollte, aber dann legte ich es in meine Nachttischschublade. Schließlich ließ ich mich auf das Bett fallen und hatte nicht vor, mich in den kommenden fünfundfünfzig Minuten von der Stelle zu rühren.

Ich hatte gerade meine Schuhe ausgezogen, als jemand an die Tür klopfte.

»Geh weg!«, rief ich, weil ich annahm, es wäre Spence oder jemand von den anderen.

»Josephine schickt mich«, rief eine Mädchenstimme.

Ich seufzte und verdrehte die Augen zur Decke, bevor ich mich vom Bett wälzte. Ich brauchte wirklich Schlaf. Ich schleppte mich zur Tür, und als ich sie aufmachte, stand Morgan davor, mit einer großen schwarzen Schachtel, die sie in den ausgestreckten Armen hielt, und dem Aktenkoffer, den Josephine uns vorhin gezeigt hatte.

Sie lächelte höflich und drängte sich dann an mir vorbei. Vorsichtig stellte sie die Schachtel auf das Bett und den Aktenkoffer daneben.

Sie drehte sich zu mir um und verzog das Gesicht. »Du weißt aber schon, dass du in weniger als einer Stunde bereit sein musst?«

Ich sah auf meine Kleider hinunter. In meiner Jeans und meinem Trikothemd sah ich ziemlich normal aus, mein Schlabberpulli war noch immer um meine Taille gebunden. Und Wie-viele-Stunden-auch-immer nach meiner letzten Dusche war nicht einmal ich selbst erpicht auf einen Achselhöhlentest.

Morgan schüttelte den Kopf und strafte damit ihr ausdrucksloses Gesicht Lügen, dann erschien ein schiefes Lächeln auf ihrem Gesicht, das die Frage aufwarf, ob die Ninjas wirklich so schlimm waren.

»Josephine schickt dir ein Kleid und Schuhe.« Sie biss sich auf die Lippen. »Du springst jetzt besser unter die Dusche, während ich mich um deine Kleider und dein Make-up kümmere. Wo ist alles?«

Sie fiel vor Schreck fast um, als ich ihr zeigte, was ich kosmetikmäßig dabeihatte. Ich weiß auch nicht, warum sie so überrascht war. Ich hatte nicht damit gerechnet, mich aufbretzeln zu müssen. Zu Morgans Glück enthielt Stephs Tasche alles an Kosmetikartikeln, was man sich nur wünschen konnte. Unwillkürlich musste ich lachen und wurde viel entspannter. Ich hatte Morgan bereits als emotionslose Wasserträgerin abgestempelt, aber sie war eher so etwas wie eine Kampf-Barbie.

Ich tat, was mir befohlen wurde, zu müde, um herumzustreiten, und nahm eine schnelle Dusche. Dabei befolgte ich die Anweisung, meine Haare nicht nass zu machen, weil wir nicht genug Zeit hatten, sie zu trocknen.

Eingewickelt in den gemütlichen weißen Hotelbademantel, der mich nur noch mehr zum Schlafen animierte, kam ich aus dem Badezimmer und entdeckte, dass Morgan mein Zimmer in einen Schönheitssalon verwandelt hatte. Stephs sämtliche Kosmetikartikel waren auf die eine oder andere Weise nach Art und Farbe sortiert, da lagen Bürsten, die sie ebenfalls in Stephs Taschen gefunden haben musste, Glätteisen und Nagellack. An der offenen Schranktür hing ein Kleid – ich schnappte nach Luft und stürzte dann zu meinen Dolch.

Morgan machte einen Satz und hielt verteidigend die Hände hoch. »Was ist los mit dir? Hat dich noch nie jemand geschminkt?« Sie klang, als hätte ich ernstlich ihre Gefühle verletzt.

»Woher stammt das?«, fragte ich, während ich mit meinem Dolch erst in Richtung Kleid und dann wieder auf sie zeigte. »Antworte mir, sofort!«

»Okay, mach dich locker! Es wurde zum Flugzeug gebracht, als du an Bord gingst. Josephine hat es online bestellt. Sie sagte, ich weiß auch nicht … Sie sagte, es wäre perfekt. Aber was ich noch sagen wollte: Falls es dir nicht gefällt, brauchst du mich deshalb nicht anzugreifen! Ich bin nicht mal bewaffnet!«

Ich sah Morgan an, die mir, mit einer Tube Lipgloss in der Hand, in Verteidigungsstellung gegenüberstand. Wenn sie das mit Absicht gemacht hätte, wäre sie auf keinen Fall unbewaffnet hereingekommen. Sie sah aus, als hätte das Ganze sie kalt erwischt, und sie tat mir auf der Stelle leid.

Ich warf meinen Dolch auf das Bett. »Wolltest du dich wirklich mit Lipgloss wehren?«, fragte ich und ließ zu, dass sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete.

Morgan blickte an sich hinunter und wurde sich zum ersten Mal ihrer Pose bewusst. Noch immer unsicher sah sie wieder mich an, aber als sie bemerkte, wohin ich meinen Dolch geworfen hatte – er lag jetzt näher bei ihr als bei mir –, entspannte sie sich und erwiderte mein Lächeln.

»Erinnere mich später bitte daran, dass ich nie mit dir shoppen gehe«, sagte sie und ging auf das himmlischste Kleid zu, das ich je gesehen hatte. »Was stimmt denn nun nicht damit?«

Ich trat neben sie und fuhr mit den Fingern über die schwarze Seide. »Ich … ich habe es schon einmal gesehen.« Ich wollte ihr nicht erzählen, dass ich es mit Phoenix gesehen hatte – dass er angeboten hatte, es für mich zu kaufen. »Ich … Es hat mich einfach nur überrascht. Ich dachte, jemand will mir einen Streich spielen.«

Morgan stellte sich hinter mich und begann, mit einer Bürste an meinen Haaren zu rupfen. »So viel kann ich dir versprechen – der heutige Abend hat nichts Lustiges an sich.«

Ich wirbelte zu ihr herum. »Was verschweigt ihr mir? Warum muss ich mich so herausputzen?«

Morgan dirigierte mich zu dem zum Schminken vorgesehenen Stuhl und fing an, mir Make-up auf die Wangen zu klatschen. »Josephine weiß, was sie tut. Ich weiß, sie wirkt … unfreundlich, aber du bist besser dran, wenn du einfach tust, was sie sagt.«

Sie nahm sich meine Augen vor und ich musste sie schließen. Als ich nach einer Weile eingesehen hatte, dass sie nichts weiter sagen würde, beschloss ich, mehr über die Ninjas in Erfahrung zu bringen. »Sind alle Leute an der Akademie wie ihr?« Ich hatte Spence, Zoe und Salvatore kennengelernt, aber Josephines uniformierte Grigori waren anders.

»In welcher Hinsicht?«

»So ninja- und bodyguardmäßig.«

Sie zog die Augenbrauen nach oben. »Ich werde das mal als Kompliment betrachten. Rund um die Welt sitzen Grigori auf wichtigen Posten – das muss so sein, damit wir Zugang zu den Verbannten haben, die es genauso weit bringen.«

»So etwas möchtest du also machen, wenn du die Akademie verlässt?«

»Im Abschlussjahr wählt jeder einen anderen Schwerpunkt. Max, mein Partner, hat sich fürs Wächtertum entschieden.« Sie zuckte mit den Schultern, schnappte sich den Mascarastift und kleckste damit auf ein Papiertuch. »Für mich ist das ja eigentlich nichts, aber Max wollte es unbedingt machen. Wächter arbeiten immer eng mit Josephine zusammen, und er dachte, das würde dazu beitragen, dass wir gute Stellen bekommen.«

»Du magst Josephine also?«, fragte ich vorsichtig.

Sie lächelte, und ich merkte, dass sie mit ihrem langen blonden Haar und den perfekten weißen Zähnen tatsächlich einer Barbie-Puppe ähnelte. »Niemand mag Josephine. Aber das ist auch nicht ihr Job.« Sie drehte meinen Stuhl zum Spiegel um. Ich hätte mich fast nicht wiedererkannt. Es schien Ewigkeiten her zu sein, seit ich mich wie ein richtiges Mädchen gefühlt hatte … und, na ja, das hier war sogar noch mehr. Die Art und Weise, wie sie mir die Augen geschminkt hatte – die Augenwinkel dunkel und rauchig und oben einen leichten Silberschimmer – war einfach erstaunlich. Ich sah aus wie eine Frau. Plötzlich konnte ich es kaum mehr erwarten zu sehen, wie ich in dem Kleid aussehen würde.

Ich war nicht mehr ohne meine Armreifen in der Öffentlichkeit gewesen, seit ich die Male erhalten hatte. Ich fühlte mich ganz nackt und zappelte so sehr herum, dass Morgan mir auf die Finger schlug. Was wehtat.

»Halt still«, sagte sie. »Es ist schon schwierig genug, das in einem Aufzug zu machen, dann brauchst du nicht auch noch rumzuzappeln, als hättest du eine Art Anfall.«

Ich bemühte mich, nicht mehr auf den Fußballen herumzuwippen, während sie das letzte Schmuckstück an mir befestigte, die Halskette mit den vier Reihen tränenförmiger Diamanten, von denen jeder exakt drei Karat hatte, wie Morgan mir etwa hundertmal versichert hatte. Ich legte die Handfläche auf mein Schlüsselbein, wo jetzt Diamanten ruhten, die insgesamt zweiundsiebzig Karat hatten.

Ich bin eine Schmuckschatulle auf zwei Beinen.

Ich blickte im Aufzugsspiegel hinunter auf den Rest meines schimmernden Ensembles. Drei Ringe an jeder Hand, die auf wundersame Weise exakt passten, außer der mit dem Rubin, der ein wenig locker saß. Verschlungene, diamantenbesetzte Ohrringe, eine glitzernde Armkette am einen Handgelenk und am anderen ein Platinarmband in Form einer Schlange, die sich bis zum Oberarm hinaufwand und mit kleineren Diamanten besetzt war. Dann das Fußkettchen, das eleganteste der Schmuckstücke – und mein Lieblingsstück. Es war mit kleinen, tränenförmigen Diamanten besetzt, die zur Halskette passten.

Schließlich zog ich das schwarze Kleid an seinem Schlitz auseinander, um das Netz aus zarten Ketten zu enthüllen, das ein Arrangement aus lebhaft grünen Smaragden enthielt, die die Form einer Spinne ergaben – die ihre acht Beine um meinen Oberschenkel legte. Obwohl das bizarr war, war es auch …

Doch der Schmuck verblasste im Vergleich zu dem Kleid.

Ich erinnerte mich daran, wie ich es in dem Schaufenster gesehen und gedacht hatte, dass es das wunderbarste Kleid war, das ich je gesehen hatte, aber jetzt – es sah noch umwerfender aus, als ich mir je vorgestellt hätte. Es passte perfekt, als wäre es speziell für mich gemacht worden.

Das eng anliegende schwarze Oberteil ohne Träger hatte feine Verzierungen aus schwarzen Kristallen, während der übrige Stoff elegant nach unten fiel. Der hohe Schlitz an der Seite ließ beim Gehen viel Haut aufblitzen.

Die Aufzugtür ging auf, während ich noch immer diese unbekannte Version von mir im Spiegel anstarrte.

»Was willst du damit machen?«, fragte Morgan und zeigte auf meine Hand, die meinen Dolch in seiner Scheide hielt.

»Ich weiß nicht, wo ich ihn festschnallen soll.«

»Du wirst den Dolch nicht zu diesem Outfit tragen«, sagte sie und streckte die Hand aus, um zu verhindern, dass die Aufzugtür wieder zuging.

»Nun, ohne ihn gehe ich nirgendwohin.« Diesen Fehler hatte ich schon einmal gemacht, was dazu geführt hatte, dass ich Onyx’ volle Stärke zu spüren bekam, als er noch in Topform war. »Wo ich hingehe, geht meine Waffe auch hin.« Ich wirbelte zur offenen Tür herum und blieb wie angewurzelt stehen, als mich die Wucht seiner Kraft zum ersten Mal traf.

Honig. Überall.

Lincoln stand auf der gegenüberliegenden Seite des winzigen Foyers und starrte mich an. Seine Hand umklammerte den Tisch, neben dem er stand, und sein Gesicht drückte einen Hunger aus, den ich noch nie an … an nichts – weder Mensch noch Tier – gesehen hatte.

Oh.

Das liegt am Kleid.

Atme.

Es ist nur das Kleid, vielleicht auch der Schmuck.

Ich legte die kurze Entfernung zwischen uns zurück, wobei ich hoffte, dass ich unterwegs nicht stolpern würde. Er sah einfach toll aus. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug, der genau wie mein Kleid aussah, als sei er ihm direkt auf den Leib geschneidert worden, dazu ein schwarzes Hemd, das am Kragen offen war.

»Du siehst umwerfend aus«, sagte ich, weil er noch gar nichts gesagt hatte.

Bevor er sich beherrschen konnte, wanderte sein Blick an mir herunter, und als er sich wieder im Griff hatte, schienen seine Augen, noch bevor ihm das bewusst wurde, ganz von selbst wieder den Weg nach unten zu suchen. Das machte mich ganz verlegen. Plötzlich konnte ich nicht mehr sagen, ob es ihm gefiel oder nicht.

»Nun, offenbar warst du in fähigen Händen.« Morgan verdrehte die Augen wie ein Profi. »Ich werde den Wagen vorfahren lassen. Max wird euch dorthin begleiten, aber er muss im Wagen bleiben. Okay?«, sagte sie, dabei hielt sie meinen Blick, wie um sich zu vergewissern, dass ich sie gehört und auch verstanden hatte. Sie streckte die Hand aus. »Gib mir den Dolch.«

Ich rührte mich nicht. »Nein.«

Sie stieß einen frustrierten Seufzer aus.

»Ich nehme ihn«, sagte Lincoln und öffnete seine Jacke ein wenig, um seinen eigenen Dolch zu zeigen. Vertrauensvoll reichte ich ihm meinen, wobei ich dafür sorgte, dass er mich in keiner Weise berührte.

»Da kommt das Auto«, sagte Morgan vom Eingang her, als sie eine Hupe hörte. Sie zog die Hoteltür auf. »Josephine hat mir aufgetragen, dich daran zu erinnern, dass du ihm den Schmuck vorführen sollst, damit er ihn in Besitz nehmen kann – das sind die Bedingungen.«

Ich nickte, meine kurzlebige Aufregung schwand rasch. Ich drehte mich um, um Lincoln zu fragen, was seiner Meinung nach damit gemeint war, aber er war bereits nach draußen verschwunden.

Genau das, was ein Mädchen für sein Selbstbewusstsein braucht.